Meine Zukunft hängt davon ab, wie viel ich jetzt noch schaffe«, sagt Isa, als ich sie nach neun Stunden Lernen zum Arbeitsende überreden will. Sie schlägt ein neues Buch auf, obwohl sie schon Augenringe hat wie eine Comic-Ganovenmaske.

Allmählich mache ich mir Sorgen um meine Freundinnen. Mehr als in allen Lernwochen zuvor. Isa lernt zehn Stunden am Tag. Trotz des Hormonchaos, das ihr deutlich zu schaffen macht. Sie fährt am Wochenende nach München, um sich Krankenhäuser anzuschauen – eins, in dem sie entbinden möchte und ein anderes, in dem sie sich um eine Facharztstelle bewerben will – und ich weiß, dass sie es sich auch dort nicht erlaubt, einen einzigen Tag lang mal kein Lehrbuch aufzuschlagen.

Jenny dagegen scheint kaum noch konzentriert zu arbeiten. Zumindest nicht für das Examen. Stattdessen arbeitet sie an ihrer Beziehung. Das zumindest behauptet sie, wenn sie Felix dreimal am Tag anruft.

Felix kommt weiterhin nach der Arbeit zu uns und fährt morgens von hier aus ins Labor. Wenn er abends ausgehen möchte, erklärt Jenny, dass ihr Lernpensum das nicht zulässt – geht dann aber doch mit, bis beide gemeinsam wieder nach Hause kommen.

»Sie wird es kaputt machen«, sagt Alex leise, nachdem wir einen Abend mit den beiden in einer Bar verbracht haben, an dem Jenny Felix wieder keine einzige Minute allein ließ.

Ich widerspreche, so energisch ich kann. Aber ich befürchte dasselbe.

Es ist Isa, die es endlich wagt, Jenny darauf anzusprechen. Vielleicht haben die Hormonschwankungen bewirkt, dass sie sich plötzlich traut, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie unbequem ist. Ich habe Isa noch nie so rigoros erlebt.

»Wenn du noch eine Woche so weitermachst, wirst du alles verlieren, Jenny«, sagt sie mit nie gehörter Vehemenz. »Du arbeitest nicht mehr, weil du Felix beaufsichtigst wie einen Schwerverbrecher. Und das beides wird dazu führen, dass du durch die Prüfung fällst und Felix sich am Ende noch von dir trennt.«

Jenny starrt sie an. Dann geht sie und knallt die Tür zu.

Doch in dieser Nacht schläft Felix nicht bei uns.

»Ich hab einen Riesen-Fehler gemacht«, flüstert Isa wenig später und die Tränen laufen über ihr Gesicht wie ein Wasserfall. »Ich hab sie verletzt, ganz unnötig. Statt ihr zu helfen …«

»Das war das Einzige, womit du ihr helfen konntest«, widerspreche ich.

»Sie wird mir das nicht verzeihen«, schluchzt Isa, »ich hab ihr so wehgetan.«

Ich WEISS, dass das nur die Hormone sind. Aber nach einer Stunde bin ich mit meinen Kräften am Ende. Und Isa schluchzt immer weiter … Bis sich Jennys Zimmertür öffnet und eine barsche Stimme sagt: »Das Einzige, was ich dir nie verzeihe, ist, wenn du kleine Heulkuh nicht bald damit aufhörst. Denn das tut meinem Trommelfell wirklich richtig weh!«

In dieser Sekunde verstummt Isa. Starrt Jenny an – und fängt an zu lachen. »Es tut mir leid, aber ich dachte, du drehst durch und ich muss dir ins Gewissen reden. Dabei bin ich es, die durchdreht. Weil es so schwer ist, die Hormone in den Griff zu kriegen.«

»Ist schon okay«, sagt Jenny. »Jetzt sind wir quitt.«

»Wieso?«, entgegnet Isa. »Ich BIN doch eine Heulkuh!«

Jenny nimmt sie in den Arm. »Und ich war eine MISTkuh«, antwortet sie, »ich bin einfach durchgedreht, weil es so schwer ist, mit Felix umzugehen und MICH in den Griff zu kriegen!«

Und ich stehe daneben und sehe zu, wie meine Freundinnen sich in den Armen liegen, und frage mich, ob vielleicht alles ganz anders ist und ICH diejenige bin, die durchdreht.

Leider ist das nur der Anfang von Isas Heulphase. Am nächsten Abend weint sie über die Fernsehnachrichten – und als Jenny auf einen Spielfilm umschaltet, bringt dort grade eine Nonne ein Kind zur Welt und Isas Tränen fließen noch heftiger.

»Kümmert euch gar nicht um mich«, schluchzt sie – aber das ist leichter gesagt als getan.

»Sollen wir dir was anderes ausleihen?«, fragt Jenny überfordert. »Susi und Strolch oder so was?«

Isa schüttelt den Kopf. »Bist du verrückt? Unglückliche Liebe, falsche Verdächtigungen, Hundefänger und neugeborene Welpen?! Dabei heule ich doch, dass ihr hier morgen mit einem Schlauchboot fahren könnt!«

Leider kommt der Tag, an dem es Isa auch in der Klinik erwischt. Mitten in der entspannten Übungsstunde bei Dr. Gode fängt sie an zu weinen. Und weil er entsetzt die Stunde abbricht und ihr hinterhereilt, als sie nach draußen stürmt, bleibt Isa nichts anderes übrig, als ihm zu gestehen, dass es nicht am Lehrstoff liegt. Jenny und ich kommen gerade noch rechtzeitig, um Isas verlegenes Geständnis zu hören.

»Es tut mir leid, dass ich nicht eher was gesagt habe«, entschuldigt sie sich. »Ich wusste ja nicht, dass es SO ist.«

Sie wischt sich die Tränen ab und will in den Übungsraum zurückgehen. Doch Dr. Gode rührt sich nicht.

»Gratuliere«, sagt er, aber es klingt nicht gerade ausgewählt herzlich. »Aber was tun Sie dann hier?«

Isa ist verwirrt. »Ich … lerne?«

»Und wieso?«, fragt Dr. Gode. »Wofür lernen Sie denn dann?«

»Ich mache die Prüfung jetzt trotzdem«, erklärt Isa. »Damit ich nur ein Jahr verliere.«

Dr. Gode lächelt. »Sie sind einfach großartig, Isa!«

Isa wird rot, Jenny und ich grinsen uns an. Die kalte Dusche erwischt uns alle drei mit Eiswucht.

»Warum tun Sie sich das an?«, fragt Dr. Gode. »Konzentrieren Sie sich jetzt doch lieber auf sich und das Baby! Sie werden ja doch nicht in einem Jahr wieder arbeiten.«

Isa starrt ihn an. Auch wir sind einen Moment sprachlos. DOCH, das wird sie. Das ist der Plan. Der neue, der gute, der Das-wird-kein-Spaziergang-aber-Isa-schafft-das-Plan!

Dr. Godes Lächeln wechselt ins Ungläubige, dann ins Mitleidige. »Das hatten Sie doch nicht wirklich vor?!«

Isa steht stocksteif wie eine Salzsäule.

»Das hat sie nicht nur vor«, springe ich ein, »das schafft sie.«

»Halten Sie das für besonders hilfreich?!«, schaltet sich jetzt auch Jenny ein – in genau dem strafenden Tonfall, den ich mir vorgestellt, mich aber nicht getraut habe.

»Vielleicht für realistischer, als was Sie sich vorstellen«, kontert Dr. Gode. Er wirkt nicht beleidigt. Aber ziemlich ernst.

»Sie werden ja sehen«, erklärt Jenny entschieden, wenn auch diesmal etwas zahmer. »Isa macht jetzt die Prüfung, kriegt im April ihr Baby, ruht sich dann ein bisschen aus und ist gerade rechtzeitig fertig, um den Prüflingen des nächsten Oktobers schon im September die beste Stelle wegzuschnappen.«

Es hört sich gut an. Fabelhaft. ZU gut. Ich kann es Isa ansehen. Sie ist mit Dr. Gode ins Zweifeln gekommen.

»Sie hatten doch ein Gyn-Tertial, oder?«, erkundigt sich Dr. Gode bei Jenny. »Haben Sie da mal miterlebt, wie jemand ein Baby bekommt?«

»Natürlich«, empört sich Jenny.

»Wie lang ist eine normale Babypause?«

»Isa hätte fünf Monate!« Jenny kämpft wie eine Löwin. »Ich sage doch nicht, dass sie schon mit den Absolventen vom April-Prüfungstermin wieder einsteigt!«

»Wissen Sie, wie schwer der Berufseinstieg mit Kind ist?«

»Aber sie hat einen Freund, der sich kümmern kann …«

»Kann er auch stillen? Oder unterdessen für sie in den OP gehen? Vielleicht sollte er besser kündigen, Kinder sind verdammt oft krank. Hoffentlich hat er vorher genug verdient.«

Blöd, dass ausgerechnet Dr. Gode so entschieden gegen den Plan argumentiert. Gemein, dass er ausgerechnet Jenny inquiriert.

»Wissen Sie auch, wie viele Ärztinnen nach der Babypause in den Arztberuf zurückkehren?«

Jenny schweigt.

»Es sind verdammt wenige«, sagt er. Das wäre nicht nötig gewesen. Wir wissen es.

Dr. Gode wendet sich Isa zu. Ruhig und tröstend legt er ihr die Hand auf die Schulter. Ich würde mich wegdrehen, das wäre das Letzte, was ich jetzt ertragen könnte: Mitleid und Zuspruch von jemandem, der grade alle meine Pläne (mit denen ich eine Zukunft, die ich nicht mehr ändern kann, so gestalten könnte, dass ich sie haben will) als naiven Nonsens abgetan hat.

Aber Isa dreht sich nicht weg. Sie sieht zu Boden.

»Versteh mich richtig«, sagt Dr. Gode sanft zu ihr. »Ich glaube, dass du es schaffen kannst, denn du kannst eine Menge mehr, als du dir selbst zutraust.«

Isa rührt sich nicht.

»Mach die Prüfung, wenn dir so viel daran liegt. Vielleicht ist es gut, wenn du die schon mal hinter dir hast. Aber rechne auf keinen Fall damit, dass du im September irgendwem eine Stelle wegschnappst. Du wirst nicht in einem Jahr wieder hier stehen.«

Isa schweigt.

Selbst Jenny ist still geworden. Uns ist allen klar geworden, dass Dr. Gode nicht gegen Isas Plan redet, weil er Freude an der Destruktion hat. Er meint es ernst – und trotzdem gut mit ihr.

»Vielleicht in zwei Jahren, Isa«, lächelt Dr. Gode sanft, »oder in vier. Dann komme ich nach München, um eine Fortbildung bei dir zu machen. Vielleicht lädst du mich dann zum Abendessen zu deiner Familie ein und stellst mir dein bestens geratenes Kind vor und es dreht mir eine lange Nase.«

Isa nickt. »Das wird es tun. Versprochen.«

Dr. Gode lächelt ihr zu, sie erwidert es zaghaft und traurig.

Und dann gehen wir nach Hause.

Isa sinkt an den Küchentisch – und weint los. Jenny und ich sind ratlos. Selbst ohne Schwangerschafts-Hormonchaos ist mir nach Heulen zumute. Auch wenn es hier nicht um meine Zukunft geht.

Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern
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