Ich kann keine Kreuze mehr machen. Meine Finger weigern sich einfach!«, erklärt Jenny hilflos. »Ich weiß, es sind nur zwei blöde kleine Striche über Kreuz, aber es GEHT einfach nicht. Ich befehle meiner Hand Ankreuzen hier – doch sie tut es nicht!«
Anklagend deutet sie mit der linken auf ihre rechte Hand, die zentimeternah über dem Bogen schwebt, und betrachtet ihre verkrampften Finger wie eine fremde, irgendwie falsch angebrachte Prothese.
»Du kannst die richtigen Buchstaben auch einkreisen«, entgegnet Isa gnadenlos. Jenny seufzt. Ich habe etwas mehr Mitleid. Wir leiden alle drei am Kreuz-Koller. Nur in unterschiedlicher Ausprägung. Für die zappelige Jenny ist es definitiv am schwersten, stunden- und tagelang nichts anderes zu tun als Lesen-Denken-A/B/C/D/E-Ankreuzen. Und das ohne Ablenkung; Isa und ich erlauben nicht mal, dass sie nebenbei Musik hört. Weil Jenny dann mitsingt und wir dabei partout nicht denken können.
»Komm, ich helf dir«, biete ich an und nehme ihre Stifthand wie eine Altenheimpflegerin, die einem Hundertjährigen den Löffel führt. »Du musst nur die richtige Antwort sagen, dann helfe ich dir, die zwei Strichlein zu malen.«
»A?«, fragt Jenny. Ich habe auch A angekreuzt, bin mir aber sicher, dass Jenny nur geraten hat. Als ich nicht gleich reagiere, ändert sie ihre Meinung tatsächlich in »Nein, B!« … und noch eine Sekunde später in »Quatsch, C!«
Ich setze das Kreuz bei A und sehe sie strafend an. »Es liegt nicht an deiner Hand, meine Liebe! Du befiehlst ihr nur nicht Ankreuzen HIER, sondern Ankreuzen irgendwo – und da bleibt ihr nichts anderes übrig als Befehlsverweigerung.«
»Ich hab doch A gesagt!«, empört sie sich. »Mein Gefühl war richtig – und das ist das Wichtigste«, erklärt sie zufrieden. »Ich muss also nur meiner Intuition vertrauen.«
Damit steht sie vom Tisch auf, um noch zwei Stunden mit Felix zum Baden zu fahren, bevor wir am Nachmittag zur PJ-Fortbildung der Gynäkologie müssen.
Eigentlich wäre das der Moment für den inneren Schweinehund, sich knurrend in meinen Knöchel zu verbeißen. Schließlich habe ich gewusst, dass es Antwort A ist – und Baden war ich in diesem Sommer überhaupt noch nicht. Aber ich löse den Test zu Ende. Nicht, weil auch Isa tapfer durchhält. Nicht, weil ich mit meinem Tagesergebnis unzufrieden wäre. Sondern weil unmittelbar, bevor Jenny geht, das Telefon klingelt. Alex.
»Ich habe gehört, dass gerade eine Schwimm-Expedition zum Badeschiff aufbricht«, sagt er – und bevor ich erklären kann, dass ich die Arbeit jetzt lieber nicht unterbrechen sollte, setzt er hinzu: »Aber weil du in zwei Zwischen-Lern-Stunden sicher nicht abschalten kannst und es dort tagsüber sowieso zu voll ist, dachte ich, wir fahren lieber heute Nacht hin.«
Ich mache einen winzigen Luftsprung auf der Stelle. Nein, ich schnappe nicht jedes Mal über, wenn mich jemand zum Baden einlädt. Aber es ist einfach toll, dass jemand weiß, wie ich bin – und das vollkommen in Ordnung findet.
Wir verabreden uns für nach dem Sonnenuntergang und ich schwebe an den Küchentisch zurück, um im Nullkommanix den Bogen fertig auszufüllen.
Bevor ich zur Gyn-Fortbildung fahre, empfehle ich Isa, in den zwei Nachmittagsstunden, in denen sie NICHT mit uns im Seminar sitzen muss, ein wenig in die Sonne zu gehen. Sie ist so blass.
Isa schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht, Lena. Ich hab viel zu wenig geschafft in den letzten Tagen.«
Okay, jetzt muss die strenge Tante Lena doch mal ein Machtwort sprechen. Ich setze mich wieder zu ihr; meine überarbeitete Freundin ist tausendmal wichtiger als Dr. Zhōus Fortbildung. Den Einsatz von Wehenhemmern kann ich auch nachlesen.
»Du stresst dich zu sehr«, sage ich. »Wenn du dir nicht zwischendurch Ruhe gönnst, wird es nur immer schwieriger.«
Unter ihren Augen sind tiefe Schatten. Oliver-Twist-Schatten. Mädchen-mit-den-Schwefelhölzchen-Schatten.
»Nein, Lena«, antwortet sie. »Wenn ich einen Tag konzentriert lernen könnte, würde ich mich wieder fangen. Mir hilft es nicht, Pausen zu machen; mir hilft es, meinen Plan zu erfüllen. Das beruhigt mich: zu wissen, dass ich im Zeitplan bin.«
Ich weiß, dass es einen schrecklich nervös machen kann, zu sehen, dass man sich überschätzt hat. Destruktiv-nervös. Aber Isas Plan war gut. Straff, doch nicht ZU voll. Ich habe meinen Plan nach Isas ausgearbeitet – und ich liege nicht zurück.
»Ich weiß einfach nicht, was diesmal los ist«, sagt sie, »mir wird richtig schlecht vom Arbeiten.«
Ich möchte sie umarmen und ins Bett stecken und ihr ein Bilderbuch vorlesen. Wenigstens das erste kann ich tun. »Du hast Angst. Aber das musst du nicht. Du warst immer die Beste.«
Isa macht sich los. »Nein, Lena, das ist es ja. Ich hab Angst, dass ich es nicht schaffe, WEIL ich nicht mehr lernen kann. Als ob mein Körper mich plötzlich im Stich lässt.«
»Ich kann dir heute Abend ein bisschen Stoff vorlesen«, schlage ich vor. »Dann kannst du dich mal hinlegen oder in Ruhe essen – und musst trotzdem nicht das Gefühl haben, du vertrödelst Zeit.«
»Danke«, sagt sie, »aber ich lerne nicht gut auditiv. Ich bin der visuelle Lerntyp. Und vom Essen wird mir gerade nur schlecht.« Na, dazu fällt mir auch nichts mehr ein.
Mit dem eindringlichen Rat, sich wenigstens eine Stunde Ruhe zu gönnen, verabschiede ich mich. Aber ich weiß: Isa wird sich auch heute nicht ausruhen. Sie wird noch in genau derselben Haltung über dem Lehrstoff sitzen, wenn ich am Abend zurückkomme.
Die PJ-Fortbildung mit Dr. Zhōu ist weit angenehmer als bei Dr. Thiersch. Sie lässt uns von unseren Erfahrungen auf der Gynäkologie berichten und stellt fallbezogene Zwischenfragen.
»Anders wird es in der Prüfung auch nicht ablaufen«, erklärt sie. »Im Gegensatz zu anderen Fächern können wir Sie in der Gyn ja schlecht etwas an einer Patientin vormachen lassen.«
Wir lachen pflichtschuldig und ich stelle mir nur kurz vor, wie Dr. Thiersch, die ja mit der Prüfungsgruppe mitgehen müsste, im Kreißsaal die Schwangeren zur Rede stellt, warum es so lange dauert. Ich als Baby würde mich im Mutterleib festkrallen und auch die nächsten drei Tage nicht ans Licht der Welt kommen.
Das ist der einzige Nachteil an dieser lockeren Konsultation: bei Dr. Thiersch könnten sich meine Gedanken keinen winzigen Abstecher leisten, ich würde jeden einzelnen brauchen, um ihre überschallschnellen Ausführungen einzufangen und festzuhalten. Hier aber beschäftigt sich die Hälfte meines Hirns schon wieder themenfremd. Und zwar nicht nur mit dem Bild, wie Thiersch-Satz-Raketen durch den Raum pfeifen und meine Gehirnzellen mit Fangnetzen Jagd auf sie machen. Sondern vor allem mit Alex.
Wieso hat mich seine Einladung so glücklich gemacht? Das hat doch nichts mit Tobias’ nüchterner Ein Arzt hofft nicht-Erklärung zu tun? Ich freue mich doch nicht nur, weil Alex auf mich hofft? Geht es mir insgeheim nicht auch längst so, dass es mir um jeden Moment leidtut, den wir nicht zusammen sind, weil Vernunfts-Lena dieses Zusammensein nicht für angemessen hält?
Warum war ich nicht todsterbensunglücklich über Tobias’ klare, kühle Worte und die sachliche Nicht-Liebeserklärung? Traurig, ja. Aber verzweifelt? Eher nicht.
»Und das ist das Ende«, sagt Dr. Zhōu. »Ein sauberer Schnitt.«
Sie spricht von der Nachgeburtsphase, dem Durchtrennen der Nabelschnur. Wir alle nicken. Aber ich meine es anders.
Ich brauche auch einen sauberen Schnitt. Bevor ich frei in die Welt hinausstolpere. Neben Alex.
Als ich Jenny nach der Fortbildung erkläre, warum sie nicht auf mich warten soll, zieht sie ein mitleidiges Gesicht.
»Ups«, sagt Jenny, »aber du glaubst hoffentlich nicht, dass er sich dann doch noch ins Zeug legt, um dich zu kriegen?«
Ich kann sie beruhigen. Ich erwarte nichts dergleichen. Ich will ihn schon gar nicht erpressen. Ich habe mich entschieden. Und möchte es ihm erklären. Weil er es verdient hat. Weil mir plötzlich alles klar ist.
Heute überquere ich den Flur der Inneren ganz ohne das Gefühl, mich an der ölfarbengestrichenen Wand abstützen zu müssen. Heute wünsche ich mir nicht, dass der Weg sich endlos dehnen würde oder plötzlich durch einen vom Himmel gefallenen Kometen versperrt wäre oder dass das Büro dunkel und leer ist. Heute gehe ich zielstrebig und schnell.
Ich bin hier, weil ich diese neue Lena bin, die der Fairness halber ein Gespräch führen muss, das nicht einfach, aber notwendig ist. Ich bin Alles-durchdacht-Lena. Ich habe mir Sätze zurechtgelegt. Klare, souveräne Sätze. Wir beide haben verdient, dass nichts ungeklärt und seltsam bleibt. Meine vorformulierten Sätze sind eine Diagnose, die hart ist, aber ausgesprochen werden muss. Schonend, aber ehrlich. Und Fast-Dr. Weissenbach drückt sich nicht vor so etwas.
Er öffnet die Tür, meine Füße stehen fest und sicher auf dem Boden, ich sehe ihm fast in die Augen.
»Ich würde gern kurz mit dir sprechen, wenn du Zeit hast.«
»Natürlich, Lena. Komm rein.«
Sie sind alle weg. All meine schönen klaren Sätze verpuffen mit einem armseligen Plopp und ihre Schatten schweben durch sein Büro, zum offenen Fenster hinaus, bevor ich sie einfangen und irgendwie wieder zusammensetzen kann.
Wohin ist diese starke, souveräne Ärztin verschwunden, die grade noch auf dem Flur stand und die all das Perfekt-Ausgedachte hätte sagen können?! In diesem Büro ist sie nicht. Hier steht nur eine verwirrte End-PJlerin, die sich fragt, wer ihr all den Mist eingeredet hat. Offenheit, pah – weiß irgendwer, wie schwer das ist?! Klare Verhältnisse, das sagt sich leicht – von Weitem!
Tobias sieht mich fragend an, ein wenig irritiert.
Ignorier mich einfach! Ich bin eine Topfpflanze, du erwartest doch nicht, dass ich plötzlich mit dir spreche?! Ich steh hier nur zum Anschauen – aber schau DU bitte nicht so direkt hin!
»Was gibt es denn?«, fragt er und klingt jetzt doch etwas ungeduldig. Na klar, ihm wurde ja auch verheißen, dass gleich eine Topfpflanze zu ihm spricht!
Vor seinem Fenster sinkt die Sonne langsam gen Horizont. Seit wann geht das so schnell?! Man kann ja zusehen! Wie hoch ist wohl die Chance, dass er einfach vergisst, dass ich hier bin? Dass er, wenn es dunkel geworden ist, rausgeht und in seinen Feierabend verschwindet, ohne noch mal Licht zu machen und deswegen gar nicht merkt, dass Lena, die Topfpflanze, hier mitten im Weg steht?
Die Sonne tippt an die Hochhäuser, vor dem Fenster entfaltet sich schönstes Abendrot. Irgendwo in der Pflanze regt sich ein menschlicher Gedanke. Eine schöne Erinnerung. Da war doch etwas, worauf du dich gefreut hast. Es hatte mit der Sonne zu tun.
Alex.
Nach Sonnenuntergang seid ihr verabredet. Und du möchtest nichts lieber, als bei ihm sein. Wo alles leicht und klar ist.
Bring es jetzt zu Ende, Lena, Alex wartet auf dich. Dein Vorhaben ist edel und gut. Es ist richtig. Und wenn du das jetzt schaffst, darfst du mit einem Mann, an dessen Seite du einfach du selbst sein kannst, der dich liebt und niemals beunruhigend seltsam ist, durch die Nacht zum Baden fahren.
»Vielleicht sind wir einander doch nicht so ähnlich, wie ich immer dachte«, sage ich. »Ich bin nicht so rational wie du. Oder wie ich gern wäre. Oder wie Ärzte sein sollten.«
Er schweigt und sieht mich an – und ich hole tief Luft für den Rest. »Ich wollte mich jetzt erst mal nur auf das Examen konzentrieren. Aber stattdessen, glaube ich, verliebe ich mich gerade. Es tut mir leid.«
Er versteht. Versteht, dass es nicht um ihn geht. Nicht mehr. Er nickt und wendet sich ab.
Ich könnte alles erklären. Warum ich so lange gezögert habe. Und wirklich dachte, dass wir … Und dass ich ihn immer noch über alles bewundere. Nur dass ICH anders bin als er.
Aber ich glaube, er will es nicht hören.
»Viel Glück.«
Er sagt es leise. Und ohne mich anzusehen.
Als ich aus der Klinik trete, geht die Sonne unter. Alex wartet auf mich.
»Vielleicht können wir das Baden auf eine andere Nacht verschieben?«, frage ich.
Alex nickt und bringt mich heim. Erst vor unserem Haus spricht er wieder. »Ich wollte dich nicht überfahren«, sagt er. »Du sollst nicht das Gefühl haben, dass du Zeit mit mir verbringen musst.«
Ach, Alex. Ich will nichts lieber als das. Nur heut Abend nicht.
»Ich hatte bloß einen anstrengenden Tag«, entschuldige ich mich. Stimmt doch. Nur war die Fortbildung das Allerleichteste heute.
»Und ich muss noch lernen.«
Eine ganze Menge, Alex, wenn du wüsstest wie viel. Und obendrein auch noch den ganzen Medizin-Lehrstoff.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragt er.
Ruf mich morgen an. Dann werde ich mich vorbehaltlos und überschäumend darüber freuen. Und es kaum erwarten können, dich zu sehen.
Ich schüttele den Kopf. Und bleibe sitzen.
Mir ist nicht nach Baden. Aber auch nicht danach, mit mir allein zu sein. Ich möchte einfach hier sitzen, neben dir.
Ungefähr 17 Stunden lang.
»Mach dich nicht verrückt wegen des Examens«, lächelt Alex.
Nö. Nur ein bisschen. Weil das mit dem ausschließlich auf die Prüfung konzentrieren so was von gar nicht funktioniert hat.
Alex sieht mich an. »Du wirst eine klasse Ärztin. Weil du dich überreden lässt, einem traurigen Patienten Handstände vorzuführen. Weil du alles tausendmal überdenkst, bis du dir ganz sicher bist. Was privat ganz schön an den Nerven zerrt, aber beruflich sicher prima ist, denn dadurch sinkt deine Fehlerquote bestimmt auf ein sensationelles Minimum. Weil du sagst, was du denkst und niemandem etwas vormachst. Und weil du einem trotzdem alles schönreden kannst. Weil du mutig bist und ein unnormal großes Herz hast. Und weil es jedem einfach gleich besser gehen MUSS, wenn du im Kittel zur Tür hereinstrahlst.«
Das sind alles keine Ärztinnen-Qualifikationen. Nichts davon. Aber das ist das Schönste, was mir jemals jemand gesagt hat.
»Du hast keine Ahnung, was im Arztberuf so gefragt ist«, flüstere ich stimmlos.
Alex zuckt lächelnd die Schultern. »Und falls alle anderen das nicht so sehen und diese unglaubliche Ärztin nicht haben wollen, mach ich mir trotzdem keine Sorgen«, sagt er leise. »Was immer du machst, du wirst perfekt sein.«
Er schaut mich an. Ich kann nicht mehr wegsehen. Und dann küssen wir uns, ganz ohne Zufall und anschließende Heiße-Kartoffel-Wegrutsch-Reaktion.
Als ich endlich in die Wohnung zurückstrahle, ist mir gar nicht nach Schlafen. Leise setze ich mich an meinen Schreibtisch. Ich bin die Meisterin des Kreuz-Tests. Mein Glückskuli fliegt über die Bögen, ich muss überhaupt nicht nachdenken. Als der Morgen graut, öffne ich das Fenster und fühle mich so sommerfrisch wie die Luft draußen. Dann drucke ich mir einen neuen Fragebogen aus. Ich könnte noch Tausende von Kreuzchen setzen.