26.

 

Wie sich herausstellte, brauchten sie nicht gewaltsam in Reischs Haus einzudringen. Frau Rössing, seine Betreuerin, erschien, gerade als Fabel eintraf, mit einem Schlüssel. Ihre Miene spiegelte aufrichtige Besorgnis wider. »Heute Morgen ging es ihm noch gut«, sagte sie, während sie sich mit dem Schlüsselbund abmühte.

»Warten Sie hier«, sagte Anna, nachdem Frau Rössing die Tür aufgeschlossen hatte. »Wir müssen als Erste reingehen.«

Sie fanden Reisch genau dort vor, wo Fabel bei seinem letzten Besuch mit ihm gesprochen hatte: Er saß am Tisch und starrte den Bildschirm seines Laptops an. Mit dem Unterschied, dass Reisch den Bildschirm nun durch den durchsichtigen Kunststoff eines Plastikbeutels anstarrte, der seinen Kopf umhüllte und am Hals mit einer Schnur zugebunden war. Der große Beutel blähte sich, als wäre er mit Luft vollgepumpt worden. Fabel musste an einen überdimensionalen Raumfahrerhelm oder an die Haube eines Kontaminationsanzugs denken. Reisch saß immer noch aufrecht da, denn die Nackenstütze seines Rollstuhls hinderte ihn daran, zusammenzusacken.

Fabel presste den Zeigefinger an Reischs Hals, genau unter der Stelle, wo die Schnur fest zusammengezogen worden war. Er schüttelte den Kopf.

»Scheiße …« Anna betrachtete den Toten. »Glaubst du, dass ihn jemand wegen seiner Verbindung zu Virtual Dimension ermordet hat?«

Fabel antwortete nicht, sondern ließ sein Handy aufschnappen und rief das Präsidium an. Er fragte, wer Spurensicherungsdienst habe.

»Lass die Betreuerin nicht rein, Anna«, sagte er leise, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Aber sie soll wissen, dass Reisch verstorben ist. Holger Brauner ist mit seinem Team unterwegs.«

Anna und der Schutzpolizist verließen das Zimmer, und Fabel musterte Reischs Schreibtisch genauer. Auf der Platte lag ein Päckchen, das unordentlich aufgerissen worden war. Daneben stand ein Gefäß, das Fabel an einen kleinen Sauerstoffkanister mit einem daran befestigten Schlauch erinnerte. Er zog einen Latexhandschuh aus seiner Jackentasche und benutzte ihn als Schutz, während er den Kanister auf die andere Seite rollte. Darauf stand das Symbol He. Nicht Sauerstoff, sondern Helium.

Fabel blickte auf den Schirm des Laptops. Während Reisch starb, war er in Virtual Dimension eingeloggt gewesen. Nun wanderte sein Avatar ziellos durch eine surrealistisch-realistische Welt, die aus Computergrafiken bestand. Dies war das Letzte, was sein sterbendes Gehirn wahrgenommen hatte. Selbst jetzt machte Reisch noch den Eindruck eines Mannes, der sein kybernetisches Alter Ego beobachtete.

Nach der Ankunft Brauners und seines Teams ging Fabel zu Anna und dem Schutzpolizisten vor dem Haus. Nach nur fünfzehn Minuten rief Brauner ihn zurück ins Wohnzimmer.

»Diese Sache kannst du vergessen, wenn du mich fragst, Jan«, sagte er. »Natürlich musst du auf die Autopsie warten, aber das hier ist kein Mord. Es ist Selbstmord, und der interessiert dich nicht.«

»Und wer hat ihm den Beutel um den Hals gebunden? Wenn er es selbst getan hätte, dann hätte sein Überlebensinstinkt doch bei den ersten Anzeichen des Erstickens eingesetzt.«

»Nein, Jan. Das ist ein sogenannter Exit-Bag. Teil eines Selbstmordpakets. Die Schnur wird ohne fremde Hilfe zugezogen. Und der ›Überlebensinstinkt‹, von dem du sprichst, wird als hyperkapnische Alarmreaktion bezeichnet. Das ist die Panik, die man empfindet, wenn das CO2-Niveau im Blut gefährlich hoch wird und das Gehirn einem befiehlt, rasch wieder zu atmen. Bei ihm war das nicht der Fall. Dazu dient der Kanister: Durch ihn kann man den Beutel oder die Lunge oder beides mit einem Edelgas wie Stickstoff oder Helium füllen. Es verwirrt das Gehirn und schaltet die hyperkapnische Alarmreaktion aus. Man hat das Gefühl, normal zu atmen. Kein Schmerz, keine Panik. Dann wird man bewusstlos und wacht nie wieder auf. Ob du es glaubst oder nicht, man kann Exit-Bags im Internet kaufen oder die Herstellungsanleitung dazu herunterladen. Wir haben das Päckchen, mit dem der Beutel geschickt wurde, eingetütet. Vielleicht findest du heraus, wo er ihn bestellt hat. Und vermutlich sind darauf Hinweise zu finden …« Er nickte in Richtung des Laptops auf dem Tisch.

»Du bist also überzeugt, dass es Selbstmord war?«

»Nichts deutet auf etwas anderes hin. Warum war er im Rollstuhl?«

»Motorneuronenkrankheit. Der arme Hund.«

»Dann mache ich ihm keine Vorwürfe. An seiner Stelle würde ich das Gleiche tun, bevor ich nicht mehr dazu in der Lage wäre. Und ehrlich gesagt sind diese Exit-Bags nicht das schlimmste Verfahren, sich zu verabschieden. Allerdings empfiehlt es sich nicht, unterbrochen und gerettet zu werden. Wenn du den Versuch überlebst, ist dein Gehirn nur noch Brei.«

Die Beamtin von Kroegers IT-Team trat ein. Sie hatte sich bei Anna gemeldet und gewartet, während die Spurensicherer ihre Arbeit machten. Zierlich, mit kastanienbraunem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, in Jeans und einer hüftlangen Freizeitjacke, entsprach sie nicht dem Bild einer Polizistin. Sie hätte eher eine Studentin auf dem Weg zur Vorlesung sein können. Etwas an ihr erinnerte Fabel an seine Tochter Gabi, die ebenfalls kastanienbraune Haare hatte und sich überlegte, wie ihr Vater eine Polizeilaufbahn einzuschlagen. Fabel bemerkte, dass die junge Frau sich Mühe gab, den Toten im Rollstuhl nicht anzusehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, Herr Hauptkommissar. Entschuldigung.« Sie runzelte die Stirn. »Ich hätte gern gewusst, ob wir den Laptop immer noch untersuchen sollen?«

»Natürlich«, sagte Fabel. Er betrachtete erneut den Bildschirm. Thorsten66, Reischs Avatar, spazierte weiterhin durch die Kunstwelt von New Venice in Virtual Dimension. In einer Ecke des Schirmes, unter dem Foto des muskulösen jungen Mannes, den Reisch gewählt hatte, weil er ihn an sein früheres gesundes Ich erinnerte, erschienen Nachrichten von anderen Benutzern, die Thorsten66 zu Partys an den Lagunen oder zur Teilnahme an den Olympischen Spielen von New Venice einluden. Es war kein Zufall, dass Reisch, während er starb, gerade dieses Bild vor sich gehabt hatte. Vielleicht hatte er wirklich geglaubt, sich im Moment des Todes durch eine Willensanstrengung in jene nachgemachte, doch unendlich angenehmere Realität versetzen zu können.

Die junge Beamtin beugte sich vor, um den Laptop zu schließen und mitzunehmen.

»Lassen Sie ihn stehen«, sagte Fabel. Dann fuhr er mit sanfterer Stimme fort: »Lassen Sie ihn eingeschaltet. Ich bringe ihn in einer Minute nach draußen.«

 

Auf der Fahrt zum Präsidium blickte Fabel immer wieder in den Rückspiegel. Da ihm kein VW-Geländewagen mehr zu folgen schien, fragte er sich, ob Paranoia ansteckend war. Er fand es immer wieder seltsam, welche Einzelheiten seiner Arbeit ihm zu schaffen machten: nicht unbedingt die Begegnung mit Gewalt und Grauen oder mit den schlimmsten Seiten der menschlichen Natur, sondern nun, als er in Richtung Alsterdorf fuhr, das Bild des sterbenden Reisch, der vor einem Computer saß und sich wünschte, Teil einer Lüge zu sein. Am stärksten bewegten Fabel der Kummer, die Verletzlichkeit und die Verzweiflung, die er bei seiner täglichen Arbeit sah.

Das ganze Team war wieder versammelt, und wie üblich ging man die Ermittlungen durch und besprach die neuen Informationen zu jedem Mord miteinander. Wie mit van Heiden abgesprochen, leitete Nicola Brüggemann nun die Untersuchungen im Network-Killer-Fall.

Brüggemann besaß eine Figur, die Fabels Mutter als »mollig« beschönigt hätte. Aber die Hauptkommissarin von der Arbeitsgruppe Verbrechen an Kindern war keineswegs anschmiegsam. Ihre Pfunde verteilten sich über eine Statur, die mindestens einen Meter achtzig groß war, und ihre Schultern hätten einem amerikanischen Profi-Footballer zur Ehre gereicht. Ihr schwarzes Haar, an den Seiten kurz und oben üppig, unterstrich ihr männliches Aussehen. Sie war, wie Fabel wusste, eine geradlinige Holsteinerin, deren Benehmen man als schroff und deren Humor man als beißend bezeichnen konnte. Ihr fehlte die Widerborstigkeit, auf die Fabel regelmäßig bei Anna stieß; stattdessen verfügte sie über einen kompromisslosen, direkten Professionalismus. Im Polizeigeschäft stand Nicola Brüggemann für die schnörkellose Variante. Fabel hatte großen Respekt vor ihr als Kollegin. Während sie die Fortschritte im Network-Killer-Fall schilderte, war er dankbar dafür, dass sie ihn demonstrativ bat, ihre Zuteilung von Mitteln und Personen zu genehmigen. Sie wollte damit deutlich machen, dass Fabel immer noch die Verantwortung trug.

Nach Brüggemanns Zusammenfassung umriss Fabel kurz die Geschehnisse in Reischs Haus in Schiffbek. Es sei unwahrscheinlich, dass sich aus ihnen Konsequenzen für die anderen Ermittlungen ergaben.

Thomas Glasmacher und Dirk Hechtner bildeten ein ungleiches Team: Glasmacher war groß, blond und kräftig, Hechtner klein, dunkelhaarig und schmächtig; Glasmacher war reserviert, Hechtner kontaktfreudig. Fabel hatte beide vor mehr als einem Jahr in die Mordkommission geholt und zu Partnern gemacht. Es freute ihn, wie sie zusammengewachsen waren. Dirk ergriff meistens das Wort, und nun bestätigte er, dass der vollständige Bericht über die Leiche, die an der Poppenbütteler Schleuse entdeckt worden war, eingetroffen sei. Wie die anderen Opfer war Julia Henning vergewaltigt und erwürgt worden; wiederum gab es keine fremde DNA oder sonstige Details, die das Spurensicherungsteam oder der Gerichtsmediziner hätten sicherstellen können.

Doch die Autopsie hatte noch etwas anderes enthüllt.

»Es hat den Anschein, dass sie nicht so frisch war, wie wir am Anfang dachten«, erläuterte Dirk.

»Und das bedeutet?«, fragten Nicola Brüggemann und Fabel im Chor.

»Es bedeutet, dass bei einer Blutanalyse des Opfers Hinweise auf eine Kaltlagerung gefunden wurden. Sie ist nicht eingefroren, aber bei einer sehr niedrigen Temperatur aufbewahrt worden, wie in einem Kühlhaus.«

»Jemand hat versucht, den Zeitpunkt des Todes zu vertuschen?«, fragte Fabel.

»Danach sieht es aus«, erwiderte Thomas Glasmacher. »Man kann nicht feststellen, wie lange sie im Kühlraum und wie lange sie danach bei normaler Temperatur gelagert wurde. Jedenfalls hat der Mörder offenbar versucht, uns über den Todeszeitpunkt zu täuschen. Und es ist ihm gelungen.«

»Aber warum?«, fragte Werner. »Warum jetzt? Er hat so etwas noch nie getan.«

»Es sei denn, er glaubt, einen Fehler gemacht zu haben«, sagte Dirk. »Oder vielleicht hat ihn jemand gesehen, und er versucht, den Zeitpunkt zu verfälschen, damit er nicht mit dem Tatort in Verbindung gebracht werden kann.«

Fabel dachte über Hechtners Bemerkung nach. »Möglich, aber es passt nicht zu dem, was uns über seinen Modus bekannt ist. Ich weiß nicht, Dirk, aber es ist ein seltsamer Wechsel seines Musters.«

Sie ließen das Thema vorläufig ruhen, damit Thomas Glasmacher und Dirk Hechtner ihren Bericht über das Opfer erstatten konnten. Sie hatten lediglich herausgefunden, dass Julia Henning eine hübsche, intelligente, doch zurückhaltende und ungebundene junge Anwältin gewesen war, die für eine Wirtschaftskanzlei in Hamburg arbeitete und sich hauptsächlich Urheberrechtsstreitigkeiten widmete. Thomas und Dirk hatten mit Julias Eltern, Kollegen und ihren relativ wenigen Freunden gesprochen. Trotz ihrer Attraktivität hatte Julia kaum feste Beziehungen zu Männern gehabt und war zur Zeit ihres Verschwindens mit niemandem liiert gewesen. Sie hatte in Eppendorf allein unter der Adresse gewohnt, die Fabel von der Frau im Hafen erfahren hatte, und war zum letzten Mal am Freitagnachmittag an ihrem Arbeitsplatz gesehen worden. Damit kam das ganze Wochenende für den Mordzeitpunkt in Frage.

Eines fiel auf. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung war nichts weiter gefunden worden. Erst beim Hinausgehen hatte Dirk plötzlich bemerkt, dass etwas fehlte und durch seine Abwesenheit hervortrat. Der Computer. Denn alle Opfer des Network-Killers hatten mit ihm über Social Networking Sites Kontakt gehabt.

»Also dachten wir, dass sie, wenn sie keinen Computer besaß, vielleicht ein webfähiges Handy hatte.«

»Lasst mich raten«, warf Fabel ein, »ein Handy wurde auch nicht gefunden.«

»Julia Henning muss die einzige Siebenundzwanzigjährige in Hamburg gewesen sein, die weder einen Computer noch ein Mobiltelefon besaß. Deshalb haben wir ein Spurensicherungsteam in die Wohnung geholt. Es ist ziemlich klar, dass jemand ihre Sachen mitgenommen hat, möglicherweise der Mörder.«

»Haben die Nachbarn etwas gesehen?«

Diesmal antwortete Thomas Glasmacher, der größere und ruhigere der beiden. »Nein, niemand hat etwas Ungewöhnliches bemerkt oder eine unbekannte Person beim Betreten oder Verlassen der Wohnung gesehen. Wir haben einen Schuhkarton voller Quittungen und Garantien gefunden und sind noch dabei, ihn durchzugehen. Außerdem haben wir ihre Bank um eine detaillierte Liste all ihrer Kontenabbuchungen gebeten. Ich wette, es gibt einen Dauerauftrag für Überweisungen an ihren Telefondienstleister. Aber auch wenn wir feststellen, dass sie einen Computer und ein Handy hatte, müssen wir die Geräte immer noch finden.«

Fabel stöhnte auf. Sie schienen dauernd in einem Nebel herumzutappen. »Irgendetwas ist hier anders.« Er rieb sich das Kinn. »Jemand versucht unzweifelhaft, seine Spuren zu verwischen und die Zeiten zu verfälschen. Aber wie Werner schon sagte: Warum jetzt? Warum hielt er es für notwendig, die Details in diesem Fall plötzlich zu ändern?«

Sie wandten sich dem Fall Müller-Voigt zu. Werner schilderte den bisherigen Stand der Ermittlungen. Er bestätigte das, was Fabel bereits von Astrid Bremer über die verwischten Fingerabdrücke und die am Tatort gefundenen grauen Fasern erfahren hatte. Davon abgesehen, schien auch diese Ermittlung ins Stocken geraten zu sein, obwohl Werner sich alle Mühe gab, jeglichen Verdacht, dass sein Chef an dem Mord beteiligt gewesen war, auszuräumen.

Anna Wolff nahm den Faden auf.

»Müller-Voigts geheimnisvolle Freundin ist ein kleines bisschen durchschaubarer geworden«, sagte sie. »Aber eben nur ein kleines bisschen.«

»Oh?«, fragte Fabel mit plötzlichem Interesse.

»Müller-Voigt hatte eine breite Auswahl an Restaurants, in die er Frauen einlud. Es hätte mir die Sache leichter gemacht, wenn er ein Gewohnheitstier gewesen wäre, aber ich habe alle überprüft. Niemand hat eine Frau gesehen, die Melihas Beschreibung entsprach. Dann dachte ich, dass sie vielleicht den Ton angab und entschied, wohin sie gingen. Und da sie Türkin ist, habe ich beschlossen, einige der türkischen Restaurants in der Stadt unter die Lupe zu nehmen. Ihr könnt mir glauben, es gibt eine Menge türkischer Restaurants in Hamburg. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein Bild von Müller-Voigt und eine Beschreibung von Meliha Yazar bei der Schutzpolizei zirkulieren zu lassen.

Wir sind in Elmsbüttel fündig geworden. Der Besitzer eines Restaurants am Schulterblatt im Schanzenviertel schwört, dass Müller-Voigt und Meliha dort Stammgäste waren. Er erkannte Müller-Voigts Bild, hatte aber keine Ahnung, dass er Politiker war, und er erinnert sich an Meliha, weil sie Türkisch mit ihm sprach. Wie sie ihm erzählte, stammte sie aus Silviri, an der Küste. Einige Male kam sie auch allein zum Essen, aber es gibt keine Kreditkartentransaktion, weil sie entweder bar zahlte oder Müller-Voigt die Rechnung übernahm. Leider ist das alles, mehr wusste er nicht. Allerdings ist der reguläre Kellner zurzeit im Urlaub, aber er kommt diese Woche zurück. Der Besitzer hatte den Eindruck, dass es der Frau nicht gefiel, wenn man ihr Fragen stellte. Sonst jedoch war sie sehr freundlich, und die beiden schienen ein sehr eng miteinander verbundenes Paar zu sein.«

Noch ein Amateurpsychologe unter den Kellnern, dachte Fabel. »Immerhin etwas. Nein, mehr als das. Gut gemacht, Anna. Jedenfalls können wir nun nachweisen, dass Meliha Yazar existierte.«

Er kehrte zu der förmlichen Zusammenfassung der Fälle zurück und hoffte, dass ihm etwas ins Auge springen würde. Gewöhnlich war es Aufgabe der Mordkommission, eine Gemeinsamkeit zwischen Fällen zu finden und Verbindungen herzustellen. Im Moment jedoch stolperten sie dauernd über Gemeinsamkeiten und Verbindungen, wo keine hätten vorhanden sein sollen: Der Network-Killer-Fall hatte wahrscheinlich nichts mit der zerstückelten weiblichen Leiche zu tun, die am Fischmarkt angeschwemmt worden war, aber Müller-Voigts Ermordung konnte etwas mit der Wasserleiche zu tun haben, und Daniel Föttingers Tod, möglicherweise ungeplant, hätte sich von allen anderen abheben müssen, aber es gab Verbindungen und Gemeinsamkeiten. Oder wenigstens so viele Übereinstimmungen, dass ein Zufall nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nahezu ausgeschlossen werden konnte.

Müller-Voigts verschwundene Freundin hatte Nachforschungen über das Pharos-Projekt angestellt, und die am Fischmarkt angeschwemmte Leiche war fast genauso lange im Wasser gewesen, wie Meliha vermisst wurde. Müller-Voigt gehörte dem Aufsichtsrat von Föttinger Environmental Technologies an, und sowohl Daniel als auch Kirstin Föttinger waren Mitglieder des Projekts. Sogar der Network-Killer-Fall wies durch die Firma, die Virtual Dimension entwickelt hatte, eine unerwartete, wenn auch eher zufällige Verbindung zu Pharos auf. Hinzu kam die Tatsache, dass jemand nach Kräften versucht hatte, Fabel zum Verdächtigen nicht nur im Network-Killer-Fall, sondern auch für Müller-Voigts Ermordung zu machen. Und wer immer dafür verantwortlich war, verfügte über enorme technische Fähigkeiten und Mittel. Wie das Pharos-Projekt.

»Aber was für eine Verbindung könnte zwischen dem Pharos-Projekt und Frauen bestehen, die nach dem klassischen Muster von Seriensexualstraftätern ausgewählt, vergewaltigt und erwürgt worden sind?«, fragte Nicola Brüggemann. »Ritualmorde – meinetwegen. Auch die Beseitigung von früheren Mitgliedern wäre plausibel. Aber wir wissen, dass keine dieser Frauen etwas mit dem Projekt zu tun hatte.«

»Mit der Ausnahme, dass Virtual Dimension einem Korn-Pharos-Unternehmen gehört«, sagte Werner.

»Stimmt, aber das ist kein so großer Zufall. Korn-Pharos beherrscht durch all die Firmen der Gruppe große Bereiche des Internet.«

»Was ist mit diesem Reisch, Jan?«, fragte Werner. »Sein Tod könnte als weiteres Zusammentreffen gesehen werden. Er hat Virtual Dimension ebenfalls genutzt, und wir wissen, dass er mit den toten Frauen Kontakt aufgenommen hatte. Vielleicht hat er aus einem Schuldgefühl heraus Selbstmord begangen.«

»Aber er war körperlich nicht in der Lage, solche Verbrechen zu verüben«, widersprach Fabel.

»Trotzdem glaube ich, dass Werner nicht unrecht hat«, sagte Brüggemann in ihrem tiefen Alt. »Wenn er unfähig war, die Verbrechen selbst auszuführen, könnte er trotzdem irgendwie in sie verwickelt gewesen sein. Vielleicht gehörte er zu einem Mordteam, das sich mit Blödsinn wie folie à deux oder folie à trois befasste. Vielleicht kriegte er einen Cyber-Ständer dadurch, dass ein Komplize die Tat für ihn beging.«

»Nein. Das passt nicht in den Zusammenhang, Nicola. Aber wir werden die Möglichkeit trotzdem ins Auge fassen. Die Arbeitsgruppe Cyberverbrechen hat mit einer forensischen Untersuchung seiner Festplatte begonnen. Vielleicht finden wir dort etwas. Allerdings glaube ich, dass Reisch ein armer Kerl war, dem das Schicksal die denkbar schlechtesten Karten zugeteilt hatte. Er beschloss einfach, diese Karten hinzuwerfen. Das ist jedenfalls meine Meinung.«

»Was ist mit der Generalstaatsanwaltschaft? Rückt sie bald Durchsuchungsbefehle heraus?«, fragte Henk Hermann.

»Wir haben einfach noch nicht genug Belastungsmaterial gegen das Pharos-Projekt. Ehrlich gesagt, die Generalstaatsanwaltschaft zögert, sich mit der juristischen Macht des Korn-Pharos-Konzerns anzulegen, ohne ihrer Sache völlig sicher zu sein.« Fabel seufzte. »Das ist verständlich. Der Konzern verfügt über die Mittel eines Kleinstaates. Wir müssen mehr über Pharos herausfinden. Und zwar etwas, das stichhaltig ist. Nicht mehr Indizien.«

»Es ist komisch«, meinte Henk. »Normalerweise steht ein Individuum, eine Einzelperson, an der Spitze unserer Verdächtigenliste. Aber hier geht es um eine Gruppe, dazu noch um eine ziemlich gestaltlose und anonyme Gruppe. Als wäre es ein Wirtschaftsverbrechen.«

Fabel starrte Henk an. Nach einer Weile wurde es dem Kommissar unbehaglich, und er lachte nervös. »Was ist denn?«

»Du hast recht, Henk«, sagte Fabel energisch. Er sprang auf und griff nach der Akte, die er von Menke erhalten hatte. »Verbrechen werden nicht von Körperschaften begangen. Ich habe hier irgendwo gelesen …« Er blätterte die Seiten des BfV-Berichts durch. »Hier ist es … In der Philosophie der Sekte wird die Bedeutung des Egregors, des Gruppengeistes, unterstrichen.«

Fabel las aus der Akte vor: »… der Egregor ist seit mehr als einem Jahrhundert ein Begriff des Okkultismus und des mystischen Denkens, doch das Pharos-Projekt hat seine Bedeutung aus der heutigen Managementlehre übernommen, wonach Unternehmen von einem einheitlichen Grundbewusstsein, der Corporate Culture, gekennzeichnet sind, zumindest was ihre Verantwortung und ihre Verpflichtungen betrifft. Wie alle destruktiven Sekten ist das Pharos-Projekt bemüht, den Einzelnen der Gruppe unterzuordnen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Mitglieder des Projekts einer langwierigen psychologischen Programmierung sowie einer genau zu befolgenden, detailliert festgelegten und strukturierten Tagesroutine unterworfen. Teil der Schaffung eines Gemeinschaftsgeistes ist der ausschließliche Gebrauch der englischen Sprache als Kommunikationsmittel. Dies hat das Pharos-Projekt von großen deutschen Konzernen übernommen, die alle Führungskonferenzen in englischer Sprache abhalten, selbst wenn sämtliche Anwesenden deutsche Muttersprachler sind.

Ein weiteres Element der an das Konzept der Corporate Culture angelehnten Kultur des Pharos-Projekts besteht darin, dass sämtliche Anhänger Uniformen tragen. Wegen der bundesrepublikanischen Einschränkungen der Verwendung von Uniformen durch politische oder quasipolitische Gruppen zwingt das Pharos-Projekt seine Mitglieder, lediglich identische Straßenanzüge und -kostüme zu tragen: hellgraue für die einfachen Mitglieder, dunkelgraue für die Konsolidierer und schwarze für hohe Vertreter der Organisation. Dadurch vermeidet man Konflikte mit den Gesetzen und erreicht ein Element der Anonymität, da sich die Ausstattung nur unerheblich von normaler Geschäftskleidung unterscheidet …«

Fabel klappte den Ordner zu. »Werner, könntest du Astrid Bremer bitten, uns detaillierte Angaben über die chemische Zusammensetzung der grauen Fasern zu machen, die in Müller-Voigts Haus gefunden wurden. Sie sind besonders deshalb ungewöhnlich, weil sie vollständig synthetisch zu sein scheinen. Ich würde wetten, dass das Pharos-Projekt seine Uniformen bei irgendeinem Großhändler kauft. Anna, du musst deinen Kontaktmann bei der Generalstaatsanwaltschaft becircen und ihn überzeugen, dass wir zu Vergleichszwecken einen begrenzten Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl für zwei Jacketts des Pharos-Projekts benötigen.« Fabel hielt inne und blickte zu Nicola Brüggemann hinüber.

»Nur zu«, sagte sie ohne eine Spur von Feindseligkeit. »Es ist deine Abteilung.«

»Vielen Dank.« Fabel verzog das Gesicht wie jemand, der sich daran zu erinnern versucht, wohin er seine Autoschlüssel gelegt hat. »Die Frau unten an den Docks – sie trug auch ein hellgraues Straßenkostüm.«

»Mein Gott, Jan«, sagte Brüggemann, »das ist sehr weit hergeholt. Kostüme sehen nun mal so aus.«

»Mag sein. Aber ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass sie eine Konsolidiererin war. Alles fügt sich allmählich zusammen. Die Morde des Network-Killers sind mit dem Pharos-Projekt verknüpft, aber ich kann den Grund ums Verrecken nicht herausfinden.« Er griff nach seinem Jackett an der Stuhllehne.

»Nicola, mach weiter. Ich muss weg.«

»Wohin willst du?«

»Ich werde einen Leuchtturm besichtigen.«