Ruhe vor dem Sturm

Kai schlug die Augen auf und blinzelte. Vogelgezwitscher hatte ihn geweckt. Es musste bereits später Vormittag sein. Die Sonne stand hoch am Himmel und kitzelte ihn mit ihren warmen Strahlen durch das halb geöffnete Fenster.

Sofort stürmte wieder die Erinnerung an die letzte Nacht auf ihn ein. Er war jetzt kein Lehrling mehr, sondern ein richtiger Irrlichtjäger. Und wenn seine Großmutter Recht hatte, dann würde aus ihm der fähigste Irrlichtfänger weit und breit werden. Munter schlug Kai die Bettdecke zurück, sprang auf die Füße - und musste sich einen Moment lang am Bettpfosten festhalten. Ihm war schwindlig. Offenbar hatte ihn die Irrlichtjagd mehr angestrengt, als er geglaubt hatte.

Den ganzen Heimweg über hatte ihn seine Großmutter ausgefragt. Alles wollte sie wissen. Wie er sich gefühlt hatte. Was er gefühlt hatte. Wann ihm das neue Lied eingefallen sei. Das und vieles mehr. Dabei wusste er selbst nicht so genau, was gestern geschehen war. Wütend war er gewesen. Ja. Und er schämte sich deshalb ein bisschen. Doch diese Wut hatte etwas in ihm geweckt, dessen er sich bis zur letzten Nacht nicht bewusst gewesen war. Wenn er in sich hineinlauschte, spürte er, dass dieses Gefühl noch immer in ihm schlummerte. Strahlend und kraftvoll wie die Sonne, doch zugleich auch irgendwie quälend. Seltsam. Dennoch - oder vielleict gerade deswegen - war ihm so fröhlich zumute wie schon lange nicht mehr. Er kicherte übermütig. Das Schwindelgefühl ebbte ab und mit wenigen Schritten war er beim Fenster und klappte beide Läden weit zurück. Kai fühlte, wie der warme Wind über sein Gesicht strich. Genießerisch atmete er die frische Luft ein. Wie jeden Morgen wanderte sein Blick über den verwilderten Garten der Mühle. Blumen und Gräser blühten wild durcheinander, die dicken Stämme der Birken wurden von dichten Brombeerbüschen umrankt und wo er auch hinblickte, summten Bienen und andere Insekten. Sogar einen bunten Albenschmetterling konnte er ausmachen. Er flatterte vor dem durchlöcherten Gerippe eines Windmühlenflügels. Er konnte sich kein schöneres Zuhause vorstellen.

Erst jetzt entdeckte er den Handkarren. Er stand auf dem Kiesweg vor dem Eingang. Offenbar war Rufus zu Besuch gekommen. Der alte Fischer besaß ein eigenes Boot, mit dem er auf der Elbe Reusen ausbrachte, um Aale zu fangen. Er und seine Großmutter waren alte Freunde. Wann immer Rufus kam, brachte er den neuesten Klatsch aus Lychtermoor und dem Rest der Welt mit.

Manchmal bedauerte Kai es, dass sie so abgeschieden am Ortsrand lebten. Seine Großmutter schien kein großes Interesse an der Gesellschaft der Dörfler zu haben. Er hingegen fand es stets aufregend, wenn in Lychtermoor Markttag war und sie dort ihre Irrlichter verkauften. Er genoss das bunte Treiben der Händler und Marktschreier. Einmal hatte sich sogar ein zwergischer Händler aus dem fernen Schwarzen Wald in den Ort verirrt. Der bärtige Geselle war auf dem Weg nach Hammaburg gewesen und hatte auf dem Markt Spieluhren und andere mechanische Wunderwerke angeboten. Und bei einem Unwetter vor vier Jahren hatte ein Schiff in Lychtermoor angelegt, das kostbare Glaswaren aus dem Reich der Feenkönigin Berchtis an Bord hatte. Boswin, der Wirt des Feenkrugs, hatte damals für viel Gold eine Kristallkugel erstanden, die wundersame Bilder zeigte, wenn man sie anhauchte.

Angesichts solcher Wunder fragte sich Kai nicht zum ersten Mal, wie das Leben außerhalb Lychtermoors sein mochte. Irgendwann einmal würde er selbst die Welt bereisen. Das hatte er sich fest vorgenommen.

Er war schon gespannt darauf, was Rufus diesmal zu berichten hatte. Beim Gedanken an die geräucherten Aale, die der alte Fischer ganz sicher mitgebracht hatte, knurrte Kai der Magen. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war.

Kai schlüpfte rasch in seine Kleider und verließ das Zimmer. Was Rufus wohl zu seinem Fang von letzter Nacht sagen würde?

Er würde ihn überraschen. Kai schlich die Treppe hinunter und warf einen verstohlenen Blick auf den alten Mühlstein, der seiner Großmutter als Ablage für ihre Küchengeräte diente. An den schiefen Wänden hingen Regale mit Geschirr und Einmachgläsern und die Luft roch würzig nach den Kräuterbündeln, die zum Trocknen von der Decke baumelten. Rufus und seine Großmutter saßen am Tisch und tranken Tee. Ihre Unterhaltung war ungewohnt ernst.

»... weiß nicht, wer sie überfallen hat. Nur einer hat es überlebt, aber der ist seitdem nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagte Rufus mit rauer Stimme. »Quatscht ständig von Geistern, die ihm seinen Fang entrissen hätten.« Der hagere Greis strich sich besorgt über die Glatze. »Ich dachte nur, ich warne dich, damit ihr vorsichtig seid.« »Und hier bei uns?«

»Bis jetzt niemand«, sagte Rufus. »Aber drüben auf der anderen Elbseite hat es zwei erwischt. Und unten in Birkenhain wird ebenfalls einer vermisst. Angeblich ist auch ein Händler aus Hammaburg samt seinem Kahn verschwunden. Die beiden, die man gefunden hat, sollen jedenfalls schrecklich zugerichtet gewesen sein.«

Unvermittelt knarrte eine Stufe unter Kais Füßen. Überrascht drehten sich die beiden Alten zu ihm um und warfen sich dann einen verschwörerischen Seitenblick zu. Rufus wirkte von einem Moment auf den anderen wie ausgewechselt und lachte über das faltige Gesicht. »Ah, da ist ja unsere Schlafmütze. Hab schon gehört, wie erfolgreich du gestern gewesen bist. Kompliment, junger Mann!«

»Danke«, erwiderte Kai höflich.

Seine Großmutter stand auf, um ihm einen Teller mit Suppe zu füllen und etwas Brot und geräucherten Aal zu holen. Er setzte sich und ließ es sich schmecken. Kai konnte es Rufus und seiner Großmutter an den Nasenspitzen ansehen, dass sie sich fragten, wie viel er von ihrem Gespräch mit angehört hatte.

»Wer ist denn überfallen worden?«, fragte Kai geradeheraus.

Erneut wechselten die beiden einen Blick.

»Du solltest es ihm sagen«, meinte Rufus und kratzte sich das stoppelige Kinn. »Das geht den Jungen auch etwas an.«

Seine Großmutter seufzte. »Irrlichtfänger. Jemand scheint es auf unsereins abgesehen zu haben.«

»Ihr solltet euch trotzdem nicht Bange machen lassen«, wiegelte Rufus ab. »Bislang ist es zu solchen Überfällen nur im näheren Umland Hammaburgs gekommen. Gerüchten zu Folge haben die Ratsherren bereits Patrouillen ausgeschickt, um den Räubern das Handwerk zu legen. Außerdem liegt Lychtermoor fast drei Tagesmärsche von Hammaburg entfernt. Hauptsache, ihr passt ein wenig auf, wenn ihr euch wieder im Moor herumtreibt.«

Kai blickte zweifelnd auf. Das hatte eben aber ganz anders geklungen.

»Nun zieht nicht solche Gesichter. An einem Tag wie heute sollten wir lieber an etwas Schönes denken«, wechselte Rufus plötzlich das Thema. »Ihr kommt doch heute Abend zum Sternschnuppenfest ? Im Ort haben sie schon angefangen, den Marktplatz zu schmücken. Ihr werdet es kaum für möglich halten, sogar ein Gaukler ist eingetroffen. »Ich weiß nicht«, meinte Kais Großmutter zögernd. »Vielleicht ist es im Moment besser, wenn wir uns von den anderen fern halten.«

»Großmutter, du hast es versprochen«, protestierte Kai. »Wir sind so selten im Ort. Ausgerechnet jetzt, wo meine Lehrzeit zu Ende ist. Im Dorf werden sie erwarten, dass wir ein Irrlicht vorbeibringen. Und ich möchte den anderen doch das große zeigen, das ich gestern gefangen habe.«

»Nein, das ist keine gute Idee«, widersprach seine Großmutter.

»Ach komm, lass ihn doch«, mischte sich der alte Fischer wieder ein und berührte sanft die Hand seiner Freundin. »Hast du vergessen, wie sehr wir beide uns immer auf das Fest gefreut haben?«

»Also gut«, seufzte sie. »Meinetwegen. Aber ich werde nicht mitkommen. Das ist nichts mehr für mich. Und das große Irrlicht«, sie blickte Kai ernst an, »das bleibt hier. Du weißt doch, wie die im Dorf sind. Es wird bloß ihren Neid wecken.«

Kai murrte enttäuscht.

»Na komm, hab dich nicht so«, munterte ihn Rufus auf. »Was hältst du davon, wenn du mir einen Gefallen tust und für mich nachher im Feenkrug vorbeischaust? Die Aale, die Boswin bestellt hat, liegen draußen im Karren. Außerdem brennt er darauf, zu erfahren, wie du dich letzte Nacht geschlagen hast.«

»Na gut«, meinte Kai gedehnt.

»Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich ein Irrlicht mitnehmen«, fuhr der Fischer fort.

»Ja, aber nur eines der kleinen«, ergänzte seine Großmutter und warf Kai einen strengen Blick zu.

Nachdem Kai fast die doppelte Portion wie üblich verspeist hatte, half er seiner Großmutter beim Spülen. Anschließend zogen sich die beiden Alten schwatzend und lachend in den Garten zurück. Kai sah ihnen nach und schnaubte. Also nur ein kleines Irrlicht.

Missmutig ging er in den Lagerraum, wo sie die eingefangenen Irrlichter aufbewahrten. Wie immer kurz vor den Markttagen war das Zimmer in rotes Zwielicht gehüllt. Dort, wo früher Mehlsäcke gestapelt worden waren, hingen heute die Irrlichtlaternen an langen Haken von der Decke. Schwach glommen die Lohenmännchen vor sich hin. Insgesamt waren es neun Stück. Für einen Monat Arbeit war das eine hervorragende Ausbeute.

Tagsüber verloren die Irrlichter viel von ihrer Leuchtkraft. Sie schrumpften auf die Größe eines kleinen Fingers zusammen, und es schien, als würden sie schlafen. Doch nach Sonnenuntergang würden sie allesamt wieder lichterloh brennen. Ein volles Jahr über würden sie leuchten, dann verpufften sie von einem Tag auf den anderen in einem kleinen Funkenregen.

Kai trat stolz an die Laterne mit dem großen Irrlicht heran. Die Kopflohe des Feuermännleins leckte müde am Kupfergehäuse empor. Es schien Kais Anwesenheit nicht zu bemerken. Wie seine Artgenossen war auch dieses kleiner geworden, doch im Gegensatz zu den anderen war es noch immer so groß wie ein normales Irrlicht bei Nacht. Vielleicht waren er und seine Großmutter die Einzigen, die wussten, wie ein solches Irrlicht entstand. Vielleicht würde es ihm sogar noch einmal gelingen, zwei der Feuerwesen dazu zu bringen, sich zu einem Exemplar dieser Größe zu vereinigen. Dann konnten sie reiche Leute werden. Ein Lächeln glitt über Kais Gesicht und unvermittelt spürte er ein angenehmes Prickeln auf seiner Haut. Nein, das Gefühl schien irgendwie von innen heraus zu kommen. Es fühlte sich großartig an. Sein Hochgefühl wurde nur dadurch getrübt, dass er schon wieder Hunger hatte. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Mit einem Seufzer wandte sich Kai vom Anblick des großen Irrlichts ab und griff nach einer der anderen Laternen.

Wenig später stand er vor der Mühle und verstaute die Kupferleuchte zwischen den Fischen in Rufus' Karren. Er rief einen lauten Abschiedsgruß und die beiden Alten winkten ihm zu. Dann wuchtete er den Karren herum und brach in Richtung Lychtermoor auf. Diesen Gaukler wollte er unbedingt mit eigenen Augen sehen.