25.

 

Am folgenden Morgen suchte Fabel als Erstes die Buchhandlung Jensen in den Alsterarkaden auf. Otto Jensen war sein engster Freund, der ihm noch näherstand als Werner. Es war eine durch keinerlei berufliche Interessen verfälschte Freundschaft. Die beiden hatten gemeinsam studiert und ihre Verbindung später aufrechterhalten, obwohl Otto Fabels Berufswahl zunächst als »Verschwendung eines vortrefflichen Geistes« missbilligt hatte. Fabel wusste seit seiner Jugend, dass er scharfsinnig war, aber Otto Jensens Verstand funktionierte auf einem ganz anderen Niveau. Fabel wandte sich häufig an Otto, wenn er auf etwas Verwirrendes oder Unverständliches stieß. Es gab kein Thema, das Ottos Intellekt nicht durchdrang. Andererseits ging ihm im normalen Alltagsleben jeder gesunde Menschenverstand ab. Der Erfolg seines Buchladens war ausschließlich seiner Frau Else zu verdanken.

Fabel wartete, während Otto einen Kunden bediente. Aus der Entfernung sah er plötzlich einen Mann mittleren Alters vor sich, der die Haare verlor und müde Augen hatte. Das betrübte Fabel, der sich das Bild seines Freundes als eines schlaksigen, unbeholfenen Jungen mit langem, glattem, blondem Haar eingeprägt hatte. Er begriff, dass es sich bei seiner Wahrnehmung um den gleichen geistigen Mechanismus handelte, der ihn die Tatsache von Dirk Stellamanns’ Tod vorübergehend hatte vergessen lassen: Man hat die Vorstellung von einem Menschen im Kopf, der nie zu altern scheint, weil man innerlich auf die Zeit der ersten Bekanntschaft fixiert ist.

»Was gibt’s«, fragte Otto, als Fabel an den Tresen trat. »Willst du hier eine Razzia durchführen?«

»Keine Angst«, grinste Fabel. »Es gibt kein Gesetz gegen Klugscheißerei. Noch nicht. Sobald es verabschiedet wird, setze ich dich ganz oben auf die Fahndungsliste. Aber hast du Zeit für einen Kaffee? Ich möchte dich gern ausfragen.«

Otto rief einen seiner Angestellten herbei und führte Fabel in einen mit Sofas vollgestellten Sitzbereich. In der Ecke stand eine Kaffeemaschine, und die beiden alten Freunde setzten sich, von Büchern umgeben, hin, und begannen den üblichen Smalltalk. Dann schilderte Fabel alles, was er über das Pharos-Projekt und dessen Ideen über Konsolidierung, simulierte Realitäten und die Entfernung der Menschheit aus der Biosphäre wusste.

»Ich kapiere das einfach nicht«, sagte er schließlich. »Das Pharos-Projekt soll eine Umweltschutzgruppe sein, aber es ist besessen von der Idee der simulierten Realität. Hinzu kommt die seltsame Theorie, dass die simulierte Realität der Menschheit gestattet, sich aus der Umwelt zu entfernen und diese dadurch zu retten … Auch das kapiere ich nicht. Warum sollte man etwas retten, dem man entkommen will? Außerdem ist mir die Verbindung zwischen den beiden Begriffen nicht klar.«

»Du irrst dich, Jan. Die beiden Ideen sind immer miteinander verknüpft gewesen. Schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts meinten einige führende Geologen – Eduard Suess, Nikolai Fjodorow, Wladimir Wernadski und andere –, dass man beide Gedanken nicht voneinander trennen könne. Ein oder zwei postulierten sogar, dass die Biosphäre nichts als eine Simulation sei.«

»Ja, ja …« Fabel machte ein skeptisches Gesicht. »Diese verrückten Russen …«

»Nein, Jan, du solltest das nicht einfach abtun. Manche der damaligen Vorstellungen gehören heute zum etablierten Denken. Wernadski zum Beispiel glaubte, der menschliche Intellekt sei die wichtigste Kraft für die Gestaltung der irdischen Geologie. Und heute meinen etliche Geologen, wir sollten dieses Zeitalter nicht Holozän, sondern Anthropozän nennen, weil wir den Planeten so sehr verändert haben.«

»Und was ist mit der Vorstellung von der simulierten Realität, auf der das Pharos-Projekt dauernd herumreitet?«

»Weißt du, noch ein wenig früher vertrat Fjodorow, der Wernadski beeinflusste, tatsächlich den Standpunkt, dass die Menschheit in ferner Zukunft eine ›prosthetische‹ Gesellschaft entwickeln würde. Kein Altern oder Tod mehr. Außerdem glaubte er, wir würden eine Art Super-Singularität erzielen – und vergiss nicht, dass er schon in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts mit diesen Gedanken spielte –, in der wir absolut jeden Quanten-Gehirnzustand wiederherstellen könnten, was bedeutet, dass alle, die je gelebt haben, wiederkehren. Die Quanten-Auferstehung. Ganz plötzlich wird atheistische Wissenschaft zu religiöser Prophezeiung.«

»Aber das ist ja Wahnsinn«, protestierte Fabel. »Wie sollte man eine ganze Welt simulieren können?«

»Du bist ein alter Technikfeind, Jan. Du wärest von den Socken, wenn du wüsstest, was Spieledesigner heutzutage fertig bringen. Hyperreale simulierte Welten. Und außerdem, ist es nicht die einfachste Sache der Welt, eine simulierte Realität zu schaffen? Wir alle können das … Jedes Mal, wenn wir träumen. Im Traum glauben wir, die Realität zu erleben. Wie oft bist du aufgewacht und konntest kaum unterscheiden, was in Wirklichkeit und was im Traum geschehen ist?«

Fabel dachte daran, wie lebensecht seine Träume im Laufe der Jahre geworden waren: Wenn die Toten vorwurfsvoll mit den Fingern auf ihn zeigten, weil er ihre Mörder nicht gefunden hatte; oder wenn er abends im Arbeitszimmer seines Vaters saß und mit Paul Lindemann redete, dem jungen Polizisten, der während eines von Fabel organisierten und geleiteten Einsatzes erschossen worden war.

»Wusstest du, dass es nicht wenige angesehene Wissenschaftler gibt, die all das hier …«, Otto breitete die Arme aus und schwenkte sie, als wolle er die Umgebung umfassen, »… nicht für real halten. Für sie ist alles, was wir erleben, eine sehr raffinierte Simulation.«

»Ich würde lieber sterben, als eine Lüge zu leben«, sagte Fabel.

»Warum? Was macht es denn aus? Dies ist alles, was du je erlebt hast. Es ist deine Realität. Es ist doch wirklich gleichgültig, ob es sich um eine Realität innerhalb oder außerhalb einer Simulation handelt. Vielleicht ist Gott genau das: ein Systemanalytiker. Wäre das kein deprimierender Gedanke?«

»Aber dies ist real, Otto.«

»Realität ist das, was man im Kopf hat, Jan. Du solltest Simulacra und Simulation von Jean Baudrillard lesen. Oder besorg dir ein Exemplar von Fassbinders Welt am Draht. Oder meinetwegen jungianische psychologische Literatur. Frag Susanne … Obwohl ich sie eher für eine Freudianerin halte …« Er setzte eine übertrieben anzügliche Miene auf. »Wir werden durch unsere Umgebung programmiert, durch Zeichen und Symbole. Jemand sagt das Wort ›Cowboy‹, und wir denken an John Wayne, obwohl die wirklichen Cowboys klein waren, fast wie Jockeys, weil ihre Pferde sie zwölf Stunden täglich tragen mussten. Die Wahrheit liegt also keineswegs auf der Hand.«

»Otto, ich kann dir ja die Telefonnummer des Pharos-Projekts geben, wenn du gern …«

»Sehr witzig. Ich bin mit meiner Realität durchaus zufrieden.« Er wurde plötzlich ernst. »Aber ich weiß einiges über das Pharos-Projekt, Jan, und nichts davon ist positiv. Diese Leute schüchtern die Angehörigen von ehemaligen Mitgliedern ein und terrorisieren alle, die sie kritisieren. Du musst denen gegenüber vorsichtig sein.«

Fabel trank seinen Kaffee aus. »Ich verschwinde. Du bereitest mir Kopfschmerzen.«

»Vielleicht ist das mein Lebenssinn. Bis dann, Bulle.«

Fabel fuhr durch die City und parkte gegenüber dem Café im Schanzenviertel. Vor seinem Treffen mit Otto hatte er das Material über den Fall Föttinger durchgesehen und fühlte sich nun bereit, mit Zeugen zu sprechen. Dies war selbstverständlich für ihn, denn er verließ sich nie auf die ihm vorgelegten Zeugenberichte. Nicht etwa, weil er den Beamten, die die Zeugen verhört hatten, nicht zugetraut hätte, die richtigen Fragen zu stellen, sondern weil die menschliche Dimension in den Berichten verschwand. Manchmal kam es nicht darauf an, was ein Zeuge sagte, sondern wie er es tat; mit all den kleinen Einzelheiten, die einen Zweifel, eine Unsicherheit, ein Vorurteil zum Ausdruck bringen konnten.

Fabel hatte ein seltsam optimistisches Gefühl. Vielleicht lag es am Wetter. Zum ersten Mal seit Wochen schien die Abendluft einen Frühjahrshauch zu enthalten. Fabel dachte oft darüber nach, wie sich das Wetter auf seine Stimmungen auswirkte, und dies erinnerte ihn an Müller-Voigts Worte über die geschwächte Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt.

Während er die Straße überquerte, bemerkte er, dass man zwei der vier Spiegelglasfenster des Cafés mit großen Sperrholzplatten zugenagelt hatte; die Rahmen um das Sperrholz waren geschwärzt. Anscheinend hatte die intensive Hitze die Fenster bersten lassen.

Nur drei der mehr als zwanzig Tische waren besetzt. »Sehr ruhig heute Abend …«, sagte er zu dem Kellner und hielt seinen Polizeiausweis hoch. Der Mann, der über einen Tisch gebeugt war, gab sich unbeeindruckt und zuckte die Achseln.

Das Schanzenviertel war ein Stadtteil Hamburgs, in dem die Menschen im Allgemeinen wenig für die Polizei übrig hatten. Nicht, weil es von Kriminellen bevölkert war, sondern weil in einem Viertel, in dem man sich seiner alternativen Einstellung rühmte, eine reflexartige Missachtung gegenüber Gesetzeshütern herrschte. Das störte Fabel nicht. Im Gegenteil, er wusste es zu schätzen, denn schließlich waren es die kleinen Eigenheiten und die gesunde Geringschätzung von Autorität, die den Charakter Hamburgs bestimmten.

»Erstaunlich«, erwiderte der Kellner und konzentrierte sich erneut darauf, den gerade leer gewordenen Tisch zu säubern. »Dabei hatten wir gedacht, dass flambierte Kunden auf der Speisekarte die Massen anziehen würden.« Er richtete sich müde auf und wirkte älter, als Fabel zunächst angenommen hatte. Groß und mager, mit einem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht, war er auf eine Weise gekleidet, die ihm ein Jahrzehnt früher besser gestanden hätte. »Deshalb sind Sie doch hier?«

»Kannten Sie das Opfer?« Fabel schaute in sein Notizbuch. »Daniel Föttinger?«

»Wie ich den anderen Polizisten bereits gesagt habe: Er war Stammgast. Kam jeden Mittwoch um dieselbe Zeit und traf sich mit derselben Frau. Sie aßen Mittag und fuhren dann zusammen weg.«

»Wie meinen Sie das – fuhren zusammen weg?«

Der Kellner seufzte. »Sie trafen mit zwei Autos ein, aber nach dem Essen nahmen sie den Wagen der Frau. Das große Mercedes-Cabrio stand immer ein, zwei Stunden draußen und verschwand dann im Lauf des Nachmittags. Ich dachte oft, dass er ein gewisses Risiko einging – bei all den Autobrandstiftungen in der Gegend. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es am helllichten Tage direkt vor unserer Tür passieren würde. Oder dass der arme Hund selbst dran glauben musste.«

»Was wissen Sie über ihn?«

»Das Gleiche, was ich über all meine Kunden weiß: was sie bestellen, was sie trinken, was für ein Trinkgeld sie geben. Er war kein großer Plauderer.«

»Aber er kam oft hierher?«

»Was soll ich sagen? Manche Gäste lernt man leicht kennen. Ihn nicht.«

»Trotzdem müssen Sie einen Eindruck von ihm gehabt haben … davon, was für ein Mensch er war.«

Der dürre Kellner lachte leise. »Wie soll ich mich ausdrücken? Er hat hier keine sonderlich ausgeprägte Persönlichkeit gezeigt, höchstens die eines arroganten Arschlochs. Immer wenn er reinkam, setzte er sich hin wie beim ersten Mal. Sie wissen, was ich meine: Ich war immer derjenige, der ihn bediente, aber er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen. Manche Gäste sind so. Sie behandeln dich, als ob du gar nicht existierst und nur zu ihrer Bequemlichkeit da bist.«

»Und die Frau?«

»Sie war entgegenkommender. Zumindest sprach sie mit mir und nahm mich als Menschen zur Kenntnis. Sie sieht wirklich klasse aus, und ich konnte nicht so recht verstehen, warum sie mit ihm zusammen war. Er schien mir ziemlich eindimensional zu sein.«

»Die beiden waren also Ihrer Meinung nach ein Paar?«

»Richtig. Aber nicht verheiratet. Und keine Geschäftspartner oder Kollegen. Es war klar, dass sie etwas am Laufen hatten. Wenn man so lange kellnert wie ich, durchschaut man den Zweck des Besuchs und des Mittagessens, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber irgendwie passten sie nicht zueinander.«

Fabel hob die Augenbrauen.

»Ach, ich weiß nicht …« Der Kellner rieb wieder an der Tischplatte herum und verbarg seinen Ärger über die Störung nicht. »Einerseits passten sie schon zusammen … er reich, sie hübsch …, aber er wirkte einfach so … so langweilig. Wenn mir eine Frau, die so aussieht, gegenübersäße, würde ich weniger Zeit auf mein elektronisches Spielzeug verschwenden. Er simste oder telefonierte dauernd mit seinem Handy. Einmal arbeitete er die Hälfte der Zeit an seinem Laptop. Vielleicht wurde er weniger von unserer vorzüglichen Küche als von unserem kostenlosen WiFi angezogen. Aber seine Freundin schien die Nase voll zu haben. Ich glaube, sie war kurz davor, ihm den Laufpass zu geben.«

»Und all das wird Ihnen beim Kellnern klar?« Fabel hatte nicht herablassend klingen wollen, doch das Gesicht des dürren Mannes umwölkte sich.

»Wenn Polizisten gezwungen wären, mal sechs Monate lang als Kellner zu arbeiten, könnten sie die Menschen besser einschätzen. Alle entfernen sich immer weiter voneinander, von der Realität. Es liegt an der Scheißtechnik. Ich jedenfalls arbeite in diesem Betrieb, weil ich hier Menschen beobachten kann. Live in der realen Welt.« Er warf Fabel einen geringschätzigen Blick zu. »Nehmen wir Sie zum Beispiel … Sie sind Polizist, aber aus der Art, wie Sie sich kleiden und mit den Leuten reden, schließe ich, dass Sie sich von der Menge unterscheiden wollen. Ihr Jackett – englischer Schnitt, Tweed – entspricht nicht den anonymen, uniformen Zweihundert-Euro-Anzügen, die die Hamburger Kripo normalerweise trägt. Ich würde sagen, dass Sie sich als Polizist in Ihrer Haut nicht wohlfühlen und glauben, etwas mehr im Oberstübchen zu haben.« Er pochte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sie versuchen, sich einzufügen, indem Sie sich nicht einfügen. Aber was weiß ich denn? Ich bin ja nur Kellner.«

»Okay«, erwiderte Fabel. »Sie sind also der große Beobachter, der alles sehende Zuschauer. Ich verstehe. Sie haben den Beamten gegenüber behauptet, dass Sie vor dem Anschlag einen der Brandstifter bemerkt hätten. Ermöglicht Ihnen Ihre Beobachtungsgabe vielleicht auch, mir eine genaue Beschreibung des Brandstifters zu geben?«

»Und ob ich ihn gesehen habe. Er hat auf der anderen Straßenseite herumgelungert, unter dem Baum da …« Der Kellner verzog die Lippen, als er merkte, dass die Sicht auf den Baum durch das Sperrholz verdeckt war. »Wie auch immer, er war da drüben. Zuerst hielt ich ihn für einen Junkie. Er sprang nämlich dauernd von einem Fuß auf den anderen, zappelte herum und guckte immer wieder in die große schwarze Reisetasche, die er bei sich hatte.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Das bezweifle ich. Er trug eine Art Wollmütze, die er wie eine Maske herunterzog, als er herkam und das Auto ansteckte. Aber ich glaube, mir ist etwas aufgefallen. Ich habe es den anderen Polizisten gegenüber nicht erwähnt, weil es mir erst später bewusst geworden ist …«

»Ja?«

»Ein Hinken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Knabe gehinkt hat. Oder zumindest hat er sich beim Gehen irgendwie steif bewegt.«

»Vielen Dank«, sagte Fabel.

Der dünne Kellner hob die Schultern und machte sich wieder daran, die Tische zu säubern.

 

Seinen nächsten Besuch stattete Fabel Harvestehude ab. Ein imposantes wilhelminisches Gebäude mit einer weißen Stuckfassade versuchte, sich hinter einem Schirm aus säuberlich beschnittenen Büschen und Bäumen zu verstecken. Fabel fand den Namen, den er gesucht hatte, und drückte auf den Klingelknopf.

»Fabel, Polizei Hamburg …«, sagte er in die Sprechanlage, nachdem sich eine knisternde Stimme gemeldet hatte. »Ich möchte mit Ihnen reden, Frau Kempfert.«

»Lassen Sie mich Ihren Ausweis sehen. Über dem Mikrofon ist eine Kamera.«

Fabel hielt seinen Ausweis an das gewölbte elektronische Auge, wonach ein schrilles Summen und ein Klicken ertönten. Er stieß die schwere Tür auf und stieg durch ein kunstvoll gekacheltes Treppenhaus in den dritten Stock. Eine attraktive, dunkelhaarige junge Frau musterte ihn misstrauisch an der Schwelle ihrer Wohnung.

»Ich habe den anderen Beamten schon alles gesagt, was ich weiß.«

»Das sagt jeder, Frau Kempfert. Aber ich höre am liebsten alles selbst. Und vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein. Es macht Ihnen doch nichts aus?« Er deutete mit dem Kopf auf die Wohnung hinter ihr.

»Nein …« Ohne zu lächeln, trat sie beiseite. »Kommen Sie rein.«

Die junge Frau führte ihn durch den langen Flur in ein Eckwohnzimmer. Es war riesig und hell, und die Fenstertüren öffneten sich auf einen kleinen Balustraden-Balkon. Fabel vermutete, dass die Wohnung aus diesem Raum, einem oder vielleicht zwei Schlafzimmern, einer Essküche und einem Badezimmer bestand. Die Architektur war typisch für Harvestehude und erinnerte mit ihren hohen Decken, ihren riesigen Fenstern und ihrer Stuckatur an ein förmlicheres und eleganteres Zeitalter. Obwohl nicht übermäßig groß, war die Wohnung gewiss sehr teuer. Die Möbel und Kunstgegenstände mit ihren hellen, bunten Farben kontrastierten zu den weißen Wänden. Alles deutete auf einen erlesenen Geschmack hin.

Victoria Kempfert ließ sich in einen mächtigen roten Sessel fallen und machte eine halbherzige Geste in Richtung des Sofas. Schon kapiert, dachte Fabel, ich stehle dir die Zeit. Er hatte gelernt, Personen für verdächtig zu halten, die sich übertrieben enerviert gaben, wenn sie mit der Polizei sprechen mussten. Im Allgemeinen waren Menschen, wenn jemand das Leben verloren hatte, nur zu gern bereit, ein wenig von ihrer Zeit zu investieren, um zur Aufklärung eines oft sinnlosen Todes beizutragen. So wurde für die meisten das natürliche Gleichgewicht des Universums wiederhergestellt.

»Sind Sie nach dem Mittagessen gewöhnlich hierher zurückgekommen?«, fragte Fabel. »Sie und Herr Föttinger, meine ich.«

»Ja. Wir kamen hierher, um zu ficken.« Sie hielt Fabels Blick mit gewölbten Augenbrauen trotzig stand.

»Aha.« Fabel machte sich mit nüchterner Miene ein paar Notizen. »Und wo haben Sie und Herr Föttinger gefickt? Im Schlafzimmer oder hier, wo ich sitze?«

Victoria Kempfert schaute noch finsterer drein. Offensichtlich war sie einem Gefühlsausbruch nahe, doch vorläufig fand sie keine Worte.

»Hören Sie, Frau Kempfert«, sagte Fabel. »Ich weiß, dass Sie etwas Schreckliches durchgemacht haben, und Sie haben deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass Sie Polizisten nicht leiden können. Aber ich bin schon sehr, sehr lange bei der Kripo. Kaum etwas auf dieser Welt kann mich noch schockieren, deshalb werden Sie mich durch Launenhaftigkeit und pubertäre Sprache bestimmt nicht aus der Fassung bringen. Aber wenn Sie wollen, können wir unser Gespräch gern auf diesem Niveau fortführen. Wie oft haben Sie und Herr Föttinger hier gefickt?«

Sie senkte die Augen. Mit ihren ausgeprägten Gesichtszügen und ihrer dunklen Mähne war sie eine schöne Frau. Ähnlich wie Susanne. Und, wie Fabel gegen seinen Willen bemerkte, durchaus sein Typ.

»Daniel und ich sind jede Woche – jeden Mittwoch – nach dem Mittagessen hierhergekommen. Je nach unseren Terminen trafen wir uns noch ein weiteres Mal in der Woche. Er war oft verreist.« Sie hielt inne. »Es tut mir leid, wenn ich … Aber nachdem ich gesehen, miterlebt habe, was ihm zugestoßen ist …« Sie biss sich auf die Unterlippe, und etwas in ihren Augen verhärtete sich erneut. Offenbar war sie entschlossen, nicht zu weinen.

»Das verstehe ich«, sagte Fabel mit sanfterer Stimme. »Haben die anderen Beamten Ihnen Kontakte bei der Opferbetreuung genannt?«

»Ich brauche keine Beratung, Herr Fabel. Ich komme darüber hinweg. Irgendwann.«

»Haben Sie die Attentäter gesehen?«

»Nein … Ja … Ich meine, ich wusste ja noch nicht, dass sie Attentäter waren. Die Drecksäcke standen einfach da und sahen zu, wie Daniel verbrannte. Zuerst dachte ich, sie seien einfach nur Passanten wie die übrigen, aber dann bemerkte ich ihre Skimasken oder was auch immer vor ihren Gesichtern. Am Anfang wusste ich nicht einmal, dass es Brandstiftung war. Und was sich abspielte.«

»Ist Ihnen etwas Besonderes an den Männern aufgefallen?«

»Außer den Skimasken? Ich war zu sehr auf Daniel konzentriert. Und dann … Warum tut jemand so etwas?«

»Ich muss herausfinden, ob sie vorsätzlich gehandelt haben. Im Schanzenviertel werden etliche teure Autos angesteckt. Vielleicht war das ihre einzige Absicht.«

»Ich bin mir nicht sicher …« Sie sprach langsam, und ihr Blick war verschwommen, als versuche sie, die Szene im Kopf nachzuspielen. »Es war die Art, wie sie warteten. Zusahen. Vor allem der eine.«

»Das könnte bedeuten, dass sie erschüttert über die Folgen ihrer Tat waren.«

Victoria Kempfert schüttelte heftig den Kopf. »Das ist es ja … Sie haben gefragt, ob mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Also, ich könnte schwören, dass der eine Mann mit der Skimaske, bevor er auf den Rücksitz des Motorrads sprang und bevor sie sich davonmachten … Ich könnte schwören, dass er lachte. Niemand lacht, wenn er erschüttert über die Folgen seiner Tat ist.«

»Nein … normalerweise nicht. Allerdings könnte es auch das Ergebnis eines Schocks sein. Oder hysterisches Gelächter als psychologisch bedingter Reflex.«

»Daran war nichts Hysterisches. Der Mistkerl lachte über das, was er getan hatte.«

Fabel musterte sie einen Moment lang.

»Wie lange waren Sie mit Herrn Föttinger zusammen?«

»Zwei Monate. Oder vielleicht drei. Allerdings ging die Sache zu Ende.«

»Sie wussten, dass er verheiratet war?«

»Er machte kein Hehl daraus. Und ich machte kein Hehl daraus, dass es mir egal war. Wir lernten uns beruflich kennen. Ich bin Webdesignerin und hatte für seine Firma gearbeitet. Aber das war Monate vor unserer Beziehung. Er hatte inzwischen jemand anders beschäftigt. Dann, vor ungefähr zehn oder zwölf Wochen, habe ich ihn bei einer geschäftlichen Veranstaltung getroffen. Sie wissen schon, das übliche Gummiadleressen mit Flowcharts und Powerpoints zum Nachtisch.«

»Leider weiß ich das nicht«, entgegnete Fabel. »Das ist nicht meine übliche Umgebung. Und so begann Ihre Affäre?«

»Etwa eine Woche später rief er mich an und lud mich zum Mittagessen ein. Dann kamen wir jede Woche zusammen, aber es wurde … ermüdend

»Wieso ermüdend?«

»Auf den ersten Blick war Daniel charmant und interessant. Aber irgendetwas fehlte ihm. Es war, als wäre nichts unter der Oberfläche. Ich weiß, es klingt seltsam, aber sogar wenn wir intim waren, schien er allein zu sein. Manchmal wurde es geradezu unangenehm. Als würde ich für ihn gar nicht existieren. Und deshalb gab es keine Zukunft für uns.«

Fabel dachte über ihre Worte nach. Ihre Aussage entsprach ziemlich genau der Beschreibung des Kellners. »Was wissen Sie über Herrn Föttingers Firma?«

»Nur das, was ich durch die Arbeit an seiner Website erfahren habe. Umwelttechnologie. Daniel hat sich mit allen Formen von Kohlenstoffbindungen beschäftigt. Er war auch an der Vorbereitung des GlobalConcern-Gipfels beteiligt, wie Sie vermutlich wissen.«

»Ich habe davon gehört.« Fabel machte eine kurze Pause. »Was ist mit Frau Föttinger? Kann es sein, dass sie etwas von Ihrer Beziehung ahnte?«

»Bitte? Die Wut einer betrogenen Frau? Nein, ich glaube nicht, dass Kirstin Föttinger jemanden dafür bezahlt hat, Daniels Auto abzufackeln. Glauben Sie mir, so engagiert ist sie nicht.«

»Was meinen Sie damit?«

»In mancher Hinsicht ist sie Daniel sehr ähnlich, doch viel extremer. Daniels Frau ist der eigentliche Umweltfreak. Sie ist strikte Veganerin und meint, dass wir null Einfluss auf den Planeten haben sollten. Außerdem gehört sie einer Gruppe mit sonderbaren Ideen an. Mit echt sonderbaren Ideen. Daniel war auch mit der Gruppe verbunden, aber nicht so eng wie sie. Wahrscheinlich hat sie ihn mit hineingezogen. Das Traurige ist, dass Daniel sie vor gar nicht so langer Zeit aufrichtig liebte. Und dann kapselte sie sich einfach ab … zog sich zurück. Ich glaube, er hätte sich nie mit mir eingelassen, wenn sie nicht so seltsam geworden wäre. Komischerweise hatte ich das Gefühl, dass Daniel sich genauso entwickelte. Er zog sich zurück. Wurde merkwürdig.«

»Von was für einer Gruppe sprechen Sie?«, fragte Fabel, obwohl er sich ziemlich sicher war, die Antwort bereits zu kennen.

»Es ist eher eine Sekte«, sagte Victoria Kempfert. »Sie nennt sich Pharos oder so.«

Fabel nickte langsam und schaute in sein Notizbuch. Ein bewusster Schachzug, um die Bedeutung dessen, was sie ihm gerade mitgeteilt hatte, zu verbergen.

»Und er hat auch in dieser Gruppe mitgearbeitet, aber nicht in gleichem Maße?«

»Richtig. Aber wenn ich mich nicht irre, halten die Leute nichts von begrenzter Mitarbeit. Man muss sich ganz und gar für Pharos einsetzen. Die Sache war mir ein bisschen unheimlich. Mehr als ein bisschen. Daniel war ein intelligenter Mann. Er hatte wunderbare Ideen, doch ihm fehlte das Geld, sie zu verwirklichen. Aber seine Frau war betucht. Sie hat ihn anfangs finanziert, bevor er seine Firma zum Marktführer ausbaute. Dafür musste er Mitglied bei Pharos werden. Er machte oft Witze darüber.« Sie runzelte die Stirn. »Dann hörte er damit auf. Genauer gesagt, er machte über nichts mehr Witze.«

»Er änderte sich?«

»Ja. Ich riet ihm auszusteigen, solange er es noch konnte. Er schien es wirklich zu wollen, aber bei jeder unserer Begegnungen hatte ich das Gefühl, dass er es weniger ernst meinte. Als wäre ein bisschen mehr von seiner Persönlichkeit – von seinem eigenen Willen – ausgelöscht worden. Und deshalb fand ich die ganze Sache ermüdend.« Sie unterbrach sich. »Herr Fabel, ich war nie wirklich hingerissen von Daniel. Nicht einmal am Anfang. Zuerst war es ein Spaß – er machte mir Spaß –, aber dann wurde es etwas eintönig. Auch wegen der seltsamen Gruppe, zu der seine Frau und er gehörten.«

»Sie wollten Schluss machen?«

»Ich habe es ihm beim Mittagessen gesagt. Kurz vor dem Anschlag. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich nun fühle?«

»Das konnten Sie doch nicht wissen, Frau Kempfert. Wie hat er reagiert?«

»Positiv. So positiv, dass mein Ego hätte darunter leiden können. Es war, als wäre es ihm gleichgültig. Oder als wäre er sogar erleichtert.«

 

Während Fabel die Straße zu seinem Auto überquerte, brauchte er sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Victoria Kempfert ihn von ihrem Fenster aus beobachtete. Sie war kratzbürstig gewesen, abweisend bis zur Feindseligkeit. Dies war Teil des Leugnungsprozesses, der sich einem Trauma wie dem ihren anschloss. Aber diese Erklärung genügte nicht. Sie hatte Fabel etwas mitteilen wollen, war jedoch unsicher oder verängstigt gewesen. Stattdessen hatte sie die Botschaft mit verbalen Widerhaken umgeben. Er holte sein Handy hervor und drückte auf die Kurzwahltaste für die Mordkommission, bevor ihm einfiel, dass dies sein Ersatztelefon war, auf dem er die Nummer noch nicht eingespeichert hatte. Er brauchte eine Weile, bevor er sich an sie erinnern und sie eintippen konnte: Die Ironie der Erleichterung des Lebens durch die Technik bestand darin, dass man vergaß, selbstständig zu handeln. Anna Wolff meldete sich.

»Anna, ich möchte, dass du ein paar Dinge für mich checkst. Und zwar schnellstens.«

»Okay, für unseren Verdächtigen Nummer eins tue ich doch alles. Der Letzte, den du überprüfen lassen wolltest, war kurz darauf tot.«

»Wenn dies hier vorbei ist, Kommissarin Wolff, werde ich dich nach Buxtehude versetzen lassen, wo der Höhepunkt deiner Woche – oder deines Monats – ein Fahrraddiebstahl sein wird.«

»O nein!«, sagte sie mit gespieltem Entsetzen. »Das ist zu weit vom Gefängnis Billwerder weg. Dann werde ich dich nie besuchen können. Wen soll ich unter die Lupe nehmen?«

»Den Mann, der bei der Brandstiftung im Schanzenviertel umgekommen ist. Daniel Föttinger. Und die Frau, die mit ihm zusammen war. Victoria Kempfert.«

»Okay. Kommst du zurück?«

»Später. Ich muss noch einen weiteren Besuch machen.« Fabel öffnete seinen BMW mit der Fernbedienung und schob sich auf den Fahrersitz. Er blickte in den Rückspiegel. Ja. Immer noch da. »Anna, noch etwas, das du durch den Computer jagen musst. Und behalt’s für dich. Ich werde verfolgt. Ein neuer VW-Geländewagen. Ein Tiguan, glaube ich. Er taucht schon den ganzen Tag in meinem Rückspiegel auf. Vermutlich einer von uns oder ein BfV-Team. Ich möchte bloß sicher sein.«

»Scheiße … Du glaubst doch nicht, dass du wirklich unter Verdacht stehst?«

»Das bezweifle ich«, sagte Fabel, »aber vielleicht werde ich der Ordnung halber beobachtet, wie Kriminaldirektor van Heiden sagen würde.«

»Kennzeichen?«

Fabel kniff die Augen zusammen, um es im Rückspiegel zu entziffern, und las es Anna vor. »In zwei Minuten«, sagte sie.

 

Die Hamburger Architektur lässt auf eine sehr diskrete, geschmackvolle Art erkennen, dass dies eine Stadt ist, in der erhebliche Summen verdient werden. Daniel Föttingers Haus lag zwischen Nienstedten und Blankenese und deutete verhalten auf ein Riesenvermögen hin. Es stand auf vier Hektar Land in einer der teuersten Gegenden in Deutschland. Angesichts der Tätigkeit von Föttingers Firma hatte Fabel mit einem entsprechend ultramodernen, emissionsfreien Gebäude gerechnet wie dem von Müller-Voigt im Alten Land. Doch es war eine elegante weiße, aristokratische Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert mit grünen Fensterläden und einem zweistöckigen Wintergarten mit Vogelhaus an der Ostseite. Auf dem Grundstück, das wie ein englischer Park angelegt war, standen verstreut jahrhundertealte Eichen auf den Rasenflächen.

Das hatte Fabel nicht erwartet, doch er war sicher gewesen, dass Föttingers Witwe nicht allein sein würde. Er hatte recht.

Die erhabene Umgebung ließ Fabel zunächst vermuten, dass der untersetzte, makellos gekleidete Mann mit dem geschorenen Kopf und dem Ziegenbärtchen, der ihm die Tür öffnete, der Butler war. Aber der Schnitt seines Anzugs und sein Auftreten machten deutlich, dass er kein Diener sein konnte.

Er führte Fabel in einen großen, hellen Salon. Ein jüngerer Mann stand an der anderen Seite des Raumes neben einem Konzertflügel. Auch er trug einen Straßenanzug, der jedoch grau und nicht von der gleichen Qualität war. Auffällig an ihm war der Kontrast zwischen seiner blassen Haut und seinem sehr dunklen, kurzen Haar.

Die einzige andere anwesende Person war eine Frau von ungefähr fünfunddreißig Jahren, die auf einem Rosenholzsofa saß. Sie war schlank und hatte schulterlanges gewelltes Haar von leuchtendem Kastanienbraun, das sie aus ihrem zarten, bleichen und leicht sommersprossigen Gesicht zurückgebürstet hatte. Ihr schwarzes, ärmelloses Kleid schmiegte sich an ihre Figur, wie es nur den teuersten Stoffen möglich ist, und ihre Haltung war so perfekt, dass sie auf dem Sofa zu sitzen schien, ohne es zu berühren. Auf den ersten Blick schien Kirstin Föttinger aus erlesenem Porzellan zu bestehen.

Sie wirkte nicht weniger schön als Föttingers Geliebte, doch während Victoria Kempfert eine Frau war, die von Männern begehrt wurde, glich Kirstin Föttinger einem zerbrechlichen, kostbaren Objekt, das man in einer Sammlung verwahrte. Und irgendetwas an ihr wirkte unirdisch.

»Ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, mich zu empfangen, Frau Föttinger«, sagte Fabel. »Ich weiß, dass Sie vermutlich noch unter Schock stehen.«

Sie reagierte mit einem höflichen Porzellanlächeln. In Wirklichkeit schien sie gar nicht unter Schock zu stehen und auch nicht von Kummer geplagt zu sein. Vielleicht war es eine erzwungene Selbstkontrolle, die ihr zeitweilig jede sichtbare Emotion raubte.

»Frau Föttinger hat etwas eingenommen. Ein leichtes Beruhigungsmittel, das ihr ihr Arzt verschrieben hat«, erläuterte der ältere Mann.

»Und Sie sind …?« Fabel wandte sich ihm direkt zu.

»Peter Wiegand. Ein Freund der Familie. Außerdem war ich Geschäftspartner von Daniel.«

»Peter Wiegand? Der stellvertretende Vorsitzende des Pharos-Projekts?«

»Ich arbeite seit fast dreißig Jahren mit Dominik Korn zusammen und bin vor allem Vizepräsident und technischer Leiter des Korn-Pharos-Konzerns. Aber natürlich bin ich auch im Pharos-Projekt aktiv. Kirstin und ihr Mann sind Mitglieder, und deshalb bin ich hier, um in dieser schwierigen Zeit Hilfe und Trost anzubieten.«

»Aha.« Fabel sah fragend zu dem anderen Mann hinüber.

»Entschuldigen Sie …«, sagte Wiegand. »Das ist Frank Bädorf. Er ist der Sicherheitschef der Gruppe. Wegen der gewaltsamen Umstände von Daniels Tod hielt ich es für ratsam, ihn mitzubringen.«

»Der Gruppe?«, fragte Fabel, an Bädorf gewandt. »Heißt das, dass Sie für den Korn-Pharos-Konzern oder für das Pharos-Projekt arbeiten?«

»Ich bin kein Mitglied des Projekts«, erwiderte Bädorf. Er hatte einen südlichen Akzent. Schwäbisch, dachte Fabel. »Sondern ich arbeite für die Korn-Pharos-Unternehmensgruppe. Ob Sie es glauben oder nicht, Herr Leitender Hauptkommissar, man muss sich als Mitarbeiter des Konzerns dem Projekt keineswegs anschließen.«

»Verstehe«, sagte Fabel. Aber er erinnerte sich an etwas, das er in Menkes Akte über das Projekt gelesen hatte; an die Gerüchte über das Konsolidierungs- und Vollstreckungsbüro, das so klang, als befasse es sich mit Firmenzusammenschlüssen und der Einhaltung von Verträgen, doch in Wirklichkeit als Geheimpolizei des Pharos-Projekts fungierte. Fabel musterte Bädorf und war sich recht sicher, einen Konsolidierer vor sich zu haben. Noch dazu einen ranghohen. Fabel hatte diesen Termin telefonisch vereinbaren müssen, wodurch das Projekt Gelegenheit gehabt hatte, jemanden vorbeizuschicken, der Kirstin Föttinger dazu bringen konnte, die richtigen Antworten zu geben.

Fabel wandte sich der jungen Witwe zu. »Frau Föttinger, könnte ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen …«

»Mir wäre es lieber, wenn Herr Wiegand und Herr Bädorf hierblieben. Herr Wiegand war eine große Stütze für mich.«

»Wie Sie wünschen. Darf ich?« Fabel deutete auf den Sessel ihr gegenüber. Es war einen Versuch wert gewesen, doch eigentlich hatte er gewusst, dass man ihm niemals gestattet hätte, Föttingers Witwe ohne einen Pharos-Vertreter zu befragen. Sie nickte, und er nahm Platz.

»Ich weiß, dass dies ein sehr schmerzliches Thema für Sie ist, Frau Föttinger, aber waren Sie über die Beziehung zwischen Ihrem Mann und Victoria Kempfert informiert?«

»Ich habe erst nach Daniels Tod von einer solchen Beziehung erfahren.« Ihre Antwort klang eingeübt.

»Kennen Sie Victoria Kempfert?«

»Wir sind uns nie begegnet.«

»Wissen Sie, welchen Grund jemand gehabt haben könnte, Ihrem Mann zu schaden oder ihn zu töten?«

»Ich hatte angenommen, dass es ein Unfall war …«, schaltete Wiegand sich ein. »Nun, vielleicht kein Unfall, aber ich dachte, die Täter hätten lediglich beabsichtigt, das Auto in Brand zu stecken, während Daniel im Café saß.«

Fabel ignorierte die Unterbrechung. »Frau Föttinger?«

»Nein. Nicht ihn persönlich. Daniel war kein Mensch, der sich Feinde machte. Andererseits ist es möglich, dass manche Gruppen ihm misstrauten – wegen der Aktivitäten der Firma.«

»Zum Beispiel?«

»Föttinger Environmental Technologies ist führend im Bereich seegestützter Kohlenstoffabscheidung. Daniel war ein wichtiger Akteur und einer der Organisatoren des GlobalConcern-Hamburg-Gipfels.«

»Warum sollte jemand etwas gegen Kohlenstoffabscheidung haben?«

»Es liegt an unserer Methode. Daniel hat eine wirkungsvollere Form des Eisensäens vervollkommnet.«

»Eisensäen?«

»Vielleicht darf ich das erklären«, schaltete Wiegand sich ein. »In diesem Bereich arbeitet die Firma von Herrn Föttinger mit dem Korn-Pharos-Konzern zusammen. Eisensäen ist genau das, wonach es sich anhört: Man sät Eisenstaub in der Tiefsee.«

»Zu welchem Zweck?«

»Einfach ausgedrückt: um atmosphärisches Kohlendioxid auf dem Meeresboden zu binden. Die Theorie ist schon seit einiger Zeit bekannt, und man hat Versuche mit gemischten Resultaten durchgeführt. Ich vermute, dass sogar Beamte der Polizei Hamburg wissen, welche Gefahr dem Planeten droht: nämlich die Erhöhung des CO2 in der Atmosphäre, was zu einer katastrophalen globalen Erwärmung führen kann. Die beiden Hauptursachen sind Emissionen in die Atmosphäre und die Entwaldung. Dadurch wird die Fähigkeit der Biosphäre verringert, Kohlendioxid zu verarbeiten. Was wissen Sie über Plankton, Herr Fabel?«

»Es wird von Walen gefressen. Das war’s.«

»Es gibt zwei Arten von Plankton: Phytoplankton und Zooplankton. Das Erstere bezeichnet mikroskopisch kleine Pflanzen, das Letztere mikroskopisch kleine Tiere. Das Prinzip des Verfahrens besteht darin, dass der Eisenstaub, der im Ozean ausgesät wird, als Düngemittel dient. Er hat eine Bevölkerungsexplosion des Phytoplanktons ausgelöst. Und da Phytoplankton eine pflanzliche Substanz ist, baut es mithilfe der Fotosynthese Kohlenstoffdioxid ab und entlässt Sauerstoff in die Atmosphäre. Schon jetzt wird ein hoher Anteil der ›Atmung‹ des Planeten vom Phytoplankton vollzogen. Die Theorie lautet, dass durch die Erhöhung des Phytoplanktonvolumens im Ozean die Lücke gefüllt werden kann, die durch die Verringerung des Regenwalds und anderer großer Vegetationen auf dem Land entstanden ist. In vielen Tests ist es tatsächlich zu einer starken Erhöhung des Volumens gekommen. Durch Fotosynthese werden außerdem organische Stoffe, nämlich Zucker, geschaffen, die das Phytoplankton in die dunkleren Ozeanschichten sinken lassen, wodurch der Kohlenstoff auf dem Meeresboden haften bleibt. Interessanterweise würde dieses tote Plankton im Laufe der Zeit zu Mineralöl werden.«

»Warum versucht nicht jeder, diesen Prozess einzuleiten?«, fragte Fabel.

»Es gibt ein Problem. Vereinfachend gesagt erzeugen Pflanzen Sauerstoff und Tiere Kohlendioxid. Zooplankton, das CO2 ausstößt, lebt ebenfalls in den sonnenbeschienenen Ozeanschichten und ernährt sich vom Phytoplankton. Das hatte zur Folge, dass das Zooplankton in manchen Testgebieten im selben Maße zunahm wie das Phytoplankton, wodurch die postive Wirkung der Eisenaussaat aufgehoben wurde. Deshalb bleibt dieses Verfahren für manche Umweltschützer umstritten. Einige halten die Eisenaussaat für eine zusätzliche Gefahr, nicht für eine Lösung des Problems.«

»Groß genug, um die Feinde von Herrn Föttinger zu einem Mordanschlag zu bewegen?«

Wiegand zuckte die Achseln. »Sie sind der Polizist, Herr Fabel.«

»Wenn dieses Aussäen von Eisen so umstritten ist, warum haben Sie und Föttinger Environmental es dann gefördert?« Fabel registrierte, dass er nicht mehr die Person befragte, der sein Besuch galt, doch er ließ sich bewusst für eine Weile ablenken.

»Weil, wenn wir die Probleme lösen können, die potenziellen Vorteile gewaltig sind. Das Verfahren könnte uns allen das Leben retten. Und Daniels Forscher stehen kurz davor, mögliche Lösungen zu entwickeln. Sie haben neue Elemente eingebracht, die den Prozess beschleunigen würden, sodass das Phytoplankton viel schneller zu Boden sinkt. Zooplankton kann in mehr als dreihundert Meter Tiefe nicht überleben. Wenn wir also größere Mengen Phytoplankton nach der Fotosynthese, doch bevor das Zooplankton es fressen kann, unter diese Höhe sinken lassen, haben wir unsere Lösung.«

»Aha. Haben Sie Konkurrenten … Wettbewerber auf diesem Gebiet?«

Wiegand lachte. »Niemand würde einen Mord begehen, um eine Führungsposition einnehmen zu können. Die Umweltbranche lässt sich auf so etwas nicht ein. Der Planet hat immer den Vorrang vor dem Profit.«

Fabel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Kirstin Föttinger. Er stellte die üblichen Fragen, um eine möglichst detaillierte Chronologie der Aktivitäten des Toten zu erhalten.

»Nach Ihren Angaben, Frau Föttinger«, sagte er schließlich, »verbrachte Ihr Mann – genau wie Sie übrigens – abends mehr als sechs Stunden im Internet oder sonst wie an Computern?«

»Das stimmt.« Das Porzellangesicht ließ keinen Hinweis darauf erkennen, dass ein solches Verhalten als ungewöhnlich gelten könne. »Es war ein Teil seiner Arbeit und seiner Persönlichkeit. Und meiner auch. Wir beide wollten immer mit dem Web in Verbindung sein.«

Fabel nickte, nahm sich jedoch vor, mit seinem Team zu besprechen, ob es möglich sei, eine Vollmacht zur Untersuchung von Föttingers Computern zu erhalten. Nein, es wäre nutzlos. Bevor sich die Experten der Polizei Hamburg den Computern widmen konnten, würden die noch besseren Experten des Pharos-Projekts bereits alles entfernt haben, was die Sekte in Verlegenheit bringen würde.

»Ich habe gehört, dass Ihr Mann Herrn Berthold Müller-Voigt gut kannte.«

»Nicht allzu gut. Natürlich sind sie einander häufig begegnet.«

»Herr Müller-Voigt hatte doch eine leitende Position bei Föttinger Environmental Technologies …«

»Nein, er hatte lediglich eine beratende Funktion.«

»Entstand für ihn als Umweltsenator dadurch kein Interessenkonflikt?«

»Er hat den Senat darüber informiert. Außerdem ist unsere Firma nicht in Hamburg tätig. Es gibt keine Aufträge, die an uns vergeben werden könnten.«

»Aber Sie sehen ein, dass ich sämtliche Kontakte zwischen Ihrem Mann und Senator Müller-Voigt überprüfen muss?«

»Glauben Sie wirklich, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Taten gibt?«, fragte Wiegand. »Sie sind doch unter nicht vergleichbaren Umständen gestorben. Der Tod des armen Daniel war vielleicht nicht einmal geplant, und nach den Zeitungsberichten zu urteilen, ist Berthold von jemandem ermordet worden, den er in sein Haus gelassen hatte.«

Fabel wandte sich Wiegand zu und sah ihn ein paar Sekunden lang an. Der Grund für seine Bemerkung lag auf der Hand: Wiegand hatte irgendwie erfahren, dass Fabel kurz vor Müller-Voigts Tod in dessen Haus gewesen war.

»Ich weiß nicht, ob eine Verbindung besteht«, erwiderte Fabel. »Noch nicht. Sie haben Berthold also auch gekannt?«

»In der Tat.«

»Haben Sie auch seine Partnerin kennengelernt? Meliha Yazar?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Wiegand hatte eine undurchsichtige Miene aufgesetzt.

»Frau Föttinger?«

»Der Name ist mir nicht vertraut«, erwiderte sie. »Ich dachte, Berthold hätte keine feste Partnerin. Er hatte einen Ruf als Frauenheld, wie Sie bestimmt wissen.«

Fabel erhob sich, dankte Kirstin Föttinger, drückte ihr noch einmal sein Mitgefühl aus und verabschiedete sich als Darsteller, der von einer Bühne abtrat: Nichts an dem Gespräch war natürlich oder spontan gewesen. Hier konnte er nichts mehr herausfinden. Wiederum bestand Peter Wiegand darauf, ihn zu begleiten.

»Ihre Vereinigung macht mich neugierig, Herr Wiegand«, sagte Fabel, als sie sein Auto erreichten. »Glauben Sie wirklich an die Konsolidierung? Daran, dass Sie alle in einen Hauptcomputer hochgeladen werden können?«

»Herr Fabel, jede Religion, jedes Glaubenssystem hat einen zentralen Leitsatz, der eine Fülle von Interpretationen ermöglicht. Unabhängig vom Glaubenssystem werden manche Anhänger den Leitsatz wörtlich nehmen, während andere ihn für symbolisch halten. Wie auch immer, möglicherweise ist all das hier …« Er machte eine ausladende Geste, als wolle er die parkähnlichen Gärten, die Bäume und alles Übrige umfassen. »… die Konsolidierung. Vielleicht ist es nicht die wahre Realität, und wir sind bloß ichbewusste Programme in einem posthumanen, künstlichen Umweltmodell. Aber wenn dies die Realität ist – und ich bin fest davon überzeugt –, dann nähert sie sich ihrem Ende, falls wir nicht radikale Schritte ergreifen, und zwar bald.« Er sah Fabel an, als würde er ihn einschätzen. »Es steht Ihnen frei, uns zu besuchen, Herr Fabel. Haben Sie den Pharos gesehen, unser hiesiges Hauptquartier an der Küste bei Hörne? Es liegt übrigens nicht sehr weit von Berthold Müller-Voigts Haus entfernt. Und dort sind Sie, glaube ich, schon gewesen.«

»Nein, ich habe den Pharos noch nie gesehen«, wich Fabel aus.

»Dann sollten Sie vorbeikommen! Er ist ein Bauwerk mit einer wirklich außergewöhnlichen Architektur. Der Pharos ist ein Anbau an einen Leuchtturm aus dem neunzehnten Jahrhundert, und das gesamte Gebäude ragt über das Wasser hinweg. Wir haben sogar mehrere Glasplatten in den Fußboden eingelassen, durch die man das zwanzig Meter tiefer liegende Meer sehen kann.« Er reichte Fabel eine Visitenkarte. »Bitte besuchen Sie uns, Herr Fabel. Unsere Türen sind für alle geöffnet, sogar für Polizisten. Aber ich würde Sie bitten, vorher anzurufen, damit wir uns auf Sie einstellen können. Das Einzige, was Sie mitbringen sollten, ist ein offener Geist.«

»Damit Sie ihn schließen können?«

»Trotz allem, was Ihnen Ihre Kollegen vom BfV möglicherweise mitgeteilt haben, sind wir keine Sekte. Wir sind ein Umweltverband.«

»Ich muss zugeben«, sagte Fabel, »dass mir der Gedanke, über dem Meer in der Luft zu hängen, nicht gefällt.«

»Sie haben Angst vor dem Wasser, Herr Fabel?«

»Nein … keine Angst. Ich bin in Norddeich aufgewachsen und habe einen gesunden Respekt vor ihm.«

»Das einzige Wasser, vor dem ich Angst habe«, sagte Wiegand, der plötzlich weniger leutselig und dafür ernster geworden war, »ist dunkles Wasser. Haben Sie schon vom Albedo-Effekt gehört? Albedo ist das Rückstrahlvermögen von nicht selbst leuchtenden Oberflächen. Polareis reflektiert die Sonnenstrahlen und verhindert so, dass sich das Meer erwärmt. Je mehr Eis, desto kühler ist das Meer und desto stabiler das Klima. Je größer das Verhältnis von dunklem Wasser zu weißem Eis ist, desto schneller erhitzt sich der Planet. Von Jahr zu Jahr findet man weniger Eis an den Polen und immer mehr dunkles Wasser. Was auch immer Sie von mir oder dem Pharos-Projekt halten mögen, Herr Fabel, ich fürchte mich aufrichtig vor der Katastrophe, die uns erwartet, und nutze jede Waffe, die mir zur Verfügung steht, damit es nicht dazu kommt. Dies ist kein Spiel, sondern eine Schlacht ums Überleben.«

Fabel nickte nachdenklich. Wie weit würde Wiegand gehen, und welche Waffen war er bereit einzusetzen? Zudem hatte Fabel gelesen, dass sich Wiegands persönliches Vermögen nicht auf Millionen, sondern auf Milliarden belief, und an jeder Apokalypse konnte man verdienen.

»Vielleicht werde ich Sie besuchen, Herr Wiegand«, sagte er und musterte die Visitenkarte. Sie zeigte das gleiche stilisierte Auge wie das Plakat, das er auf der Fahrt zum Flughafen bemerkt hatte. »Bald.«

Sobald Fabel im Auto saß, schaltete er sein Handy wieder ein. Es klingelte fast sofort.

»Okay«, sagte Anna Wolff. »Eine interessante Sache. Ich habe die Namen und auch das Kennzeichen gecheckt, die du mir genannt hast … Wenn das Auto dir wirklich gefolgt ist, dann nicht, weil es zu unseren oder denen des BfV gehört. Es ist unter Seamark International gemeldet, einer maritimen Sicherheitsfirma.«

»Was? Warum zum Teufel folgt mir eine private Sicherheitsfirma?«

»Soll ich jemanden zu ihrer Zentrale schicken, um ein paar Antworten zu erhalten?«

»Nein, noch nicht. Sie brauchen nicht zu wissen, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin. Aber wenn ich dasselbe Auto noch einmal hinter mir sehe, werde ich es anhalten lassen. Inzwischen könntest du diese Firma Seamark International für mich überprüfen. Ich würde ein Monatsgehalt darauf wetten, dass sie sich als Tochtergesellschaft des Korn-Pharos-Konzerns entpuppt. Was ist mit den Namen, die ich dir genannt habe?«

»Victoria Kempfert könnte keine reinere Weste haben. Keine Vorstrafen oder Verhaftungen, kein nennenswerter Kontakt mit der Polizei. Viel interessanter ist Daniel Föttinger. Er scheint jemand gewesen zu sein, der sich mit einem Nein nicht abfindet. Letztes Jahr ist ihm von einer Angestellten sexuelle Belästigung vorgeworfen worden, und man hat ihn zwei Mal wegen Vergewaltigung verklagt. Das erste Mal noch während seines Studiums und das zweite Mal 1999. Alle drei Anklagen wurden fallen gelassen, sobald die Polizei mit den Ermittlungen begann. Föttingers Papa hatte offenbar genug Kohle, um unerfreuliche Dinge ungeschehen zu machen … Und das Gleiche gilt nun für Föttinger junior.«

»Wirklich interessant.«

»Das ist noch nicht alles. Föttingers Eltern ließen ihn nach dem ersten Vorfall in eine Privatklinik in Bayern einweisen, eine psychiatrische Klinik. Ich habe einen richterlichen Befehl beantragt, damit wir an die Unterlagen herankommen. Ich dachte, dass du sie haben willst. Wer weiß, wie relevant all das ist, aber vielleicht wollte sich jemand an ihm rächen.«

»Gut gemacht, Anna.« Fabel überlegte. »Würdest du mir die Namen und Adressen der Opfer besorgen? Ich möchte mit ihnen reden. Oder wenigstens mit einer der Frauen.«

»Natürlich, Chef, aber ich brauche etwas Zeit. Muss mich in zehn Minuten auf die Socken machen. Ich fahre zu dem Behinderten, mit dem du gesprochen hast – Johann Reisch. Zwei Beamte sind draußen, um seinen Computer zu überprüfen, einer von der Technischen Abteilung und noch einer von Cyberverbrechen. Übrigens, die sind sauer auf dich. Sie meinen, die Verzögerung könne es ihm ermöglicht haben, eine Menge Beweismaterial zu löschen.«

»Reisch ist nicht unser Mann, Anna. Das sagt mir der gute alte Polizisteninstinkt, nicht die Technik.«

»Also, das Problem ist, dass sie vor Reischs Haus stehen und ihnen keiner öffnet. Dabei werden sie von Reisch erwartet. Sie haben sich telefonisch mit ihm verabredet.«

»Das klingt nicht gut, Anna. Reisch ist praktisch ans Haus gefesselt. Nimm einen Streifenwagen mit. Wenn sich niemand meldet, lass die Tür aufbrechen. Ich komme sofort. Besser noch, du wartest, bis ich eintreffe. Und besorg die Nummer seiner Betreuerin. Shit, ich habe ihren Namen vergessen …«

»Rössing … Ich bin schon dabei. Bis gleich.«