Seit Isas Standpauke hat Jenny Felix nicht mehr ständig um sich haben wollen; ich glaube, dass sich ihre Beziehung allmählich wieder ausbalanciert.
»Felix ist heute auf eine Party eingeladen«, erzählt Jenny beim Frühstück. »Könnt ihr mir ganz schnell sagen, dass ich klasse bin, weil ich nicht gefragt habe, warum er unbedingt zum Geburtstag einer Frau gehen will, die ICH nicht kenne?«
Wir tun es. So schnell wir können.
»Und noch einen Extra-Zuspruch bitte«, fügt Jenny hinzu. »Denn er hat angeboten, dass ich mitkann. Aber ich hatte das Gefühl, er sagt es nur, um mir einen Gefallen zu tun, also hab ich abgelehnt.«
Wir loben sie ausufernd für diese erwachsene Reaktion. Doch den ganzen Arbeitstag über wirkt Jenny abwesend. Jedesmal, wenn ich von meinen Büchern aufsehe, starrt sie Löcher in die Luft.
»Was?!«, knurrt sie mürrisch, als ich sie fragend anschaue.
»Du siehst nicht aus, als ob du über Medizinrecht nachdenkst«, antworte ich.
Jenny zuckt unglücklich die Achseln. »Es ist das erste Mal, dass er wieder allein ausgeht, seit Brandenburg.«
»Wenn du es nicht aushalten kannst …«, beginne ich, doch sie fällt mir ins Wort.
»Ich kann es, Lena. Ich kann es wirklich. Muss ich ja.«
Dann blättert sie schnell die Seite um – als hätte sie davon auch nur ein Wort gelesen.
Am Abend ist es still in Jennys Zimmer. Das lässt hoffen, dass sie sich doch gefangen hat und wenigstens noch einen Bruchteil des Tagessolls schafft. Den Teil, der ein gutes Gefühl macht, ein sanftes Gewissen, und dafür sorgt, dass man den nächsten Lerntag nicht auch noch versaut, weil man mit einem so großen Defizit einsteigt, dass man es auch gleich lassen kann.
Ich beschließe, ihr einen Kaffee zu bringen – und mich vielleicht noch für eine Weile mit einem Buch zu ihr zu setzen. Wegen der Motivation. Und nur ein bisschen, weil ich meiner Rechtsmedizin auch noch nicht ganz traue.
»Läuft es jetzt besser?«, frage ich, als ich mit zwei Kaffeebechern und einem Bücherstapel ihre Tür aufschiebe. Ich kann sie nicht sehen, der Bücherstapel reicht mir bis über die Nasenspitze; ich bin froh, dass mir nicht der ganze Stapel aus den Armen kippt, als die Tür leichter als erwartet nachgibt. Ich balanciere alles gerade bis zum Schreibtisch. Dann muss ich mich entscheiden – ich kann nur eins retten – und halte die Kaffeetassen fest. Der Bücherstapel knallt auf Jennys Schreibtisch.
»Bist du irre?«, lacht Jenny. »Was, wenn ich dort gesessen hätte?!«
»Warum SITZT du nicht da?«, frage ich zurück.
»Wieso? Wolltest du mich mit Medizinrecht erschlagen? Die Phrase sich etwas in den Kopf hämmern ist metaphorisch gemeint, liebe Lena. Obwohl …«
»Was machst du?«, durchkreuze ich ihr Ablenkungsmanöver. Jenny trägt das italienische Fuchs-Top und zu einem kurzen Rock die höchsten Absatz-Sandalen ihrer Kollektion. Sie sieht umwerfend aus. Aber absolut nicht nach schreibtischbraver Lern-Biene.
»Zerstöckelst du dir nicht den Holzboden, wenn du in DEN Schuhen lernst?«, frage ich provokant. »Du tippelst doch die ganze Zeit mit den Füßen, wenn du nachdenkst.«
Jenny will mir den Kaffee abnehmen. »Danke, den kann ich brauchen.«
Ich halte den Kaffeebecher aus ihrer Reichweite. »Der ist für fleißige Lieschen!«
»Nein«, widerspricht sie, »der ist für zwei, die heute sehr lange aufbleiben wollen.«
»Sollte ich eine davon sein?«, frage ich misstrauisch. »Und liege ich richtig, wenn sich das für mich nicht nach Lange-über-den-Büchern-sitzen anhört?«
Jenny schnappt sich den Kaffeebecher und zerrt mit der anderen Hand Schuhe aus dem Schrank.
»Hier«, sagt sie zwischen zwei Schlucken, »such ein Paar mit fiesen Pfennigabsätzen. Heute zerstückeln wir jemand anderes’ Parkett.«
Nein. Das hat sie nicht wirklich vor!
»Sag, dass du nicht überraschend auf dieser Party auftauchen willst!«
»Warum nicht?!«, fragt Jenny mit Engelsmiene. »Ich dachte, ich kann nicht – aber jetzt kann ich doch – und dann komm ich eben nach.«
»Hast du Felix angerufen?«, frage ich argwöhnisch.
»Wer hat grade das treffende Wort ›überraschend‹ verwendet?!«, fragt sie zurück.
Okay. Ich weiß, worum es geht. Jenny will nicht unangekündigt auf der Party aufschlagen, damit Felix vor Verblüffung entzückt ist. Sie will ihn überrumpeln. Erwischen. Okay, vielleicht nicht erwischen – aber sehen, dass es nichts zu erwischen gibt. Sie traut ihm nicht mehr. Das ist es.
»Jenny«, sage ich ruhig, »du willst nur nicht allein gehen, weil du eigentlich weißt, dass es mies ist.«
»Und warum kommst du dann nicht mit?«, fragt sie bittend.
»Weil du hinwillst, um ihn zu kontrollieren«, sage ich leise. »Ausgerechnet du, die immer so allergisch reagiert hat, wenn jemand zu stark an ihr klammert …«
Jenny setzt sich aufs Bett. Sie sieht müde aus. Warum gehen wir nicht einfach ins Bett?
»Bitte!«, flüstert sie, »du bist mein Alibi!«
Ohne mich traut sie sich nicht. Ohne mich ist es zu offensichtlich.
»Ich mach es nur ein einziges Mal«, beteuert Jenny. »Versprochen. Dann sehe ich, dass er treu ist. Und überprüfe das NIE wieder, ich schwör’s.«
Kannst du das überhaupt nicht nachvollziehen, Lena? Würdest du ihm trauen? Jenny sieht mich an, als frage sie sich dasselbe.
»Ich hab einfach keine Ruhe«, gesteht sie. »Ich stell mir die ganze Zeit vor … Ich will dieses Gefühl doch nur los sein!«
Es wird ihr helfen, Lena. Sich einmal zu überzeugen.
»Gut«, seufze ich endlich. »Wir sagen, ich wollte noch mal raus. Ich hab dich gefragt, weil Alex nicht da ist, und dir ist nur diese Party eingefallen. Dann sehen wir, wie perfekt Felix sich benimmt, schämen uns in Grund und Boden und tun es nie wieder.«
Jenny ist so erleichtert, dass sie mich fast umarmt. »Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann!«
Hmpf.
Ich suche mir ein Paar von Jennys weniger lebensgefährlichen Schuhen aus – und kann doch nicht so schnell laufen, wie Jenny vorauseilt …
Es war eine richtig miese Idee. Und absolut falsch von mir, Jenny darin zu unterstützen.
Felix starrt uns an. Er weiß sofort, was los ist. Ich setze zu meiner Geschichte an, doch er hört mir gar nicht zu.
Er nimmt Jenny am Arm und geht mit ihr auf eine Frau zu. »Marissa, das ist Jenny«, sagt er. Lächelnd schüttelt Marissa Jenny die Hand. »Das ist Marissa«, nickt Felix Jenny zu. »Wir haben zusammen gearbeitet, dann ist sie nach Bonn gezogen, jetzt ist sie wieder hier, sie arbeitet in einem unabhängigen Labor und sie hat einen Freund, Richard, er steht dort drüben.«
Marissa wirkt überrascht von der ausführlichen Vorstellung, aber sie nickt zu allem. Jenny nickt auch. Es ist unerträglich.
Felix lächelt Marissa an, dann kommt er zurück in meine Richtung. Jenny folgt ihm. Felix geht an mir vorbei. Bis zur Tür. Und nach draußen.
Solange wir es aushalten, auf der fremden Party herumzustehen, kommt er nicht wieder. Es ist vollkommen klar. Er erträgt es jetzt einfach nicht, uns um sich zu haben.