Ich muss meinem treulosen Freund wohl doch mal die Meinung sagen«, grinst Jenny und fuchtelt warnend mit dem Tomatenmesser. »Macht man das?! Ein Wochenende verreisen – und sich dann erst am Montagabend melden?!«

Wir stimmen ihr zu. Das ist wirklich nicht gentlemanlike.

»Wenn er nicht in den nächsten 20 Minuten anruft …«, droht sie und bringt illustrierend noch mal das Messer zum Einsatz.

Er ruft nicht an. Er steht vor der Tür. 15 Minuten später.

»Das war allerhöchste Eisenbahn«, sagt Jenny und tut ein bisschen beleidigt, als sie Felix zu uns in die Küche lotst.

Felix entschuldigt sich, muss sich aber einige Sprüche gefallen lassen. Wir unterstellen ihm ausschweifende Saufgelage und einen Ganztags-Kater, Jenny vermutet, die Karriere-Schilderungen der Ex-Mitschüler hätten Felix doch eingeschläfert – und zwar bis Montagabend. Felix lächelt zu allem, pariert aber keinen der Scherze. Er ist auffallend still. Und er sitzt bei uns in der Küche wie in einer Wartehalle, auf der Stuhlkante, unruhig, irgendwie gedrückt. Als ich mich erkundige, ob alles okay ist, nickt er. Immer noch stumm.

Irgendwann fragt er Jenny, ob sie noch ein bisschen rausgehen können. Jenny ist nicht gleich bereit, alles stehen und liegen zu lassen. Erst als Felix sie auffallend dringlich darum bittet, gibt sie nach. Auch wenn sie durchsetzt, dass die beiden sich nur in ihr Zimmer zurückziehen, weil sie nicht mitten in den Essensvorbereitungen das Haus verlassen kann.

Felix nickt und geht, ohne noch ein Wort an uns zu richten. Jenny wirft uns einen Blick zu. »Männer!«, haucht sie und verdreht die Augen. Aber ich habe das Gefühl, dass Felix irgendetwas auf der Seele liegt, das er lieber nicht in unserem Beisein besprechen möchte.

»Geh«, flüstere ich, »ich krieg das mit dem Essen schon hin.«

»Nichts da«, widerspricht Jenny, »rührt bloß nichts an! Ich bin gleich wieder da und zaubere euch gefüllte Auberginen … wenn ihr hier nichts durcheinanderbringt!«

Sie ist NICHT gleich wieder da. Auch nach einer halben Stunde nicht. Aus ihrem Zimmer ist nichts zu hören.

Nach einer Stunde haben Isa und ich wirklich Hunger. »Sollen wir mal nach ihnen sehen?«, frage ich, von meinem knurrenden Magen angestachelt.

Isa schüttelt den Kopf. »Lieber nicht. Aber ich fall auch gleich um vor Hunger – meinst du, dass sie die Tomaten wirklich alle braucht?«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass man für gefüllte Auberginen ein ganzes Kilo Tomaten benötigt, also ignorieren wir Jennys Verbot und essen ein bisschen vor. Etwas später beschließen wir, dass für Jennys Gericht sicher auch eine Paprika genügt, dass sie bestimmt nicht den ganzen Schafskäse verwenden wollte und uns sowieso nicht einleuchtet, warum auch Toastbrot für die Auberginenfüllung nötig sein sollte. Nach zwei Stunden haben wir so viel weggefuttert, dass wir unseren Übergriff ohnehin nicht mehr verheimlichen können – und machen uns aus dem restlichen Toastbrot Schafskäse-Schnittchen mit Aubergine.

Von Jenny und Felix ist nichts zu sehen oder zu hören.

»Ich werde langsam müde«, sagt Isa. »Und satt bin ich inzwischen auch. Ich glaube, ich geh schlafen. Wer weiß, was die …« In diesem Moment kommt Jenny zurück in die Küche.

»Sorry«, sagt sie. »Seid ihr verhungert?« Wir schütteln betreten die Köpfe, kommen aber nicht mehr dazu, uns zu rechtfertigen. Jenny entdeckt die dürftigen Reste unserer Plünderung … und flippt vollkommen aus.

»Verdammt«, schreit sie, greift nach einer der verbliebenen Tomaten und schleudert sie ins Spülbecken. »Da ist man EINMAL nicht da!« Eine Handvoll Pinienkerne fliegt durch die Küche und verteilt sich auf dem Fußboden. »Ich fasse es nicht!« Klatsch, ein Ei schlägt auf dem Boden auf und vermischt sich mit dem übrigen Wurfessen zu einem ekligen Brei. »Konntet ihr euch nicht eine Stunde beherrschen?!«

Ich sehe Isa an, die stocksteif auf ihrem Stuhl sitzt. Sie ringt vergeblich um eine Entschuldigung. Ich bin genauso bestürzt und biete sicher denselben Anblick; entgeistert betrachte ich Jennys Wutausbruch, absolut ratlos.

»Ich bin eine Stunde nicht da – und was macht ihr?!« Jenny hebt das Schneidebrett, als wolle sie es irgendwo zerschmettern … doch dann hält sie inne.

Felix steht in der Tür und sieht ihr zu. Jenny lässt das Brett sinken. Sie schüttelt sich leicht, als sei sie in dieser Sekunde aus einem Albtraum erwacht oder grade aus einer Millionen-Lichtjahre-Entfernung in ihren Körper zurückgekehrt.

»Ich geh dann mal«, sagt er. »Oder …« Er sieht Jenny fragend an.

»Doch, geh ruhig«, antwortet Jenny und setzt eine Miene auf, die entfernt an ein Lächeln erinnert. »Alles gut. Bis morgen.«

Felix geht einen Schritt auf sie zu, zögernd. Jenny rührt sich nicht. Er umarmt sie. Sie lässt es geschehen, steht ganz still.

Felix hält sie fest, bis Jenny ihm auf den Rücken klopft, »Wirklich, alles okay« sagt und sich aus seiner Umarmung löst.

Felix geht langsam aus der Küche, dreht sich an der Tür noch einmal um. Jenny nickt ihm zu. Das Lächeln wirkt jetzt schon etwas sicherer. Felix nickt – und dann geht er tatsächlich.

Wir hören alle drei die Tür zuklappen. Isa und ich haben noch kein Wort gesagt.

Jenny setzt sich, langsam. Sie betrachtet den Essens-Matsch auf dem Fußboden, dann sieht sie uns endlich an.

»Entschuldigung«, sagt sie wie ein guterzogenes kleines Mädchen, das im Beisein einer fremden Tante geniest hat.

Wir starren sie an, immer noch sprachlos. Jenny zerrt ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und zündet sich eine an. Und nicht mal Isa sagt etwas dagegen. Uns ist beiden klar: Das hier hatte nichts mit uns zu tun.

»Was ist los?!«, frage ich. Jenny schüttelt den Kopf. Doch ich finde, wer sich derart laut anschreien und beinahe mit Essen bewerfen lassen musste, hat ein Recht darauf, den Grund dafür zu erfahren – und sehe sie so lange an, bis sie antwortet.

»Nichts«, sagt Jenny. »Beinahe nichts.«

Dann schweigt sie einen Moment, pustet Rauchkringel und sieht ihnen nach.

»Felix hat mich betrogen.«

Wir sind beide überfordert. Jenny ist es ebenfalls. Ich dachte immer, bei einer solchen Eröffnung gäbe es nur eine angemessene Freundinnen-Reaktion: »Dieser Mistkerl«, unendliches Mitleid und »Schmeiß ihn raus«. Aber so ist es nicht. Nicht bei Felix.

Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass er das getan haben soll. Aber in diesem Punkt gibt es keinen Zweifel.

Endlich erfahren wir die ganze Geschichte. Felix hat auf dem Klassentreffen seine erste große Liebe wiedergetroffen. »Nadja.« Jenny spricht den Namen mit so viel Schmerz aus, wie eine tödliche Diagnose.

Drei Jahre hat Felix damals für sie geschwärmt, vergeblich. Dann haben sich ihre Wege getrennt. Und nun, als sie sich wiedertrafen, sind plötzlich die alten Gefühle wieder aufgeflammt. Ein Abend voller Erinnerungen … jede Menge Rührseligkeit und Alkohol … und Felix ist mit Nadja im Bett gelandet.

»Er sagt, es war wie eine Zeitreise.« Jenny lächelt knapp und bedrückt. »Plötzlich wieder mit den alten Freunden, den ganzen alten Geschichten. Aber diesmal ist alles anders, tausendmal besser, weil du erwachsen und cool geworden bist. Wie eine perfektoptimierte Variation deiner Vergangenheit.«

Jenny zündet sich die nächste Zigarette an und schweigt. Wir wissen nichts zu sagen. Ein: »Ja, das verstehe ich auch« wirkt ebenso unangebracht wie: »Du kannst doch dafür kein Verständnis haben«. Außerdem weiß ich gar nicht, für welchen der beiden Sätze ich mich entscheiden würde.

Jenny schiebt abwesend den Pinienkern-Tomaten-Eier-Matsch mit dem Fuß aus ihrem Sichtfeld und unter den Tisch, eine mechanische Bewegung, die sie teilnahmslos wiederholt, selbst als die Stelle vor ihrem Stuhl schon makellos sauber ist und glänzt.

»Ich kann diese Nadja sogar irgendwie verstehen. Ist doch klar: Da kommt plötzlich dieser attraktive Typ auf seinem Motorrad daher, witzig und lässig, tätowiert und trotzdem niedlich – und du fragst dich, warum du DEN nie wahrgenommen hast. Und dann gesteht er dir zu fortgeschrittener Stunde, dass er drei Jahre lang auf dich stand …«

Sie zündet eine neue Zigarette an der alten an und zerquetscht die aufgerauchte mit solcher Kraft im Aschenbecher, als ob sie sie nicht nur ausdrücken sondern ermorden müsste. »Ich hasse sie natürlich trotzdem«, sagt sie. »Grade deswegen.«

Wir nicken beide. Wir hassen sie wenn irgend möglich noch mehr. Aber Felix? Müssen wir jetzt auch Felix hassen? Sollten wir? Können wir das?

»Und jetzt?«, frage ich ratlos. Jenny seufzt. Die Stelle vor ihrem Stuhl, die sie immer noch wie automatisch mit ihrer inzwischen schon nicht mehr klebrigen Socke poliert, ist mittlerweile ganz blank.

»Wieso hast du ›Alles okay‹ gesagt?«, erkundigt sich Isa leise.

»Weil es das ist«, antwortet Jenny. »Nein, ist es nicht. Aber es wird wieder. Es muss.«

Das ist nichts weniger, als ich mir wünsche. Aber kann Jenny das wirklich? Ist das etwas, was man wieder hinkriegt?

»Er hat gesagt, dass er erst mal Zeit brauchte, um seine Gefühle zu sortieren«, erzählt Jenny. »Deswegen hat er sich nicht gemeldet. Aber jetzt, sagt er, ist er sich sicher. Dass er mich liebt. Und Nadja nur eine Art Seifenblase war …«

Jeder, der Felix mit Jenny erlebt, ist sich sicher, dass er sie liebt. Ich war es bis vor wenigen Stunden auch. Aber wenn man jemanden liebt, dann geschieht so was doch nicht einfach. Egal, wie die Umstände sein mögen.

Wie gesagt: Meine Gedanken sind immer genau dann ohne Untertitel lesbar, wenn ich sie NICHT mitteilen möchte. Jenny sieht mich an, als hätte ich meinen Einwand an die Küchenwand gebeamt.

»Lena, wir sind keine 15 mehr. Und keine Figuren aus einem viktorianischen Liebesroman. Solche Dinge passieren.«

Es ist nicht, dass ich das nicht wüsste. Ich WILL einfach nicht, dass solche Dinge passieren. Nicht Felix. Und nicht Jenny.

»Also hofft er, dass du ihm verzeihst«, sage ich. »Und du versuchst es.« Jenny nickt.

»Kannst du das?«, fragt Isa.

»Er ist immerhin ziemlich gut damit umgegangen«, antwortet Jenny an der Frage vorbei. »Er war ehrlich, hat mir nichts vorgemacht. Erinnert euch: Als das mit Felix anfing, hatte ICH sogar noch einen Parallelfreund. Und das hat er mir auch verziehen.«

Das stimmt. Und im Frühjahr hat Jenny Felix kurzentschlossen rausgeworfen, weil sie das Gefühl hatte, die Beziehung würde zu eng. Felix hat nie Fragen danach gestellt, was in der Zeit ihrer Trennung passiert ist. Vielleicht wohlweislich. Aber trotzdem.

»Und ich«, erklärt Jenny, »kann ihm auch verzeihen.«

Ich weiß nichts darauf zu sagen. Sie wirkt entschlossen. Aber könnte ICH das?

»Kannst du mehr als … es sagen?«, fragt Isa nach und trifft damit den Nagel meiner Frage brutal auf den Kopf.

Jenny nickt. Entschlossen.

»Wir schaffen das«, sagt sie. »Felix liebt mich. Das glaube ich ihm. Und ich liebe ihn. Wir werden drüber wegkommen.«

Sie steht auf, als wollte sie das Thema gern mit diesen energischen Sätzen abschließen. Und dann sieht sie uns an, als wünschte sie sich doch noch eine winzig kleine, gern auch wortlose Bestätigung von uns.

Wir nicken beide. Unsere Mienen sind ebenso entschlossen wie Jennys Tonfall. Und ich drehe mich dabei ein bisschen weg, damit meine Gedanken nicht wieder lesbar sind.

»Ich geh dann mal«, sagt Jenny, »… noch was lernen.«

»Tu das«, antworte ich, »wir kriegen die Küche allein hin.«

Jenny sieht etwas beschämt auf das Chaos.

»Wirklich«, beteuere ich. Ich schiebe sie zur Tür und nutze die Gelegenheit, sie kurz zu umarmen, worauf sie normalerweise ziemlich allergisch reagiert. Auch heute macht sie sich schnell wieder los.

»Alles okay«, wiederholt sie. Aber ich bin nicht diejenige, zu der sie das sagen muss.

Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern
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