Das Herz der nachtblauen Stille

Kai und der Däumiingszauberer durchschritten weiträumige Hallen und enge Klüfte, die sie immer tiefer ins Klippenmassiv hineinführten. Die meisten der Höhlen waren in völlige Finsternis gehüllt. Dort half ihnen nur noch das blaue Licht am Ende von Eulertins Zauberstab weiter. Andere wurden von hellen Lichtlanzen beschienen, die über ihnen aus Rissen und Schächten der Höhlendecke stachen. Der Magister ging natürlich nicht selbst, er ließ sich wieder von Kai tragen und warnte ihn vor tief herabhängenden Decken und schroffen Kalksteinzungen, die allerorten aus den mal schmutzig braunen, dann wieder hellblauen Wänden ragten. Noch immer umschwirrten und umsäuselten sie kleinere Luftelementare.

Das Gewirr der Höhlen schien endlos. Kai fragte sich, wie weit sie noch gehen mussten, bis die Windgeister sie an das unbekannte Ziel ihrer Reise geführt hatten. Schließlich erreichten sie eine riesige Halle, in der die sechs großen Windgeister bereits auf sie warteten. Ihre Wolkengesichter musterten sie mit teils spöttischen, teils finsteren Blicken.

Viel mehr aber erstaunte Kai die dunkle Basaltstatue eines hochmütig wirkenden Mannes mit kurzem Spitzbart und einem langen Gewand mit einem hohen Kragen, der ihr fast bis zum Scheitel reichte. Das düstere Standbild stand mitten in der Höhle und hielt einen Stab in der Linken, der oben an der Spitze in einem unheimlichen Krähenkopf auslief. Mit seinen weit aufgerissenen Augen schien der Steinerne die Neuankömmlinge direkt anzustarren. »Bei allen Moorgeistern!« Kai schluckte und ihm kam ein böser Verdacht. »Ist das dort der verwandelte Morbus Finsterkrähe?«

»In der Tat«, brummte Magister Eulertin grimmig. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich seine Statue an einen sicheren Ort gebracht habe. Hier wird ihn so schnell niemand finden.«

Kai trat näher an den Verwandelten heran und entdeckte, dass Morbus Finsterkrähe die rechte Hand fehlte. Dort lief das Gestein in einem fransigen Stumpf aus. Richtig, der Däumling hatte ihm damals berichtet, dass Dystariel Finsterkrähe im Kampf die Hand abgeschlagen hatte. Seltsam nur, dass es nicht wie abgeschlagen, sondern eher wie abgebissen aussah ...

»Wäre es nicht besser gewesen, Finsterkrähe tief im Meer zu versenken?«, flüsterte Kai. Irgendetwas an der Statue war ihm nicht geheuer. Nur kam er nicht darauf was es war. Stirnrunzelnd löste er seinen Blick von dem Standbild.

»Damit Morgoyas Kreaturen ihn dort finden und die Nebelkönigin ihn wieder zurückverwandeln kann?«, erwiderte Eulertin leise. »Nein, nein. Außerdem hat der Nordwind ein großes Interesse daran, die Statue persönlich zu bewachen. Finsterkrähe besaß ein Artefakt, mit dem er ihn kontrollieren konnte. Mir hat es der Nordwind zu verdanken, dass er heute frei ist.«

»Der Knabe soll vortreten!«, dröhnte der Nordwind jenseits der großen Halle. »Warte, Junge«, wisperte Eulertin. »Was auch immer die Windgeister mit dir vorhaben, denke stets daran, dass du dich vor ihrer Tücke und Launenhaftigkeit in Acht nehmen musst! Egal, wie die Prüfungen aussehen, du wirst einfallsreich und listig sein müssen. Verstanden?«

Kai nickte.

»Gut.« Eulertin stieß sich mit erhobenen Armen von Kais Schulter ab und verharrte schwebend vor seinem Gesicht. »Und jetzt, Junge, zeige, was in dir steckt. Es geht um dein Leben!«

Kai atmete tief ein und schritt an Finsterkrähes Statue vorbei auf die Windgesichter zu, die brausend zur Seite glitten und den Zugang zu einem düsteren Schacht freigaben. »Um zum Herzen der nachtblauen Stille zu gelangen, wirst du drei Grotten durchqueren müssen«, gewitterte der kalte Nordwind. Seine blitzenden Augen starrten mitleidslos auf Kai herab. »Diese Grotten werden durch Pforten getrennt, die jeweils zu erreichen dein Ziel sein wird.«

»Das ist alles?«

»Ja«, säuselte eine spöttische Stimme neben ihm. Sie gehörte zu einem weiblichen Gesicht mit verschleiertem Blick und wehendem, faserigem Wolkenhaar. »Das ist alles!«

Die sechs Winde lachten, als habe die Steife Brise einen Scherz gemacht, und Kai wurde von Orkanböen durchgeschüttelt. Grimmig hielt er seinen Mantel fest und stemmte sich gegen den Wind, bis er den düsteren Höhleneingang erreicht hatte.

Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt er ins Dunkle.

Kai fluchte angesichts der Finsternis, die ihn umgab. Er hätte unbedingt daran denken müssen, eine Laterne mitzunehmen. Er dachte an das Irrlicht in seiner Stube zurück. Das hätte er jetzt wirklich gut gebrauchen können. Dennoch tastete er sich tapfer an den Felswänden entlang, bis er weiter vor sich ein blaues Leuchten entdeckte. Wenigstens hatte die Dunkelheit ein Ende.

Kai zwängte sich durch eine Felsspalte und erblickte eine gewaltige Kaverne, in der bläulich schimmernde Luftgeister tobten. Es waren stürmische Windsbräute mit langen Haaren und wehenden Gewändern, die heulend mal hierhin und mal dorthin sausten. Erst jetzt entdeckte er, dass der Boden zu seinen Füßen steil in die Tiefe abfiel. Weit unter sich sah er Wasser glitzern, dessen Oberfläche von den Schalen spitz zulaufender Trichtermuscheln durchbrochen wurde. Eine Todesfalle. Wer dort hinunterstürzte, würde von den Muschelgehäusen gnadenlos aufgespießt werden. Dazwischen ragten sechs hohe Felssäulen gleich einer Allee bis zur Höhe des Ganges empor, in dem sich Kai befand. Allesamt waren sie oben abgeplattet und führten, folgte man ihrem Verlauf, zu einem weiteren Gang auf der anderen Seite der Kaverne.

Das konnte doch nicht der Ernst dieser Winde sein ? Offenbar verlangte man von ihm, von Säule zu Säule zu springen, um den Zugang auf der anderen Seite zu erreichen. Wenn er stürzte, würde er das nicht überleben.

Eine der Windsbräute rauschte an ihm vorbei und lachte schrill. Kai wurde derart von ihr überrascht, dass er einen Moment lang das Gleichgewicht verlor, wild mit den Armen ruderte und es gerade noch schaffte, sich an einer scharfkantigen Felsnase festzuhalten, die neben ihm aus der Wand ragte. Hastig zog er sich wieder in den Stollen zurück und betrachtete wütend die blutigen Schrammen an seiner Hand. Verfluchte Windsbräute! Selbst wenn er richtig sprang, würden diese Luftgeister ihn einfach von den Felsen pusten. Das war nicht nur unfair, es war einfach nicht zu schaffen! In seinem Bauch rumorte es. Kai unterdrückte den Schmerz und atmete ruhig ein und aus. Die Winde spielten falsch. Gut, dann würde er seine Zurückhaltung nun ebenfalls ablegen. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Stiefel auszog.

Kai zückte die Flasche mit dem Spinnentrank. Leider war nicht mehr viel von dem ekligen Saft übrig. Egal. Zum zweiten Mal an diesem Tag setzte er die Phiole an und trank. Er wartete, bis sich seine Hände und Füße mit den klebrigen Fäden überzogen hatten. Dann steckte er das Glasgefäß neben den Bernsteinbeutel, verknotete die Stiefel und warf sie sich über die Schulter. Anschließend kletterte er an der Steilwand entlang in die Höhle hinein.

Wütend heulten die Windsbräute auf und brausten auf ihn zu. Kai spürte, wie die luftigen Geister ungestüm an seiner Kleidung zerrten und versuchten, ihm die Stiefel zu entreißen. Doch es gelang ihnen nicht, ihn von der Felswand zu pflücken. Stück für Stück umrundete er die Höhle, bis er endlich den gegenüberliegenden Ausgang erreicht hatte. Hinter ihm heulten die Luftgeister enttäuscht auf. Kai drehte sich um und bedachte die Windsbräute mit einer rüden Geste. Weiter!

Patschend schritt er den rauen Felsgang entlang, der sich zu einer Grotte mit einer Vielzahl rund geschliffener Steine und Felsen weitete. Zum Teil lagen sie aufeinander und bedeckten mosaikartig die Wände. Beleuchtet wurde die Grotte durch schräge Lichtlanzen, die durch Risse und Spalten weit über ihm in die Höhle stachen und auf dem Boden schmale Lichtinseln ausbildeten. Die Form der Lichtflecken ähnelte der spitz zulaufender Muscheln. Offenbar sollten diese Ornamente die Nähe dieses Ortes zum Meer unterstreichen.

In einiger Entfernung sah er bereits den nächsten Gang und noch immer war nirgendwo auch nur der Hauch einer Gefahr zu spüren. Besser, er ließ sich davon nicht täuschen.

Überaus vorsichtig betrat Kai die Felsenhalle und vernahm plötzlich ein Rauschen in seinem Rücken. Er wirbelte herum und sah, dass der Gang jetzt von einer Wolkentür verschlossen wurde. Auf ihr war verschwommen die Abbildung einer Blume oder eines Krauts mit fransigen Blättern und flockigen Samenkapseln zu erkennen. Kai starrte zur Höhlenwand gegenüber und bemerkte, dass auch der dort drüben liegende Gang von einer solchen Wolkentür versperrt wurde. Er trat näher und erkannte die gleiche Abbildung.

Was war das? Irgendwo hatte er diese Pflanze schon einmal gesehen. Nur wo ? Kai berührte die Tür, doch sie war so fest wie das Gestein um sie herum. Endlich bemerkte er den warmen, trockenen Windzug, der durch die Grotte strich. Murmelnd und flüsternd wehte er an den Steinen entlang und es war, als wolle er Kai auffordern, ihm zu folgen.

Kai ließ seine Stiefel fallen und trat wieder zurück in die Mitte der Höhle. Dort spitzte er die Ohren. Das Säuseln ertönte irgendwo vor ihm, nein, weiter rechts. Sein Blick erfasste eine der muschelförmigen Lichtinseln am Boden und zu seinem Erstaunen sah er dort in Windeseile ein Pflänzchen aus dem Boden sprießen, das jenen an den Türen glich. Es war so blau wie ein Himmel bei Sonnenschein. Einen Moment später zerbröselte das Gewächs und verwehte wie Rauch im Wind.

Kai stutzte. Abermals fühlte er einen warmen Hauch. Diesmal wehte er hinüber zu den Steinen weiter links von ihm. Kai sah erneut mit an, wie in einer der Lichtinseln auf den Felsen eines der himmelblauen Pflänzchen gedieh und, kaum dass es erblüht war, wieder in sich zusammenfiel.

Windskraut! Das war Windskraut. Natürlich. Kai war sich sicher, eine Abbildung dieser Pflanze schon einmal in einem der Bücher Eulertins gesehen zu haben. Sie gehörte zu den Zauberpflanzen und gedieh nur dort, wo Wind über das Land strich. Nachdenklich starrte Kai die Wolkentüren an.

Ob das Windskraut vielleicht als eine Art Schlüssel diente, mit dem er die Türen öffnen konnte? Es käme auf einen Versuch an.

Kai wartete ab, bis das Säuseln abermals erklang. Diesmal strich der warme Windzug hinter ihm über die Felsen. Er drehte sich um und hechtete auf das Kraut zu, das soeben aus dem Boden wuchs. Doch seine klebrigen Füße hinderten ihn daran, rechtzeitig vom Platz zu kommen. Kai stolperte und krachte zu Boden.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sich Kai die Ellenbogen und stieß einen Fluch aus. Natürlich war das Kraut längst wieder vergangen.

Verflucht! Er musste schnell sein. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Kräfte des Spinnentranks abzuschütteln.

Sei's drum. Kai konzentrierte sich, wie er es gelernt hatte, und kurz darauf fühlte er, wie ihm der getrocknete Schleim von Händen und Füßen bröselte. Erneut lauschte er auf das Flüstern des Windes.

Da! Abermals wuchs ein Pflänzchen aus dem Boden. Er sprang, doch erneut kam er zu spät. Es war zum Verrücktwerden. Kai hüpfte und turnte zwischen den Felsen herum, doch jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis. Schwer atmend hielt er inne. So ging es nicht. Zu allem Unglück bekam er von dem warmen, trockenen Wind auch noch Kopfschmerzen.

Er musste warten. Richtig. So lange, bis sich eines der Pflänzchen in seiner unmittelbaren Nähe zeigte. Soweit er mitbekommen hatte, gediehen sie stets in den Lichtinseln auf dem Boden. Niemals im Dunkeln. Kai stellte sich daher an eine Stelle der Grotte, wo er gleich von vier der Lichtflecken umringt war. Er versuchte sich zu konzentrieren und lauschte den Flüstergeräuschen.

Endlich wehte der trockene Lufthauch direkt zu seinen Füßen. Kai sah das Kraut, noch bevor es zur Gänze erblüht war, und griff zu.

Triumphierend hielt er das zerbrechliche Pflänzchen in die Höhe. Doch schon im nächsten Augenblick zerbröselte es zwischen seinen Fingern und löste sich in Rauch auf.

»Nein!«, heulte Kai wütend auf und schaffte es gerade noch rechtzeitig, seinen Zorn niederzukämpfen. Ratlos sank er auf den Boden. Was sollte er nur tun ? Wind! Natürlich. Er musste die Pflanze dem Wind aussetzen. Das Windskraut verging immer dann, wenn die Lüfte zur Ruhe kamen.

Kai wartete ein weiteres Mal darauf, dass in einer der Lichtinseln vor ihm das Kraut erblühte. Er schnappte es sich und pustete wild dagegen, bevor es verwelken konnte. Doch kaum, dass er Atem schöpfte, verging auch dieses Exemplar.

Kai hätte am liebsten schreien mögen. In seinem Inneren rumorte es. Lange würde er es nicht mehr schaffen, das Tier in sich zum Schweigen zu bringen. Dicht unter der Oberfläche lauerte es und wartete nur darauf, dass er sich ein weiteres Mal von seinem Zorn hinreißen ließ. Er kämpfte seine Angst nieder und überlegte fieberhaft. Als das nächste Pflänzchen aus dem Boden wuchs, pflückte er es und drehte sich sofort mit ihm in der ausgestreckten Hand im Kreis.

Bei allen Moorgeistern! Es funktionierte. Der Luftstrom verhinderte, dass das Windskraut zerfiel. Nur wurde ihm bei der Dreherei schwindelig.

Gleichgültig. Jetzt oder nie. Wie ein Tänzer, der seine Partnerin um sich herumwirbelt, stolperte er auf die gegenüberliegende Wolkentür zu und klatschte das Windskraut mit letzter Kraft dagegen.

Die Tür wurde schlagartig durchlässig und löste sich auf.

Kai vermochte sich kaum darüber zu freuen. Er setzte sich erst einmal und kämpfte die Übelkeit nieder. Noch immer plagten ihn Kopfschmerzen.

Missmutig bemerkte er, dass die Wolkentür auf der anderen Seite der Grotte nicht verschwunden war. Er würde sich auf dem Rückweg also noch einmal dieses unwürdigen Tricks bedienen müssen. Wenn er es überhaupt zurückschaffte. Er zog sich seine Stiefel wieder an und trottete mit flauem Gefühl weiter. Zu seinem Erstaunen vernahm er hinter einer Biegung die sanften Klänge einer Harfe. Ein wenig ähnelte das Spiel jener Melodie, die er in Fis Zaubergarten vernommen hatte. Was die Elfe wohl zu alledem hier sagen würde ? Fi war schlau. Wie gern hätte er sie jetzt an seiner Seite gehabt.

Wieder endete der Gang in einer Höhle. Diese ragte wie eine stattliche Kuppelhalle vor ihm auf und wurde von phosphoreszierenden Flechten bedeckt.

Unweit vor sich sah Kai einen klaffenden Riss am Boden, der sich über die ganze Länge der Höhle erstreckte. Er musste gute drei Schritte breit sein und wirkte ziemlich tief. Natürlich befand sich ein weiterer Gang jenseits dieser Kluft.

Sein Augenmerk galt nun der großen Harfe aus Stein, die nur wenige fingerbreit von dem Spalt entfernt stand. Ihr weißer Rahmen war mit spitz zulaufenden Muscheln verziert. Davor wiegte sich die Böe des Ostens und ließ ihre luftigen Finger über die Saiten des wundersamen Instruments wandern. Stürmisch schüttelte sie ihre Lockenpracht und sah ihn spitzbübisch an.

»Nicht schlecht, mein Kleiner«, wehte es von ihren Lippen. »Wer hätte gedacht, dass du es bis hierher schaffst? Doch nun werde ich dich prüfen. Hör gut zu.«

Ihre Wolkenfinger glitten über die filigranen Saiten und spielten eine aufbrausende Melodie, die Kai an eines jener Lieder erinnerte, das er erst vor kurzem im Schmugglerviertel vorgetragen hatte. Zu seiner Verblüffung wallte in der Kluft am Boden unversehens Nebel auf, der sich zunehmend verdichtete, bis er die Form einer Brücke annahm, die zur anderen Seite führte.

»Siehst du das?«, säuselte die Böe des Ostens. »Es ist ganz einfach. Man muss sich nur die Melodie einprägen.«

Ihre Finger glitten einmal über alle Saiten zugleich und die Brücke löste sich wieder auf. »Oh, entschuldige«, raunte die Böe des Ostens mit honigsüßer Stimme. »Aber ich lasse es dich gern selbst versuchen.«

Die Windgestalt fuhr hoch zur Höhlendecke auf und starrte lauernd zu ihm herab. Irgendetwas hatte die Elende vor, das spürte Kai. Doch was?

Kurz dachte er wieder darüber nach, den Spinnentrank einzusetzen. Doch das ging nicht. Leider befand sich in dem Fläschchen nur noch ein einziger Schluck. Er würde ihn spätestens auf dem Rückweg durch die Höhle mit den Luftgeistern benötigen. Nahm er ihn bereits jetzt zu sich, würde er in der Grotte mit dem Windskraut nicht schnell genug reagieren können. Es war wie verhext. Dieser Prüfung musste er sich stellen.

Dummerweise hatte er noch nie auf einer Harfe gespielt. Allerdings schien ihm die Melodie auch nicht allzu schwer.

Kai stellte sich vorsichtig vor das hohe Instrument und starrte das wunderbar verzierte Wunderwerk an. Es bestand zur Gänze aus Marmor. Seine Finger strichen über das Muschelrelief. Auch die Saiten wirkten wie dünne Stränge aus Kalk oder Kristall. Egal. Er musste zunächst einmal ein Gefühl für diese Windharfe bekommen. Kai griff in die Saiten - als es knackte und knisterte. Das filigrane Kalkgebilde brach einfach entzwei. Die Saiten zerbröselten und prasselten zu Boden.

Von der Decke der Höhle hallte dröhnendes Gelächter.

»Du kleiner Narr«, fauchte die Böe triumphierend. »Ich wusste, dass du nicht bestehst. Du hättest besser aufpassen müssen. Diese Harfe ist nicht für Menschenhände bestimmt, sondern für Wesen wie mich. Und unser Griff ist zart und luftig, nicht grob und hart wie der deine. Du hättest pusten müssen. Pusten. Jetzt hast du verloren. Hahaha.«

Kai sprang auf und starrte entgeistert die herumliegenden Kalkbrösel an. »Das akzeptiere ich nicht«, rief er empört. »Du hast mich hereingelegt!« »Ich, dich hereingelegt?«, höhnte die Windgestalt. »Du hättest eben erst überlegen müssen, bevor du handelst. Und nun verabschiede dich. Dein Ausflug in unser Reich ist zu Ende.«

»Nein«, rief Kai und hatte Mühe nicht zornig zu werden. Zorn und Wut waren gefährlich. »Ich allein entscheide, wann ich aufgebe!«

Wenigstens probieren konnte er es. Die Harfe war höher, als die Spalte breit war. Wenn es ihm gelang, das Instrument umzustürzen, konnte er sich vielleicht daran entlanghangeln und so die Kluft überwinden. Kai stemmte sich gegen den schweren Steinrahmen und drückte mit aller Kraft dagegen.

»Das wagst du nicht«, donnerte es von der Gewölbedecke her, und Kai fühlte, wie ihn die Böe des Ostens aufgebracht umbrauste.

»Doch«, ächzte er und stemmte sich abermals gegen das schwere Instrument. Es wankte ganz leicht, doch um die Harfe umzustoßen, fehlte ihm ganz einfach die Kraft. Erschöpft sank Kai vor dem Instrument zu Boden.

Die Böe zischte und heulte vor Genugtuung und kam dicht vor Kai zur Ruhe. »Glaube mir«, wehte es von ihren Lippen, »das hätte mich auch sehr, sehr wütend gemacht. Und du hast keine Vorstellung davon, was passiert, wenn ich wütend werde.« »Na ja«, erklärte Kai noch immer außer Atem. »Dann sind wir ja schon zwei, die das gleiche Problem haben. Und nun verschwinde, damit ich endlich über die Spalte komme.«

Die Böe des Ostens starrte ihn irritiert an und jagte wieder zur Decke empor. »Was willst du denn jetzt tun?«, fauchte sie. »Etwa springen? Das ist dein sicherer Tod!« »Nein, das tun, was ich vorhin schon hätte tun sollen«, erwiderte Kai und kam wieder auf die Füße. »Wie sagtest du ? Es kommt auf die Melodie an ? Na denn ...« Kai zog seine Flöte aus dem Gürtel und blinzelte der Windgestalt frech zu. Ein wütendes Kreischen an der Höhlendecke war die Antwort. Ruhig begann er die Melodie anzustimmen, die ihm die Böe vorgespielt hatte. Er traf sie nicht sogleich, doch beim dritten Versuch wallte in dem Spalt endlich der wundersame Nebel auf, der sich nach und nach zu jener Brücke verdichtete, mit der er den Spalt überwinden konnte. »Glaube ja nicht, dass das schon alles war!«, brüllte die Böe beleidigt.

Kai beachtete sie nicht weiter, sondern eilte über die Nebelbrücke in die letzte Höhle. Im Gegensatz zu den anderen Grotten war diese relativ schmal und klein. Hier war ein leises Pochen zu hören, das von dem Echo einer fernen Brandung untermalt wurde. Auf drei Gesteinsimsen, die ihm etwa bis zum Bauch reichten, konnte er jeweils eine kopfgroße Muschel ausmachen. Die linke war wie eine Herzmuschel geformt, jene in der Mitte war oval und ganz rechts lag das große Exemplar einer gedrehten Trichtermuschel. Als er näher an sie herantrat, bemerkte er, dass von jener ganz links das dumpfe Pochen ausging. Es klang wie ein Herzschlag. In ihrem Inneren glühte sie rot.

Aus der zweiten Muschel drang ein bläuliches Wabern, das von leiser Meeresbrandung begleitet wurde. Nur die Öffnung der trichterförmigen Muschel ganz rechts war in Düsternis getaucht. Kai lauschte, doch aus ihr war nicht das geringste Geräusch zu vernehmen.

»Das Herz der nachtblauen Stille«, raunte es müde hinter ihm, »besitzt die Gestalt einer Perle von außerordentlicher Schönheit. Sie liegt in einer der Muscheln.« Kai wandte sich um und erkannte das sorgenumwölkte Gesicht der Flaute. Kein Wunder, dass er keinen Windzug bemerkt hatte.

Die Windgestalt mit den hohlen Wangen blickte ihn schwermütig an und seufzte. »Leider darfst du nur in eine der Muscheln greifen, Junge. Du musst deine Wahl also sorgfältig treffen.«

Auch das noch. Kai wandte sich wieder den Muscheln zu und überlegte. Sicher gab der Name einen Hinweis. Herz deutete auf die linke Muschel. Dort pochte es. Nachtblau stellte er sich hingegen das tiefe Meer vor. Das sprach für die mittlere Muschel. Und Stille, nun ja, diese Eigenschaft wies ganz eindeutig auf jene ganz rechts. Also noch einmal.

Auch die Brandung schwoll auf und ab. Ganz wie ein Herzschlag. Überhaupt, was sollte das eigentlich sein, ein Herz der Stille, sei es nun rot oder schwarz oder nachtblau. Das ergab einfach keinen Sinn. Bei solchen Rätseln versagte er immer. Seinem Gefühl nach schloss er die linke Muschel aus. Aber vielleicht wollte ihm die Flaute ja einen deutlichen Hinweis geben. Also die pochende Muschel? Nein. Oder doch?

Es war zum Verzweifeln.

»Nun greif schon zu, Kleiner«, hauchte die Flaute hinter ihm. »Ich bin müde. Ist doch nicht so schwer.«

In diesem Moment huschte ein Lächeln über Kais Lippen. Alles falsch. Es gab noch einen anderen, weitaus sichereren Weg, das Herz zu finden.

Er überlegte, dann griff er gezielt in die düstere Muschel zu seiner Rechten und zog aus ihr eine große, schwarze Perle hervor. Zufrieden betrachtete er das Zauberobjekt. Kai drehte sich zu dem Windgeist um, der anerkennend eine Augenbraue hochzog. »Muss ich die ganze Strecke wirklich wieder zurückgehen ?«, fragte er in bemüht lässigem Ton. »Oder gibt es einen einfacheren Weg?«

»Es gibt einen einfacheren Weg«, wisperte die Flaute und schloss ihn in ihre Arme.