31.
Fabel wusste, dass Panik ihm zum Verhängnis werden würde. Er schob den Gedanken in den Vordergrund seines Bewusstseins. Er war schon nach dem ersten Aufprall außer Atem gewesen, und seine Lunge litt immer noch unter Sauerstoffmangel. Ein Urinstinkt in seinem Innern nötigte ihn, den Mund zu öffnen und zu atmen, das schmutzige Flusswasser zu schlucken, seine Lunge mit irgendetwas, was es auch sein mochte, zu füllen.
Durch die natürliche Auftriebskraft seines Körpers wurde er an das Stoffdach des sinkenden Autos gedrückt, und er wusste, dass er tiefer in die Elbe hinuntergerissen wurde. Der Kai war ursprünglich als Anlegeplatz geplant worden, was bedeutete, dass das Wasser tief genug für ein großes Schiff war. Tief und dunkel.
Nun sah Fabel nichts mehr. Obwohl er das Auto seit zehn Jahren besaß, war ihm die Kabine mit einem Mal völlig fremd. Eine unbekannte, tödliche Umgebung. Ein Fenster war, wie er wusste, geöffnet und bot eine rasche Fluchtmöglichkeit. Das andere war geschlossen. Eine einfache Wahl: die eine oder die andere Richtung. Er schob sich dorthin hinüber, wo er die rechte Seite des Autos vermutete. Kein Lenkrad. Nun fand er das Beifahrerfenster und zwängte sich hindurch. Er war außerhalb des Wagens und stieg auf. Seine Lunge schien aufzuheulen, und ein bohrender Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte, durchfuhr seine Brust. Er konnte die Wasseroberfläche erkennen, doch sie kam nicht näher. Das Licht über ihm wurde trübe und das Wasser um ihn herum erneut dunkler. Die Panik kehrte zurück, als er begriff, dass er das Bewusstsein verlieren und es nie wiedererlangen würde. Seine Arme und Beine fühlten sich bleiern an, und er spürte, dass er wieder sank.
Jegliche Furcht verließ ihn, und er stieß den angehaltenen Atem mit einer Explosion von Blasen aus.
Etwas bedeckte seinen Mund und kniff ihm die Nase zu. Eine Hand. Jemand war neben ihm im Wasser. Ein anderer Arm umschlang seine Achselgrube und seinen Brustkasten. Fabel wehrte sich instinktiv gegen die Hand, die seine Nase und seinen Mund einklemmte. Die Erkenntnis, dass sie ihn hinderte, das schmutzige Hafenwasser einzuatmen, verlor sich in primitiver Panik.
Unzweifelhaft stieg er auf, doch das Wasser wurde noch dunkler, geradezu schwarz. Er fühlte seine Glieder, die Kälte des Wassers, das Hämmern in seiner Brust nicht mehr.
Plötzlich saß er wieder im Arbeitszimmer seines Vaters in Norddeich. Das Zimmer wurde nur von einer einzigen Schreibtischlampe erleuchtet. Irgendwo vor dem Fenster, an der anderen Seite des Deiches, war ein Sturm zu hören.
Während Fabel dem Wind und dem Regen lauschte, bemerkte er, dass Paul Lindemann ihm gegenübersaß. Die Schusswunde mitten in seiner Stirn war mit einem Kreis aus längst getrocknetem schwarzrotem Blut verkrustet.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Fabel.
»Nicht mehr.«
»Es tut mir leid.«
»Es war nicht deine Schuld. Niemand hatte Schuld. Meine Zeit war gekommen.«
»Nun ist meine Zeit gekommen. Passiert dies wirklich?«
»Deine Zeit ist noch nicht gekommen«, sagte Paul und lächelte. »Ich weiß nicht, ob dies wirklich passiert. Erinnerst du dich an den Mörder, der glaubte, er sei Teil eines Märchens?«
»Ich erinnere mich an ihn.«
»Vielleicht hatte er doch recht. Vielleicht gibt es gar keine Realität.« Paul schwieg ein paar Sekunden lang. »Hast du die Bücher gesehen?«
»Welche Bücher?«
»Die Bücher neben ihrem Bett.«
»Ja, ich habe sie gesehen.«
»Hast du sie jetzt bei dir? Sind sie mit dir im Wasser?«
»Ich bin nicht im Wasser. Ich bin hier.«
»Du bist im Wasser, Jan. Hast du die Bücher bei dir?«
»Nein. Anna hat sie mitgenommen. In einem Beutel.«
»Denk an die Bücher.« Paul runzelte die Stirn, sodass die Haut um die Schusswunde faltig wurde. »Vergiss die Bücher nicht.«
Fabel wollte antworten, doch der Schlaf übermannte ihn. Das Zimmer wurde dunkel, und das Toben des Sturmes verstummte.
Etwas versengte jeden Millimeter seines Körpers. Er hörte Donnergeräusche wie von krachenden Wellen, aber eines folgte dem anderen viel zu rasch. Der Schmerz verschärfte sich mit jedem Donnern, und Fabel begriff, dass es sein eigener Atem war. Etwas umschloss immer noch seine Nase und seinen Mund, und er griff danach.
»Nicht aufregen.« Eine weibliche Stimme, die Autorität und Beruhigung ausstrahlte. »Es ist nur eine Sauerstoffmaske.«
Er wollte aufstehen, doch noch mehr Hände hielten ihn sanft zurück.
»Ich bin’s, Chef. Anna. Bald geht es dir besser. Du bist in einem Unfallwagen. Wir bringen dich ins Krankenhaus.«
Fabels Sicht wurde klarer: Anna und eine Sanitäterin beugten sich über ihn. Sein volles Bewusstsein kehrte wie mit einem elektrischen Schlag zurück.
»Hast du sie erwischt?« Er versuchte, sich aufzurichten, wurde jedoch erneut zurückgehalten. Schmerz pochte Übelkeit erregend in seinem Kopf. »Sie haben mich ins Wasser gestoßen. Sie wollten mich töten.« Noch jemand war in dem Rettungswagen. Eine männliche Gestalt saß auf der Bank neben Anna. Das Haar des Mannes war feucht-schwarz und klebte ihm an der Stirn, und eine Decke umhüllte seine gekrümmten Schultern.
»Das ist Herr Flemming, Jan«, sagte Anna. »Er hat dich aus der Elbe gezogen. Er hat gesehen, wie dein Auto versank, und ist ins Wasser gesprungen, um dich zu retten.«
Fabel erinnerte sich an die Hand über seiner Nase und seinem Mund, an den ihn umschlingenden Arm, der ihn in die Höhe zog.
»Sie haben mir das Leben gerettet?«
Flemming zuckte die Achseln unter der Decke. »Richtiger Ort, richtige Zeit.«
»Es war mehr als das. Sie haben Ihr Leben für mich riskiert.«
»Jan …« Fabel spürte ein Zögern in Annas Stimme. »Herr Flemming arbeitet für Seamark International.«
»Aber ich dachte …«
»Sie hatten recht, Herr Fabel«, sagte Flemming. »Wir sind Ihnen gefolgt. Aber wir sind auf derselben Seite – sozusagen. Ruhen Sie sich erst einmal aus. Ich werde auch ins Krankenhaus gebracht. Wir können uns später unterhalten.«
»Haben Sie mich gestern Abend angerufen? Sind Sie der ›Klabautermann‹?«
Flemming lachte. »Vielleicht war ich heute der Klabautermann, aber ich habe Sie nicht angerufen.«
Fabel legte sich auf der Trage zurück. Der Sauerstoff erleichterte ihm das Atmen. Er schloss die Augen und versuchte, die Übelkeit zurückzudrängen, die ihn mit mächtigen Wellen überschwemmte. Der Rettungswagen setzte sich in Bewegung und holperte über irgendein Hindernis. Fabel riss sich die Sauerstoffmaske ab, drehte sich zur Seite und erbrach sich über den Rand der Trage. Die Sanitäterin stützte ihn, während sein Würgen endete. Dann fragte sie ihn, ob er sich besser fühle, und half ihm, sich wieder auf den Rücken zu legen. Fabel spürte den Druck ihrer Fingerspitzen an seinem Handgelenk, während sie seinen Puls fühlte, und er war ein wenig überrascht, als ihm die Lider zufielen. Er würde schlafen.
Susanne traf ungefähr eine halbe Stunde nach seiner Aufnahme im Krankenhaus St. Georg ein. Sie wirkte erschüttert, und Fabel machte sich größere Sorgen um sie als um sich selbst. Während er nach einer Stunde erneut untersucht wurde, blieb sie an seinem Bett sitzen. Ihre betrübte Miene wollte sich nicht aufheitern, wie oft er ihr auch versicherte, dass es ihm gut gehe, und wie oft die Ärzte ihr auch erklärten, dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe.
»Ich habe nicht viel Wasser geschluckt«, sagte er. »Dafür hat dieser Flemming gesorgt. Er hat mich wirklich schnell herausgeholt, Susanne. Alles ist in Ordnung, wirklich.« Er berührte ihre Wange und lächelte. Sie legte die Hand über seine.
»Sie wollten dich töten, Jan«, stammelte sie fassungslos. »Die Wahnsinnigen glauben tatsächlich, dass sie es sich leisten können, einen hohen Hamburger Polizeibeamten umzubringen.«
»Soweit ich die Sache beurteilen kann, werden sie ungestraft davonkommen. Wir haben nichts, um das Fahrzeug, das mich gerammt hat, mit dem Pharos-Projekt oder den Beschützern Gaias in Verbindung zu bringen. Oder überhaupt mit irgendjemandem. Aber wir werden sie schnappen, keine Sorge, Susanne. Wir werden sie schnappen.«
Anna Wolff trat ein. Sie sah, dass Susanne Fabels Hand umklammerte, und wirkte einen Moment lang verlegen.
»Schon gut, Anna«, sagte Susanne. Fabel glaubte, eine gewisse Frostigkeit in ihrem Lächeln zu entdecken. Sie erhob sich, beugte sich vor und küsste ihn besitzergreifend auf die Stirn. »Ich hole mir einen Kaffee. Bin in einer Minute zurück.«
»Entschuldige, Chef«, begann Anna. »Ich wollte nicht …«
»Kein Problem. Was ist los?«
»Flemming ist wieder okay und kann gehen, aber er hängt noch herum, weil er glaubt, dass du mit ihm reden möchtest. Das heißt, wenn du dazu in der Lage bist.«
»Und ob ich mit ihm reden möchte. Hat er dir gesagt, warum er mir gefolgt ist?«
»Du solltest dir lieber alle Details von ihm schildern lassen, aber offenbar arbeitet Seamark International für ein Unternehmen namens Demeril Importing. Es ist eine Firma unten in der Speicherstadt, die türkische Teppiche und andere Textilien importiert. Seamark ist für eine Menge solcher Firmen tätig; es bietet Sicherheitsmaßnahmen für den Import und Export an und stellt auch Männer bereit, die auf Schiffen auf die Fracht aufpassen. Anscheinend hat es sogar eine eigene Rechts- und Ermittlungsabteilung, weil die Ladungen und die Schiffe, die es bewacht, so vielen unterschiedlichen Rechtsprechungen und Gesetzen unterworfen sind.«
»Was zum Teufel hat das mit unseren Fällen zu tun?«
»Der Eigentümer von Demeril ist Mustafa Kebir. Sein Bruder, ein bekannter türkischer Archäologe und Umweltschützer, heißt Burhan Kebir. Er macht sich sehr große Sorgen über den Verbleib seiner Tochter …«
»Meliha?«
»Meliha Kebir – unsere Meliha Yazar – ist Umweltaktivistin und hat als Enthüllungsjournalistin verdeckte Recherchen durchgeführt. Der Grund, warum wir keinen Hinweis auf sie finden konnten, ist der, dass sie nicht unter den Namen Meliha Kebir oder Meliha Yazar publiziert. All ihre Arbeiten erscheinen im Internet auf Aktivisten- und Umweltschutz-Websites unter dem Pseudonym ›Nixe‹. Sie hat mehrere Enthüllungsartikel über Firmen veröffentlicht, die die Umwelt verschmutzen. In zwei Fällen haben sich die Massenmedien ihrer Themen angenommen, und die von ihr beschuldigten Firmen wurden verklagt.«
Fabel setzte sich im Bett auf. Ihm tat der Kopf immer noch höllisch weh, und er zuckte bei der Anstrengung zusammen. »Genau die Art Person, die man beim Pharos-Projekt nicht in der Nähe haben möchte.«
»Ich habe Kontakt mit der psychiatrischen Anstalt aufgenommen, in der Föttinger von seinen Eltern untergebracht worden war, und es ist mir gelungen, einen Beschlagnahmebefehl für seine Unterlagen zu erwirken. Rat mal, was dann passiert ist.«
»Es ist zu einer Computerstörung gekommen, und die Unterlagen sind rätselhafterweise gelöscht worden?«
Anna war enttäuscht darüber, dass sie die Bombe nicht selbst hatte platzen lassen können. »Wild geraten?«
»Eine begründete Vermutung. Noch etwas?«
»Ja, Nicola Brüggemann ist hier, um mit dir zu sprechen.«
»Wie kommst du mit ihr zurecht?«
»Bestens. Sie ist tatsächlich eine gute Polizistin.«
»Ist das alles?«
Anna hob die Schultern. »Nein, noch eine Sache. Fabian Menke hat angerufen, um abzusagen. Anscheinend wollte er sich heute mit dir treffen, aber ihm ist etwas dazwischengekommen. Ob dir derselbe Ort und dieselbe Zeit morgen passen würden?«
Fabel runzelte die Stirn. »Ich war zu dem Treffen mit ihm unterwegs, als ich in den Fluss geschoben wurde.«
»Bist du in der Lage, dich für morgen mit ihm zu verabreden?«
»Sie haben mir doch bloß eine Nadel wegen Tetanus in den Hintern gejagt. Sonst geht’s mir gut. Bin ein bisschen durchgerüttelt, mehr nicht.«
»Sie wollen dich über Nacht zur Beobachtung hierbehalten.«
»Das können sie auch aus der Entfernung machen. Könntest du mir meine Kleidung holen, während ich mit Nicola spreche? Susanne hat mir neue Sachen mitgebracht. Und beeil dich, bevor sie zurückkommt. Sie wird wollen, dass ich hierbleibe.«
»Alles klar, Jan?«, fragte Brüggemann mit ihrem tiefen Alt und setzte sich auf den Bettrand. »Hast du Zeit für eine kleine Plauderei? Oder hast du schon etwas geplant? Vielleicht ein Bad oder …«
»Sehr witzig, Nicola. Hast du dir von Anna Wolff Unterricht in Sarkasmus geben lassen?«
»Es gibt einige Dinge, die Anna mir beibringen könnte, Jan. Aber das gehört nicht dazu.«
Anna kehrte zurück und reichte ihm seine Kleidung. »Mach bloß schnell. Ich glaube, die Oberschwester weiß Bescheid und dampft gleich an. Ich muss los.«
Während Anna hinausging, schnitt Fabel eine Grimasse, und Brüggemann drehte ihm den Rücken zu, damit er aufstehen und sich anziehen konnte. Der Kopf schmerzte ihm immer noch, und er war ein wenig unsicher auf den Beinen.
»Was für ein Blödsinn, dass ich den Network-Killer-Fall übernehmen soll, weil du kompromittiert bist …«, sagte Brüggemann. »Ich habe ein paar Worte mit Kriminaldirektor van Heiden gewechselt, und er stimmt mir zu, dass die Sache nach dem Mordanschlag auf dich ein Haufen Scheiße ist.«
»›Ein Haufen Scheiße‹?« Fabel grinste. »Ich nehme an, dass du dich Horst van Heiden gegenüber etwas anders ausgedrückt hast. Übrigens bin ich fertig.«
Sie drehte sich um. »Ich habe mich genauso ausgedrückt. Weißt du, für einen Beamten mit einer so langen Dienstzeit, der allerlei erlebt haben muss, ist er wirklich sehr leicht zu schockieren. Jedenfalls meint er auch, dass diejenigen, die versuchen, dich zu belasten, nun ein direkteres Verfahren gewählt haben. Deshalb ist er damit einverstanden, dass du die Ermittlung wieder leitest.«
»Möchtest du aussteigen?«, fragte Fabel.
»Nicht unbedingt. Ich stecke mitten in dem Fall und möchte weitermachen. Unter deiner Leitung natürlich. Wenn du nichts dagegen hast. Außerdem ist das ja sowieso passiert. Inoffiziell.«
»Wie hat das Team für dich gearbeitet?«
»Wunderbar. Du hast eine tolle Truppe zusammengestellt, Jan. Werner ist ein Star. Dirk, Henk, Thomas und die anderen sind wirklich gut. Anna kann ein bisschen … quirlig sein.« Sie grinste.
»Nicola, ist das eine Bewerbung?«
»Kann sein, Jan. Ich weiß, dass dir eine Führungskraft fehlt, seit Maria Klee …« Sie brach ab. Alle hatten gelernt, auf Zehenspitzen um das, was Maria Klee zugestoßen war, herumzuschleichen. »Wir beide haben immer gut zusammengearbeitet. Für mich wäre es eine nützliche Herausforderung, und du könntest Unterstützung gebrauchen. Aber wenn du meinst, dass ich der Sache nicht gewachsen bin …«
»Sei nicht albern, Nicola. Du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte. Aber du hast dein eigenes Team. Bist du sicher, dass du wieder die zweite Geige spielen willst?«
»Dein Team ist bundesweit bekannt, Jan. Niemand wird meinen, dass es ein Rückschritt für mich ist. Und es gibt eine Grenze dafür, wie lange man in der Abteilung für Verbrechen an Kindern arbeiten kann, bevor es einem wirklich zu schaffen macht.«
Fabel nickte. Er konnte es sich vorstellen. Die Abteilung befand sich im selben Stockwerk wie die Mordkommission, und Fabel ging häufig an ihr vorbei. Ein Raum, der sich auffällig hell und bunt von der Farbgebung des übrigen Präsidiums abhob, war – mit Spielzeug und Büchern – als Kinderzimmer eingerichtet. Es diente dazu, Kindern, die hierhergebracht wurden, die Nervosität zu nehmen. Hier war es ungefährlich, ein Kind zu sein. Fabel dachte immer wieder daran, welchen Preis alle Gäste zahlen mussten, bevor sie in dem Zimmer spielen durften.
»Übrigens habe ich auch Erfahrung im Umgang mit dem Computerfreak Kroeger. Wie ich höre, versteht ihr euch nicht besonders gut. Ich arbeite in meiner Abteilung eng mit ihm zusammen. Manchmal ist er unbezahlbar, und wir kommen gut miteinander aus. Wenn ich mich weiter mit dem Network-Killer-Fall beschäftige, könnte ich vielleicht eine konstruktivere Verbindung zum IT-Team herstellen.«
»Ach ja … ich brauche dich wegen deiner sozialen Kompetenz.« Fabel lächelte. »Okay, Nicola, lass mich mit dem Kriminaldirektor darüber reden. Selbstverständlich würde ich gern auf deine Erfahrung und deine Fähigkeiten zurückgreifen, aber Herr van Heiden wird einen Ersatz für dich finden müssen.«
»Meine Stellvertreterin steht bereit, aber natürlich muss dann ein Ersatz für sie gefunden werden.«
»Abgesehen davon, dass du mir deinen Werdegang anpreisen wolltest – gab es noch etwas anderes?«
»Ja. Während du dein Gesundheitsbad in der Elbe genommen hast, habe ich den Autopsiebericht über Julia Helling, das neueste Opfer des Network-Killers, durchgelesen. Ich verstehe einfach nicht, wieso der Mörder sie kühl gelagert hat. Wie du bereits sagtest, es passt nicht ins Bild. Warum sollte er versuchen, uns über den Zeitpunkt ihres Todes im Unklaren zu lassen?«
»Es war nicht der Mörder, der sie kühl gelagert hat. Nicola, ich glaube, dass ich nun alles auf die Reihe kriege. Aber ich kann nichts beweisen. Ich werde das Team zusammenrufen und das durchgehen, was sich meiner Meinung nach abspielt. Vorher muss ich allerdings noch mit Flemming reden, dem Mann, der mich aus dem Fluss gezogen hat.«
Susanne kam ins Zimmer zurück und begrüßte Nicola. Sie kannten einander seit einiger Zeit, denn Susanne erstellte für Nicolas Abteilung psychologische Gutachten sowohl über die Opfer als auch über die Verdächtigen. Ihr Gruß wurde durch ihre finstere Miene gedämpft, als sie sah, dass Fabel sich angezogen hatte. Er hob um Verzeihung bittend die Hände, und sie stritten sich eine Weile über die Vor- und Nachteile seiner Absicht, das Krankenhaus auf eigene Verantwortung zu verlassen. Schließlich gab Susanne es auf.
»Am besten nehmen wir mein Auto«, sagte sie, wobei ihr Tonfall ihren Missmut nicht verbarg.
»Mein Auto …« Fabel sah plötzlich bestürzt aus, als sei ihm gerade erst bewusst geworden, dass sein BMW-Cabriolet auf dem Grund der Elbe lag.
»Fahr bloß selbst, Susanne, wenn du nicht zu Hause haltgemacht hast, um Deinen Badeanzug zu holen …« Als weder Fabel noch Susanne lachten, fuhr Brüggemann fort: »Zurzeit wird dort unten ein Kran eingesetzt. Lars Kreysig kümmert sich persönlich darum, dein Auto herauszuholen, aber es ist ein Totalschaden.«
»Ich habe den Wagen geliebt«, sagte Fabel melancholisch.
»Dann hättest du nicht versuchen sollen, über Wasser zu fahren«, meinte Brüggemann. »Ich weiß, im Präsidium denken alle, dass du darauf wandeln kannst, aber …«
Fabel lächelte sarkastisch, bevor er sich an Susanne wandte. »Nach allem, was passiert ist, sollten wir uns besser zurückbegleiten lassen. Ich möchte, dass auch die Wohnung überprüft wird. Nur noch eine Minute, Susanne. Ich muss mit dem Mann reden, der mir den Hals gerettet hat.«
Flemming wartete im Empfangsbereich auf Fabel. Er trug einen dunkelblauen Overall und schlürfte Kaffee aus einem Styroporbecher.
»Den habe ich dem Krankenhaus abgebettelt«, erklärte er und zupfte an dem Overall. Er grinste. »Ich werde Ihnen die Rechnung für die Reinigung meines Anzugs schicken.«
»Schicken Sie mir ruhig die Rechnung für einen neuen Anzug. Ich dachte, dass es mit mir vorbei ist. Wie kann ich Ihnen nur danken?«
»Armani wäre kein schlechter Anfang.« Flemmings Grinsen wurde breiter. Er war ein großer Mann mit mächtigen Schultern, doch einer schlanken Figur. Anscheinend betrachtete er seine Fitness nicht nur als Hobby. Fabel schätzte sein Alter auf Mitte vierzig. Unter den dunklen Locken zog sich eine Narbe bis zum Ende seiner Augenbraue.
»Was für eine Ausbildung haben Sie?«, fragte Fabel. »Ich meine, vor Seamark International.«
»Zehn Jahre bei der Kieler Hafenpolizei. Davor Kampfschwimmer-Kompanie.«
Fabel hob die Augenbrauen. »Dann war dies mein Glückstag.« Die Kampfschwimmer gehörten zu den Spezialkräften der Deutschen Marine. »Wie lange?«
»Zwölf Jahre. Um sich für die Kompanie zu qualifizieren, muss man in der Lage sein, mindestens dreißig Meter ohne Atemgerät unter Wasser zu schwimmen und mindestens sechzig Sekunden die Luft anzuhalten. Also war es eine Kleinigkeit, ins Wasser zu springen und Sie rauszufischen.«
»Sie können mir glauben«, sagte Fabel, »für mich war es keine Kleinigkeit. Darf ich Ihnen noch einen Kaffee holen?«
»Nein danke.«
Nach diesem Austausch von Nettigkeiten wurde Fabels Tonfall geschäftsmäßiger. »Warum genau beschatten Sie mich seit zwei Wochen?«
»Sie haben mich schon vor so langer Zeit entdeckt?« Flemming lachte leise. »Ich bin wohl nicht mehr auf Zack.«
»Also?«
»Mustafa Kebir ist nicht nur ein Kunde, sondern auch ein Freund von mir. Er kennt meine Vorgeschichte, und als seine Nichte verschwand, ist er zu mir gekommen. Natürlich habe ich ihm als Erstes geraten, zur Polizei zu gehen, aber er glaubte, dass Meliha nicht damit einverstanden sein würde. Sie misstraut dem Establishment.«
»Wissen Sie, dass es ein schweres Vergehen ist, sich unbefugt als Polizist auszugeben?«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden, Herr Fabel.« Flemmings Miene blieb offen und arglos. Er ist gut, dachte Fabel.
»Jemand hatte die Frechheit, ins Butenfeld hineinzuspazieren, ein Abzeichen der Polizei Schleswig-Holstein hochzuhalten und sich den Rumpf zeigen zu lassen, der nach dem Sturm am Fischmarkt angeschwemmt worden ist. Ich dachte, es sei einer vom Pharos-Projekt, aber nun …«
Flemming zuckte die Achseln und trank einen Schluck Kaffee.
»Ist es nicht ein Riesenzufall, dass ›Kommissar Höner‹ einen Kieler Ausweis hatte. Ausgerechnet einen von dort, wo Sie gedient haben … Hören Sie gut zu, Herr Flemming.« Fabel blickte dem großen Mann direkt ins Gesicht. »Nach dem, was Sie heute für mich getan haben, möchte ich Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten. Aber ich könnte einen Sektionsgehilfen aus der Pathologie herholen und ihn fragen, ob ihn hier jemand an einen Schleswig-Holsteiner Kriminalbeamten erinnert, der sich den Rumpf ansehen wollte …«
»Okay, ich war’s. Wollte nachsehen, ob es sich um Meliha handelt.«
»Und?«
»Sie haben den Rumpf gesehen. Eine Identifizierung ist nur über die Familien-DNA möglich, was ich Ihnen überlasse, nachdem Sie nun wissen, wo Sie einen Familienangehörigen finden können.«
»Aber was sagt Ihr Instinkt?«
»Gar nichts. Der Torso war schon entgast worden, damit er nicht explodierte, aber er war immer noch ziemlich aufgebläht. Es hätte Meliha sein können oder auch jemand anders. Sie können sich denken, dass ich im Lauf der Jahre eine Menge Wasserleichen gesehen habe, und sie sind immer sehr schwer einzuschätzen. Der Rumpf vom Fischmarkt ist unzweifelhaft sehr lange im Wasser gewesen. Und je länger das gedauert hat, desto schwerer lässt sich das Alter bestimmen. Mein Täuschungsmanöver hat mir also nichts gebracht.«
»Schön. Ich werde einen DNA-Vergleich mit Herrn Kebir veranlassen. Und bitte halten Sie sich so lange aus den Ermittlungen der Polizei raus.«
Flemming seufzte, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »In Ordnung. Aber wenn ich irgendetwas tun kann …, dann möchte ich, dass Sie mir Bescheid geben.«
»Dafür bin ich dankbar«, sagte Fabel. »Sie können damit anfangen, indem Sie mir alles erzählen, was Sie über Meliha Kebir wissen …«
Am folgenden Tag erschien Fabel sehr früh im Präsidium. Er war aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil er wusste, dass am Vortag etwas Schlimmes passiert war, doch für ein paar Sekunden konnte er sich nicht an die Einzelheiten erinnern. Kalten Schweiß auf der Stirn, hatte er aufrecht im Bett gesessen, bis sich alles zusammenfügte.
Susanne hatte sich schon immer Sorgen über den Stress gemacht, dem Fabel durch seine Arbeit ausgesetzt war. Wegen der Albträume, die ihn fast jede Nacht quälten, hatte er einmal ernsthaft daran gedacht, seinen Posten bei der Polizei Hamburg aufzugeben. Aber Susannes Gesichtsausdruck an diesem Morgen – eher Furcht als Besorgnis – hatte ihn all ihre früheren Emotionen vergessen lassen. Jemand hatte es fast geschafft, ihn zu ermorden.
Beim Abschied klammerte Susanne sich an ihn. Sie arbeitete im Institut für Rechtsmedizin und hatte ihn – im Unterschied zu ihrem gewöhnlichen Tagesablauf – als Ersten am Präsidium abgesetzt. Und sie war pünktlich gewesen, was Fabel ganz besonders nervös machte.
In der Mordkommission sah Fabel sich grimmiger Entschlossenheit gegenüber. Das gesamte Team war anwesend, sogar die Beamten, die dienstfrei hatten. Anscheinend hatte Nicola Brüggemann alle herbeigerufen und informell über die Ereignisse unterrichtet. Mehrere traten auf Fabel zu, erkundigten sich nach seinem Befinden und sicherten ihm, jeder mit angemessener Würde, ihre Unterstützung zu. Fabel bemerkte, dass eine kugelsichere Kevlar-Weste auf dem Schreibtisch hinter Nicola Brüggemann stand.
»Wir haben es durchgesprochen, Chef«, sagte Brüggemann mit harter Miene, »und wir sind der Meinung, dass du zusätzlichen Schutz benötigst. Werner …« Sie trat beiseite, sodass Fabel die Schutzweste im Blick hatte. Werner zog die Weste an sich wie ein Bühnenzauberer, der das Tuch von einem Käfig mit gerade unsichtbar gewordenen Tauben reißt. Das Team brach in Gelächter aus, denn auf dem Schreibtisch, bis dahin von der kugelsicheren Weste verborgen, lag ein Paar hellgelber aufblasbarer Schwimmflügel, beide in Form eines Entchens mit Hals, Kopf und rotem Schnabel.
Lachend schlüpfte Fabel aus dem Jackett und zog die Schwimmflügel über seine Hemdsärmel. Dann wurde er sich einer plötzlichen Nüchternheit im Zimmer bewusst, wandte den Kopf und sah Kriminaldirektor van Heiden im Türrahmen stehen.
»Herr Fabel … auf ein Wort.«
Fabel streifte die Schwimmflügel verlegen ab, ignorierte sein grinsendes Team und geleitete van Heiden in sein Büro.
Es war ein recht kurzes Gespräch, und Fabel begriff, dass dies die Art und Weise war, mit der van Heiden seinen Beistand für ihn deutlich machen wollte. Der Kriminaldirektor bestätigte, was Fabel bereits im Krankenhaus von Nicola Brüggemann gehört hatte: dass er nun wieder für alle Ermittlungen zuständig sei, dass er sämtliche notwendigen Maßnahmen ergreifen und die nötigen Mittel anfordern könne. Anscheinend war van Heiden der Situation noch weniger gewachsen als vorher, doch jemand hatte versucht, einen seiner Leute zu ermorden, und dadurch war der polizeiliche Instinkt des Kriminaldirektors geweckt worden.
»Ich verstehe einfach nicht, was hier vorgeht«, gestand van Heiden aufrichtig bestürzt.
»Ich verstehe es«, erklärte Fabel. »Deshalb bin ich in den Fluss geschoben worden. Noch kann ich nichts davon beweisen, und ich bezweifle, dass wir je in der Lage sein werden, alles oder auch nur ein Teil davon zu belegen. Aber da die Gefahr besteht, dass jemand einen weiteren Anschlag auf mich unternimmt, werde ich Ihnen die Zusammenhänge erläutern.«
Er brauchte mehrere Minuten für seinen Bericht. Van Heiden saß schweigend da, hörte aufmerksam zu, wirkte jedoch nach wie vor irritiert. »Ich werde alles aufschreiben«, sagte Fabel. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, schicke ich keine E-Mail, sondern lasse Ihnen den Text in Papierform in Ihrem Büro vorbeibringen. Ich weiß nicht, in welchem Maße unser E-Mail-System unterwandert ist.«
»Also glauben Sie das alles?«, fragte van Heiden.
»Ja, aber wie gesagt, ich kann es nicht beweisen. Ich habe Herrn Menke angerufen, um die Sache mit ihm zu besprechen. Wir brauchen diesmal jegliche verfügbare Hilfe.«
Aus irgendeinem Grund hatte Menke Fabel gebeten, sich weder im Präsidium noch im Büro des BfV mit ihm zu treffen, sondern am Hafen, an der Südseite des Flusses. Fabel benutzte ein Auto des Fuhrparks der Polizei und hielt hinter Menkes 3er BMW. Wirkt wie ein Firmenwagen, dachte Fabel und überlegte, ob der BfV-Agent in seiner Freizeit vielleicht Versicherungspolicen verkaufte. Beim Aussteigen wurde Fabel bewusst, dass er wieder an einem Kai, direkt am Wasser, parkte. Sein Schaudern überraschte ihn, und er merkte, dass er plötzlich Angst vor dem Wasser hatte.
»Wie geht’s?«, fragte Menke, als die beiden Männer einander die Hände schüttelten.
»Gut. Bin nur ein bisschen durcheinander nach meiner letzten Fahrt in den Hafen.«
»O Gott, ja«, sagte Menke. »Daran hätte ich denken sollen. Eine nicht sehr sensible Wahl von mir. Entschuldigung. Möchten Sie woanders hinfahren?«
»Nein, kein Problem.«
Menke ging am Kai voran. Fabels Blick fiel auf das Hamburger Gelände am anderen Ufer: von der Köhlbrandbrücke bis hin zur Speicherstadt und zur HafenCity. Diese Seite der Elbe, das Südufer, bildete den aktiven Teil der Stadt. Hinter ihnen stapelten gewaltige Kräne Fracht-Container wie Kinderbausteine zu hohen Türmen auf.
»Bevor wir anfangen …«, sagte Menke. »Haben Sie ein Handy bei sich?«
»Natürlich. Aber es ist abgeschaltet und liegt im Auto.«
»Aha. Sie wissen offensichtlich, womit wir es zu tun haben.«
»Wir haben es mit einer Idee zu tun«, erwiderte Fabel. »Nicht mit einer Realität. Mir ist klar, dass diese Leute über außerordentliche technische Mittel und Fähigkeiten verfügen, aber ich glaube immer noch, dass sie nicht so allwissend sind, wie ihre Öffentlichkeitsarbeit uns glauben machen möchte.«
»Wirklich nicht?«, meinte Menke. »Mein Geschäft ist es, andere zu beobachten, Herr Fabel. Und ich verfüge über technische Hilfsmittel, die Sie sich nicht vorstellen können. Ich kann vor der Wohnung von Leuten sitzen und genau sehen, was über ihren Computerbildschirm läuft. Damit meine ich nicht, dass ich zum Beispiel in ihr WiFi eindringe. Sie brauchen überhaupt nicht mit einem Hub oder einem Netzwerk verbunden zu sein. Wir haben sogar eine Keystroke-Analyse, die uns verrät, was in einen Computer eingetippt wird, ohne dass wir auf die Festplatte zugreifen müssen. All das geschieht extern. Oder nehmen Sie diesen Standort … Es gibt mindestens fünf Geheimdienste, die über die Technik verfügen, unser Gespräch mitzuhören. Sie haben das Material über das Pharos-Projekt gelesen, das ich Ihnen geschickt habe?«, fragte er, als sie das Ende des Piers erreichten.
»Ja. Und je mehr ich davon lese, desto überzeugter bin ich, dass das Pharos-Projekt etwas mit dem Tod von Berthold Müller-Voigt und mit dem Verschwinden von Meliha Yazar zu tun hat. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass es direkt oder indirekt für die Ermordung von Daniel Föttinger verantwortlich ist, und ich glaube den Grund zu kennen. Ich wollte mit Ihnen reden, weil Sie mir vielleicht helfen können, das Puzzle im Fall Föttinger zusammenzufügen.«
»Ich werde tun, was ich kann, Herr Fabel.«
Fabel nickte dankbar. »Wir haben eine Leiche aus dem Fluss gefischt, und meiner Meinung nach ist es der Motorradfahrer, der an dem Anschlag auf Föttinger beteiligt war. Es ist der Mann, über den ich Ihnen eine Notiz geschickt habe: Harald Jaburg.«
»Ich weiß. Sie haben damit recht, dass Föttingers Ermordung indirekt gesteuert wurde.« Menke schaute auf das Wasser hinaus, bevor er sich wieder Fabel zuwandte. »Verstehen Sie etwas von Quantenphysik? Ich meine von Überlagerung, Stringtheorie, holografischem Prinzip und so weiter?«
»Mit einem Wort: nein.«
»Die Quantentheorie beinhaltet Ideen, die Ihnen Kopfschmerzen bereiten würden. Ich weiß nicht, ob irgendjemand sie wirklich begreift, aber jede Sekte, jeder Straßenecken-Messias, jeder New-Age-Guru und jeder sonstige Spinner beruft sich auf diese Theorie, um seinen verrückten Anschauungen eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen. Und sie locken die Labileren in unserer Gesellschaft damit in die Falle.« Menke zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und hielt es Fabel hin, der den Kopf schüttelte. »Harald Jaburg ist für das Bundesamt tatsächlich von Interesse. Sobald der Name im System erschien, bin ich benachrichtigt worden. Er steht auf unserer Liste: als Mitglied der Beschützer Gaias, einer extremistischen Umweltschutzgruppe.«
»Ist das eine der extremistischen Umweltschutzgruppen, über die Sie mit Müller-Voigt nicht detailliert sprechen wollten?«, fragte Fabel.
»Genau. Diese Arbeit erzeugt einen gewissen Verfolgungswahn. Die Beschützer Gaias befürworten Direktmaßnahmen gegen jeden Einzelnen und gegen jede Gruppe oder Organisation, die ihrer Ansicht nach die Umwelt gefährden. Bis jetzt haben sie sich überwiegend mit Protesten und kleineren Akten von Vandalismus zufrieden gegeben.«
»Zum Beispiel damit, Autos anzuzünden?«, fragte Fabel.
»Unter anderem. Nach unseren Informationen werden sie zurzeit jedoch militanter.«
»Es gibt nichts Militanteres als vier Kugeln im Schädel.«
Menke schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, es ist unwahrscheinlich, dass sie das waren. Unseres Wissens haben sie noch keinen ihrer vermeintlichen Feinde verletzt, geschweige denn interne Hinrichtungen durchgeführt. Dies ist wirklich ein seltsamer Fall. Sie haben in Ihrer Nachricht erwähnt, dass Jaburg eine auffällige Tätowierung hatte. Das grüne Gamma auf der Brust ist ihr Symbol für Gaia.«
»Die griechische Erdgöttin?«
»Dem Namen nach, ja. Aber sie beziehen sich eher auf die Gaia-Hypothese, die in den Sechzigern entwickelt wurde. Damals galt sie als absonderliche Theorie der New-Age-Bewegung, doch heute wird sie sogar von der etablierten Naturwissenschaft anerkannt. Es ist die Auffassung, dass die Biosphäre der Erde, von der wir ein Teil sind, ein gesamtheitliches Lebenssystem ist, im Grunde ein Organismus.«
»Klingt recht harmlos«, sagte Fabel.
»Mag sein, aber die Beschützer Gaias haben deutliche militärische Strukturen. Sie glauben, dass ›Gaia‹ im Sterben liegt und dass die Menschheit der dafür verantwortliche Infektionsherd ist. Die Mitglieder sehen sich als Soldaten in einem Krieg gegen die Kräfte der Globalisierung und der Industrialisierung. Und in mancher Beziehung auch gegen die Menschheit selbst. Das begründet unser Interesse an der Gruppe.«
Fabel dachte an den blassen, mageren jungen Mann auf der Rollbahre in der Pathologie zurück. »Ich glaube, jemand hat da gerade den ersten Schuss abgegeben.«
»Harald Jaburg war ein Niemand; einer der unwichtigsten Statisten. Ein Handlanger. Ein Laufbursche. Und auf keinen Fall der Typ, der einen Mord begehen würde.«
»Der Fahrer des Fluchtmotorrads?«
»Durchaus möglich. Nach unseren Informationen hat Jaburg mehrere Male mit einem gewissen Niels Freese, der von einem ganz anderen Schlag ist, zusammen agiert. Über Herrn Freese wissen wir sogar mehr als über Jaburg.«
»Wieso ist er von einem ganz anderen Schlag?«
»Freese hat eine schräge Weltsicht. Er ist unberechenbar, gewalttätig. Und er leidet unter schweren psychischen Störungen.«
»Ist es unwahrscheinlich, dass er das Attentat im Schanzenviertel geplant und ausgeführt hat?«
»Das würde ich nicht sagen. Keineswegs. Freese gilt als behindert. Hirnschaden. Aber das scheint seine Intelligenz nicht zu beeinträchtigen. Und er kann weitgehend normal auftreten. Aber er hat alle möglichen anderen Probleme, hauptsächlich neurologischer Art, von denen manche ihn wahnhaft werden lassen. Trotz aller Klugheit ist er höchst anfällig für Manipulation und Suggestion. Bei seinem Geisteszustand kann er von fast allem überzeugt werden, wenn es ihm richtig klargemacht wird und zu seiner sonderbaren Weltanschauung passt.«
»Welche Probleme hat er denn?«, fragte Fabel. »Konkret, meine ich.«
»Ein wirklich tragischer Fall. Er erlebt die Realität anders als wir Übrigen, denn er leidet unter Promnesie, einer äußerst beunruhigenden Befindlichkeit, die mit einem permanenten Déja-vu zu vergleichen ist. Und er hat häufige Episoden reduplikativer Paramnesie, wie die Klapsärzte es nennen. Wenn er sich in diesem Zustand befindet, glaubt der arme Wurm, jemand habe ihn aus der realen Welt entführt und eine perfekte, doch gefälschte Nachbildung um ihn herum aufgebaut.«
»Ich werde meine Partnerin danach fragen. Sie gehört übrigens zu den Klapsärzten.«
»Tatsächlich?« Menke wirkte nicht allzu verlegen. »Na ja, dann kann sie Ihnen bestimmt mehr über das Krankheitsbild sagen als ich. Wie auch immer, dadurch wird Freese beeinflussbar, wenn man seine Wahnvorstellungen anspricht. Nicht kontrollierbar, sondern beeinflussbar. Sein Zustand macht ihn zu einer leichten Beute für alle, die den faulen Zauber über Quantenrealitäten und Umwelt-Singularitäten verbreiten wollen.«
»Solche Dinge, wie sie von den Beschützern Gaias abgesondert werden?«
»Und vom Pharos-Projekt.«
»Da gibt es eine Verbindung?«
»Keine, die wir nachweisen könnten.« Menke unterbrach sich, und die beiden Männer beobachteten einen Frachter, der, unglaublich hoch mit Containern beladen, geräuschlos vorbeizog. »Allerdings liegen uns Hinweise darauf vor, dass die Beschützer Gaias in Wirklichkeit ein direkt kontrollierter Ableger des Pharos-Projekts sind.«
»Weichen die Grundsätze nicht völlig voneinander ab?«
Menke reichte Fabel ein Blatt Papier mit einer handgeschriebenen Notiz.
»Dies ist die letzte uns bekannte Adresse von Niels Freese. Den zweiten Namen kennt niemand außerhalb des BfV … und nun auch außer Ihnen. Es ist der Name des Mannes, den wir für den Hamburger Kommandeur der Beschützer Gaias halten. Wenn Freese den Mordanschlag auf Föttinger ausgeführt hat – ein großes ›Wenn‹ –, dann ist der Befehl von diesem Mann erteilt worden.«
»Jens Markull …«, las Fabel laut vor. »Warum die Geheimnistuerei um seinen Namen?«
»Er ist … war einer von uns. Sie haben angedeutet, dass vermutlich Unterwanderer, verdeckte Ermittler, für uns arbeiten. Tja, das stimmt. Er war einer von ihnen.«
»Er ist BfV-Beamter?«
»Nein. Markull ist einfach jemand, der sich dem Meistbietenden verkauft. Aber irgendetwas scheint geschehen zu sein, das ihn veranlasst hat, sich zurückzuziehen. Wir haben wirklich gute Informationen von ihm erhalten, aber dann sind sie versiegt. Als Letztes haben wir gehört, dass er sich mit einigen Leuten vom Pharos-Projekt getroffen hat. Dann ist er plötzlich zum Hamburger Kommandeur der Beschützer Gaias befördert worden und scheint nun nicht mehr mit uns reden zu wollen.«
Fabel steckte sich den Zettel in die Tasche, und die beiden Männer gingen zu ihren Autos zurück.
»Ich habe noch eine Frage zu Niels Freese«, sagte Fabel.
»Nur zu.«
»Seine neurologischen Probleme – gehört auch ein Hinken dazu?«
Menke blieb stehen und sah Fabel mit überraschter Miene an. »Ja, er hinkt tatsächlich. Die Folge einer leichten Lähmung, die durch einen Sauerstoffentzug bei seiner Geburt verursacht wurde.«