Die Aushöhlung unserer Demokratie
Demokratie basiert – zumindest nach dem Verständnis der meisten von uns – auf dem Grundsatz, dass alle Stimmen das gleiche Gewicht haben. Die politische Rhetorik konzentriert sich überwiegend auf den »mittleren«, »unabhängigen« Wähler, wie es nach der gängigen politischen Theorie auch der Fall sein sollte. Aber niemand würde behaupten, dass die konkreten politischen Ergebnisse in den USA die Interessen des Wählers in der Mitte widerspiegeln. Der »Medianwähler« hat kein Interesse daran, dass der Staat Unternehmen finanzielle Vergünstigungen gewährt. Der Wähler in der Mitte hat in der Schlacht um die Reform der Finanzmarktregulierung nicht den Sieg davongetragen, obwohl die große Mehrheit (zwei Drittel laut einigen Meinungsumfragen)44 eine strengere Regulierung befürwortete, nur die Großbanken waren dagegen. Letzten Endes bekamen wir eine Regulierungsreform, die wie Schweizer Käse ist – voller Löcher, Ausnahmen und Befreiungen, die nicht mit grundlegenden Prinzipien gerechtfertigt werden können. Angeblich gab es keine guten Gründe für einen besseren Verbraucherschutz bei sämtlichen Kreditverträgen – außer bei Autokrediten; dabei war es einfach so, dass es den Kreditgebern, die von verschärften Vorschriften betroffen gewesen wären, gelang, die notwendigen politischen Investitionen zu tätigen.
Es ist nicht weiter erstaunlich, dass der Finanzdienstleistungsausschuss des Repräsentantenhauses, der die neuen Vorschriften erarbeiten sollte, 61 Mitglieder hat, was fast 15 Prozent aller Abgeordneten entspricht. Das im Jahr 2010 verabschiedete Dodd-Frank-Gesetz zur Regulierung des Finanzmarktes stellt einen sorgfältig ausbalancierten Kompromiss zwischen den zehn größten Banken und den 200 Millionen Amerikanern dar, die eine strengere Regulierung wollten. (Ich fürchte, die Geschichte wird zeigen, dass die große Mehrheit der Amerikaner Recht hatte.)
Paul Krugman formulierte es eindringlich so: »Extreme Einkommenskonzentration ist unvereinbar mit wahrer Demokratie. Kann jemand ernsthaft bestreiten, dass unser politisches System durch den Einfluss des Großkapitals verzerrt wurde und dass sich die Verzerrung in dem Maße verschlimmert, wie das Vermögen einiger weniger immer größer wird?«45
In seiner Gettysburg-Rede sagte Präsident Abraham Lincoln, Amerika kämpfe einen großen Bürgerkrieg, auf dass die »Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge«. Aber wenn das, was gegenwärtig geschieht, so weitergeht, ist dieser Traum in Gefahr.46
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich das Problem des »Medianwählers« erläutert und geschildert, warum unsere Demokratie die Überzeugungen und Interessen der Mittelschicht nicht in gleichem Umfang widerzuspiegeln scheint wie die Interessen der Oberschicht. Eine Teilerklärung dafür lautet: Der Medianwähler (der Wähler, für den gilt, dass die eine Hälfte der Wähler ein höheres Einkommen hat als er, während die andere Hälfte ein niedrigeres Einkommen hat) ist reicher als der Medianamerikaner. Wir haben eine Wählerschaft, die statistisch zugunsten der höheren Einkommensgruppen verzerrt ist.
Aber die Verzerrung der Ergebnisse – das Ausmaß, in dem das politische System die oberen Einkommensbezieher begünstigt – geht über das hinaus, was mit der Verzerrung der Wählerschaft erklärt werden kann. Eine weitere Teilerklärung beruht auf der Verzerrung der Wahrnehmungen und Überzeugungen – dass die oberen Zehntausend die Angehörigen der Mittelschicht dazu gebracht haben, die Welt in einer verzerrten Weise zu sehen, so dass sie politische Maßnahmen, die den Interessen der Wohlhabenden dienlich sind, als deckungsgleich mit ihren eigenen Interessen wahrnehmen. Mit der Frage, wie das oberste eine Prozent dies bewerkstelligt, werde ich mich im nächsten Kapitel befassen.47 Aber zunächst möchte ich mich der Globalisierung zuwenden, die von unseren Eliten so gestaltet wurde, dass diese auf Kosten der meisten Amerikaner davon profitieren. Noch wichtiger aber ist, dass sie in den Vereinigten Staaten und erst recht in anderen Ländern von den Verantwortlichen politisch so gesteuert wurde, dass sie die Demokratie untergräbt. Außerdem unterminiert die gerade beschriebene Schwächung und Verzerrung unserer Demokratie unsere globale Führungsrolle und damit unsere Fähigkeit, eine Welt zu schaffen, die in einem weiteren Sinne mit unseren Werten und unseren Interessen in Einklang steht.