Zauberweihe

Fasziniert beobachtete Kai, wie die schwarze Perle in der brodelnden Flüssigkeit des Glaskolbens auf- und abhüpfte. Das Gefäß stand auf einem eisernen Dreifuß, unter den Magister Eulertin einen großen Brocken Harz gelegt hatte. Er diente als Nahrung für das Irrlicht aus Kais Zimmer. Das Lohemännchen hatte sich schon seit einer halben Stunde an dem Brocken festgebissen und brachte mit seiner Hitze die Flüssigkeit im Kolben zum Kochen.

Kai fand das äußerst interessant. Es gab also noch andere Materialien, die Irrlichter anzogen. Doch gebärdete sich die Flammengestalt auf dem Harzklumpen bei weitem nicht so verrückt wie auf Bernstein.

Nach ihrer Rückkehr ins Haus des Zauberers hatte der kleine Magister zwei ganze Tage damit zugebracht, die Bücher seiner Bibliothek zu konsultieren.

Bei alledem tat eine gewisse Eile Not. Die Windgeister hatten es sich nicht nehmen lassen, ihnen einen Wächter an die Seite zu stellen, der auf das Artefakt Acht geben sollte. Die Flaute hatte sie in ihren luftigen Armen zurück nach Hammaburg gebracht und hielt sich nun irgendwo über der Stadt auf. Selbstverständlich wusste keiner der Hammaburger Bürger, warum seit zwei Tagen eine völlig unerklärliche Windstille über der Stadt lag, die verhinderte, dass auch nur einer der stolzen Segler auslaufen konnte. Hätten sie es gewusst, nun, Kai war sich sicher, dass die aufgebrachten Krämer Eulertin und ihn mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt hätten. Die Einzigen, die in diesen Tagen gute Geschäfte machten, waren die Windmacher.

Immerhin, Magister Eulertin hatte mittlerweile herausgefunden, was zu tun war. Man musste das Herz der nachtblauen Stille zu gleichen Teilen den vier Elementen aussetzen, um seine Heilwirkung zu entfalten. Aus diesem Grund hatte Kai schon vor dem Morgengrauen damit begonnen, auf einer der Wiesen vor der Stadt einen Krug mit Tauwasser zu sammeln. Morgentau bestand der alchemistischen Lehre zurfolge zu gleichen Teilen aus den Elementen Luft und Wasser. Das Element Feuer indes wurde durch das Irrlicht repräsentiert. Irrlichter, so hatte Kai inzwischen erfahren, waren in Wahrheit mindere Geister dieses Elements.

Es fehlte jetzt nur noch die Erde.

In diesem Moment stob Kriwa zum Fenster herein. Draußen war bereits die Sonne untergegangen und so brachte sie kühle Nachtluft mit sich. In ihrem Schnabel hielt die Möwe ein grau glitzerndes Säckchen, in dem sich dunkle Brocken abzeichneten. Wie schon die Male zuvor landete der Vogel auf dem gusseisernen Buchständer und legte die Last auf den aufgeschlagenen Seiten des Codex ab. Kai blinzelte. Irrte er sich oder bestand der Beutel aus Spinnenseide ?

»Da ist sie«, krächzte Kriwa dem Magister zu. »Bester Humus aus den Harzenen Bergen. Amabilia lässt dich übrigens herzlich grüßen, Thadäus. Sie hätte im Austausch gern etwas Wolkengewebe und sie würde sich freuen, wenn du mal wieder zu Besuch kämest.« »Soso, tut sie das, ähem«, murmelte der Däumlingszauberer und hüstelte. Er schwebte auf seinem Gänsekiel zu dem Beutel und musterte das Gebrachte zufrieden. »Bestelle Amabilia, dass ich ihr das Gewebe noch diese Woche schicken werde. Und, äh, ich werde gern kommen, sobald ich etwas Zeit habe. Ähem.«

Kai musterte den Zauberer neugierig.

»Ach wirklich? Nun, ich bin jederzeit bereit, Euch zu ihr zu fliegen. Jederzeit!«, krähte die Möwe und putzte sich mit einem spöttischen Seitenblick das Gefieder. »Na ja. Wie gesagt. Im Moment bin ich natürlich etwas beschäftigt ...«

»Diese Amabilia ist eine gute Bekannte von Euch?«, fragte Kai bemüht unauffällig. »Äh, ja«, meinte Eulertin unwirsch. »Eine höchst erstaunliche Zauberin. Eine der besten. Der macht so schnell niemand etwas vor. Däumling, wie ich. Ja. Ähem. Dann hätten wir jetzt ja alles zusammen.«

»Was geschieht nun mit dieser Erde?«, wollte Kai wissen.

»Wir werden die Herzflüssigkeit darin filtern und sie auf diese Weise mit der letzten Elementarkomponente veredeln«, brummte der Magister wieder sehr geschäftig. Dann wies er Kai an, den Beutel aus Spinnenseide in einen vorbereiteten Trichter zu legen, der bereits in ein Stativ gespannt war.

»Da fällt mir ein, dass du mir immer noch nicht berichtet hast, wie du am Ende die Richtige unter den drei Muscheln ausgewählt hast.« Der Däumling warf Kai einen Seitenblick zu, während er mit seinen Zauberkräften eine Phiole aus geschliffenem Kristall anhob und direkt unter dem Trichter absetzte.

Kai musste grinsen. »Ganz einfach, ich bin eben nicht der Tölpel, für den Ihr mich manchmal haltet. Ich brauchte lediglich in mich zu lauschen. Das Tier in mir hatte nur vor einer der Muscheln Angst.«

Der Däumlingszauberer lachte. »Sehr geschickt. In der Tat. Das war eine gute Idee!« »Das Ganze war auf jeden Fall ziemlich unfair. Ich wette, die Winde wollten gar nicht, dass ich die Perle finde. Ich habe keine Ahnung, wie ich sonst auf das richtige Versteck hätte kommen können.«

Der Däumlingszauberer sah nachdenklich zu Kai auf und strich bedächtig über seinen Backenbart. Da huschte ein spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht. »Du irrst, Junge. Logik und Kombinationsgabe hätten dir ebenfalls den Weg gewiesen. Denn nach allem, was du mir von den Höhlen berichtet hast, haben dir die Winde genügend Hinweise gegeben. Du hast sie nur übersehen.«

»Welche Hinweise?«, fragte Kai erstaunt.

»Nun, die Perle befand sich in der großen Trichtermuschel, richtig?«

»Ja.«

»Die großen Trichtermuscheln in der ersten Höhle hätten dich im Falle eines Absturzes dein junges Leben gekostet. Die Lichtinseln in der zweiten Höhle besaßen ebenfalls die Form spitzer Muscheln. Und wenn es stimmt, was du sagst, bestanden die Verzierungen auf der Windharfe ebenfalls aus diesen Kalkgebilden. Du hast, wie man bei uns Däumlingen so schön sagt, die Wiese vor lauter Gräsern nicht gesehen.«

Verblüfft kratzte sich Kai am Kopf. Eulertin hatte Recht.

»Mach dir nichts daraus, Junge. Ich bin dir schließlich um einige hundert Jahre voraus.« Eulertin lachte abermals.

»Dafür frage ich mich«, sagte Kai, »woher Ihr wissen konntet, dass das Herz der nachtblauen Stille in der Kaverne der Winde versteckt war? Ich meine, diese Elfen haben damals doch sicher niemandem erzählt, wem sie die Perle anvertraut haben. Und die Winde haben es Euch gewiss auch nicht verraten, oder?«

»Oho!« Eulertin lächelte geheimnisvoll. »Mein menschlicher Zauberlehrling beweist Scharfsinn. Das, mein Junge, liegt daran, dass ich nicht der einfache Zauberer bin, für den du mich hältst...«

Kai runzelte die Stirn. Doch da es der Däumling nicht für nötig hielt, ihn weiter aufzuklären, griff er seufzend zu einer Holzzange, mit der er den heißen Glaskolben anhob.

»Ganz ruhig«, ermahnte ihn der Magier und schwebte flink neben den Aufbau. »Aus dem Trichter dürfen nur genau vier Tropfen fallen.«

Kai konzentrierte sich und überaus vorsichtig goss er etwas von dem brodelnden Tau auf die Erde. Sofort zischte und dampfte es. Über dem Humus kräuselten feine Dampfschwaden, die sich jäh zu vier vogelartigen Gestalten formten, die mit leisem Puffen in alle Himmelsrichtungen zerstoben.

Überrascht sah ihnen Kai nach.

»Aufpassen, Junge!«, rief Eulertin.

Selbst Kriwa blickte interessiert zu ihm herüber.

Rasch stellte Kai den heißen Kolben auf einem Holzblock ab und beäugte den Trichter. Zäh rann aus ihm der erste Tropfen. Er leuchtete feuerrot. Es folgten zwei weitere. Einer war tiefblau, der andere kristallklar. Und endlich bildete sich auch ein vierter. Er schimmerte in dunklem Braun. Kaum hatte er sich am Boden der Phiole mit den drei Brudertropfen vermengt, blähte sich das Gemisch schäumend auf, bis das Behältnis zur Gänze mit einer Flüssigkeit gefüllt war, die in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Was hatte das zu bedeuten? Unwillkürlich blickte Kai zu der schwarzen Perle in dem Glaskolben. Noch immer schimmerte das Herz der nachtblauen Stille in sattem Schwarz. Die ganze Zeit über war nicht zu sehen gewesen, dass es irgendetwas an der Tauflüssigkeit verändert hatte.

»Fertig!«, rief der Däumlingszauberer. »Vor dir steht das einzige Elixier der ganzen bekannten Welt, das in der Lage ist, die arkane Fraktur in deinem Innern zu heilen. Du musst die Flüssigkeit trinken, solange sie noch warm ist.«

Kai atmete tief ein. Ihm war feierlich zumute. All die Wochen über hatte er versuchen müssen, ein Zauberer zu werden, ohne seine Kräfte wirklich anrufen zu dürfen. Und wenn doch, dann war es ihm stets vorgekommen, als würde er mit Honig bestrichen vor der Höhle eines Bären tanzen.

Tief in ihm, irgendwo in der Bauchgegend, fühlte er ein wütendes Grummeln. Das Tier in ihm spürte, was sie planten. Kurzerhand trank er den Inhalt der Phiole aus. Das Gebräu schmeckte nach nichts. Doch kaum hatte das Wunderelixier seinen Magen erreicht, krampfte sich sein Gedärm zusammen. Kai ächzte und spürte von einem Moment zum anderen ein wohltuendes Kribbeln. Es verging, wie es gekommen war. Er fühlte sich ... normal. »Das war es?«, fragte Kai verblüfft.

»Das war es«, nickte Eulertin und brachte den Glaskolben mit der restlichen Tauflüssigkeit zum Schweben, um diese in eine Flasche abzufüllen. Einzig die schwarze Perle blieb am Glasboden liegen. Eulertin hob auch sie aus dem Kolben und beförderte sie in Kriwas Richtung. Die Möwe ließ das magische Kleinod sogleich in ihrem Schnabel verschwinden.

»So, bring das gute Stück zur Flaute.«

»Wartet!« Kai sah misstrauisch zum Fenster und flüsterte. »Müssen wir die Perle wirklich so schnell den Winden zurückgeben ? Ich meine, wir können damit doch noch viel Gutes bewirken.«

»Schäm dich, Junge«, fuhr ihn der Däumlingszauberer an und warf einen alarmierten Blick nach draußen. Von der Flaute war weder etwas zu sehen noch etwas zu hören. Leider hatte das nichts zu bedeuten. Denn unglücklicherweise waren genau das ihre wesentliche Eigenschaft.

»Merke dir, dass unsereins seine Versprechen hält. Genau das unterscheidet uns von den Magiern und Hexenmeistern der dunklen Seite. Nur sie umgeben sich mit Lug, Trug und Täuschung. Es sind jene Charaktereigenschaften, die den Schatten gestatten, deinen Geist zu vergiften.«

Kai wurde rot. »Tut mir Leid. So meinte ich das nicht.«

»Doch, genau das meintest du«, fuhr der Däumling aufgebracht fort. »Und jetzt ab mit dir, Kriwa!«

Die Möwe warf Kai einen scharfen Blick zu und flatterte im nächsten Augenblick wieder in die Dunkelheit hinaus.

Eulertin wandte sich wieder seinem Schüler zu. »Du musst noch viel lernen, Kai. Im Übrigen glaubst du doch wohl nicht, dass die sechs Winde es so einfach hinnähmen, würden sie je herausfinden, dass wir sie betrügen ? Sie würden sich zu einem Orkan vereinen, dessen Zerstörungskraft jenseits deiner Vorstellungskraft liegt. Ihr Zorn wäre grenzenlos. Hast du schon einmal gesehen, wie ein Orkan eine Schneise der Verwüstung durch eine Stadt schlägt ? Auch von diesem Haus würden sie keinen Stein auf dem anderen lassen. Was mit uns beiden geschähe, muss ich dir sicherlich nicht erklären, oder?«

Kai schüttelte hastig den Kopf. Er musste zugeben, dass seine Frage reichlich dumm gewesen war. In den vergangenen Wochen hatte er genug erfahren und gelesen, um zu wissen, dass man die fremdartigen Mächte der Welt auch als Zauberer nicht ungestraft herausforderte.

War er denn jetzt ein Zauberer?

»Und was ist mit mir?«, fragte er ernüchtert. »Bin ich jetzt geheilt ? Kann ich meine Kräfte endlich benutzen, ohne ständig Angst davor haben zu müssen, dass sie mich überwältigen?«

»Ja und nein«, brummte Magister Eulertin und flog zu einer der Truhen, um daraus eine Schachtel mit Kreidestücken hervorschweben zu lassen. »Dieses Tier, Junge, lauert in jedem von uns. Die Zaubermacht ist eine gewaltige Urkraft, die die Welt in ihrem Innersten zusammenhält. Sie bindet die vier Elemente miteinander, ebenso wie den Äther um uns herum oder die Sphären, die die Welt umschließen. Uns unterscheidet von den anderen Sterblichen nur, dass uns die Fähigkeit gegeben ist, diese Macht zu formen und zu lenken. Deine ganze Ausbildung dient allein dem Zweck, dich die Willenskraft und die Techniken zu lehren, mit der du dieses Kunststück zuwege bringst. Nie darfst du vergessen, was das eigentliche Wesen der Zaubermacht ist.«

Kai nickte und lauschte konzentriert. Eulertin ließ nun eines der Kreidestücke über den Boden sausen. Dort entstand ein perfekter Kreis, den der Magier mit zwölf magischen Zeichen versah.

»Die Pforte«, fuhr der Magister fort, »die dich und mich von dieser Urkraft trennt, ist zerbrechlicher als du glaubst. Versuche dir einen Damm vorzustellen, hinter dem sich ein See staut. Und nun stell dir vor, diese Pforte sei ein Fluttor. Du kannst das Tor einen winzigen Spaltbreit aufziehen, dann kommt dir etwas von dem Wasser entgegen. Du kannst das Tor aber auch weit öffnen. Dann werden dir gewaltige Fluten entgegen strömen. Leider ist die Zauberkraft kein normaler See, sondern eine Macht, die ein befremdliches Eigenleben führt. Öffnest du das Tor zu weit, sei es nun willentlich oder unwillentlich, so wie es bei dir geschehen ist, wirst du es nicht mehr schließen können. Die Wasser werden versuchen, den Damm an dieser Stelle einzureißen. Dies ist eine der größten Gefahren für einen Zauberer.«

»Das bedeutet, ich darf nie jene Schwelle überschreiten, bei der ich diese Tür nicht mehr schließen kann?«, fragte Kai nachdenklich.

»Ja, das heißt es.«

»Spüre ich diese Grenze denn?«

»Oh ja«, erklärte Eulertin ernst. »Normalerweise lässt sie sich nicht so einfach überwinden. Und wenn, dann ist dies mit großen Schmerzen verbunden. Man benötigt schon sehr starke Willenskräfte, um diese Barriere bewusst einzureißen.«

»Aber ich habe diese Barriere schon einmal eingerissen.«

»In der Tat«, antwortete Eulertin seufzend. »Vermutlich ist das geschehen, weil der Schmerz über den Tod deiner Großmutter jede Empfindung und jede natürliche Vorsicht in dir betäubt hat. Starke Gefühle, mein Junge, sind sehr gefährlich. Trauer und Verlust, aber auch übergroßer Stolz können dich allzu kühn und unvorsichtig werden lassen. Ein Magier muss lernen, seine Empfindungen im Zaum zu halten. Das ist der eigentliche Grund für die strenge Ausbildung, die du genießt.« »Ich darf also keine Gefühle mehr zeigen?«

»Nein«, widersprach Eulertin. »Aber du musst einen Weg finden, mit ihnen umzugehen. Leider benötigst du für die meisten magischen Manipulationen recht viel deiner Kraft. Je machtvoller der Zauber, desto mehr davon musst du durch dich hindurchfließen lassen. Weit mehr, als jenes Fluttor in deinem Innern aushält, um bei dem Bild zu bleiben. Deines hatte an jenem Tag in Lychtermoor sogar Schaden genommen. Risse, die wir nun wieder geflickt haben.«

»Aber irgendeinen Weg muss es doch geben?« Kai sah den Magister zweifelnd an. »Oder wie zaubert Ihr?«

»Es gibt einen Weg. Dieser besteht darin, das Tor zu stärken, damit unbeschadet größere Mengen der Zauberkraft hindurch strömen können. Das aber schafft man nur, indem man sich mit einem der vier Elemente verbündet. Dies nennt man die Große Weihe. Anschließend bist du ein richtiger Zauberer.«

»Das heißt, es gibt auch noch eine Kleine Weihe?«

»Ja, das heißt es. Vor dieser stehst du heute. Danach bist du kein einfacher Zauberlehrling mehr, sondern vielmehr ein Adept der arkanen Künste. Mit meiner Erlaubnis darfst du dann auch an den Versammlungen der Zauberer teilnehmen.« Aufgeregt betrachtete Kai den Kreidekreis. »Ehrlich? Was muss ich dafür tun?« »Freu dich nicht zu früh.« Ohne weitere Ausführungen bedeutete der Magister ihm, vor dem Kreidekreis Platz zu nehmen.

Typisch Eulertin. Bloß nicht zu viele Erklärungen auf einmal.

Kai nahm seufzend Platz und sah mit an, wie auf einen Wink des Magisters hin vier Tonschalen heran schwebten. In einer von ihnen brannte Wachs, in der zweiten lag etwas Erde, die dritte war mit Wasser gefüllt, nur die vierte schien gänzlich leer zu sein. »Pass jetzt gut auf, Junge«, forderte Magister Eulertin ihn auf. Er flog zur gegenüberliegenden Seite des Kreidezirkels und schickte den Gänsekiel wieder zurück zum Schreibpult. »Erinnerst du dich daran, wie ich neulich zu dir sagte, dass jeder Magier in besonderer Weise einem der vier Elemente verbunden ist?«

Kai nickte.

»Die Kleine Weihe besteht darin, herauszufinden, zu welchem!«, fuhr Eulertin fort. »Du kannst es dir nicht aussuchen. Man wird damit geboren. Allein mit diesem Element kannst du jene arkane Pforte in dir stärken. Danach wirst du weit mehr Zauberkraft an dich ziehen können, als es dir sonst möglich wäre. Allerdings werden die Kräfte, die du durch eine derart gestärkte Pforte hindurch rufst, auf eine ganz bestimmte Art und Weise geprägt sein. Ist dein Element beispielsweise die Luft, kann aus dir ein exzellenter Wind- und Wettermacher werden. Ist es hingegen die Erde, werden sich sogar die Zwerge darum reißen, dir eine Stellung anzubieten. Besonders machtvolle Zaubereien, die die jeweils anderen drei Elemente berühren, werden dir hingegen schwerer von der Hand gehen oder sogar gänzlich unmöglich sein.«

»Euer Element ist die Luft, richtig?«, fragte Kai.

»Richtig«, sprach Eulertin. »Aber besonders schwer zu erraten war das nicht. Jetzt wünsche ich, dass du eine der Tonschalen auswählst und sie in die Mitte dieses Beschwörungskreises stellst. Danach gehe in dich. Ich wünsche, dass du einen Elementargeist heraufbeschwörst.«

»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Kai beunruhigt. »Ich meine, nicht, dass ich zu viel Kraft an mich ziehe.«

»Nein«, erklärte der Däumling. »Nicht, wenn du dich an das hältst, was du gelernt hast. Die Gesten und Formeln, derer du dich bedienst, bewirken, dass du nur genau so viel Kraft an dich ziehst, wie du benötigst. Nur wahre Meister der arkanen Künste beherrschen die freie Zauberei ohne Formeln, doch wie ich vorhin schon erläutert habe, ist diese überaus gefährlich. Du hast das schon am eigenen Leib erfahren. Solche Zauberer müssen ihre Grenzen gut kennen. Dennoch wird dir heute jene Schwelle bewusst werden, die du künftig nicht überschreiten darfst. Der Kreis vor dir wird Weihezirkel genannt. Er verhindert, dass du ein anderes Element anrufen kannst, als jenes, zu dem du eine persönliche Verbindung besitzt.«

Kai nickte und griff entschlossen zu dem scheinbar leeren Tongefäß und stellte es in den Kreis. »Hoffentlich werde ich ein Luftmagier wie Ihr, Magister.«

Eulertin blickte ihn ernst an. »Alle Elemente haben ihre Vor- und Nachteile.« Kai hielt beide Hände mit gespreizten Fingern von sich und schloss die Augen. Er murmelte die elementare Formel, die Eulertin ihm beigebracht hatte, und konzentrierte sich. Er stellte sich einen der Sylphen vor, so wie er ihn in der Kaverne der Winde gesehen hatte. Es dauerte eine Weile und am Rande seines Bewusstseins stürmte und brauste es. Doch etwas verhinderte, dass das Brausen näher zu ihm drang. Kai strengte sich noch mehr an, versuchte noch mehr Macht an sich zu ziehen und spürte erstmals, dass er an eine gut fühlbare Grenze geriet. Doch die Beschwörung misslang. »Ich höre es, aber es geht nicht«, murmelte er enttäuscht.

Eulertin sog scharf die Luft ein, so als habe er erwartet, dass dies passieren würde. »Junge, dann probiere es gleich mit dem Feuer.«

Er sah den Däumlingszauberer überrascht an und tat, wie ihm geheißen wurde. Er wechselte die Tonschale mit jenem Gefäß aus, in dem die kleine Flamme brannte. Abermals konzentrierte er sich. Kaum, dass er in sich versank, war bereits von irgendwoher ein heftiges Prasseln und Knistern zu hören. Feuerschein erreichte seine Lider.

»Schwefel und Salpeter!«, entfuhr es Eulertin.

Kai öffnete erschrocken die Augen und sah vor sich in der Schale einen leuchtenden Feuerwusel. Das glühend rote Elementar ähnelte einem rübengroßen Gnom mit brennendem Haar und strubbeligem Funkenbart. Es war bei weitem nicht so hell wie ein Irrlicht, doch dafür gab der Feuerwusel mehr Hitze ab.

»Ihr habt mich gerufen, Herr?«, prasselte das kleine Wesen.

Kai sah verwirrt auf. Eulertin gab ihm ein Zeichen, den Feuerwusel wieder verschwinden zu lassen.

»Du darfst wieder gehen!«, rief Kai. Es war ein Puffen zu hören und das brennende Männlein verschwand in einem Funkenregen.

Aufgeregt sprang Kai auf und lachte. »Feuer! Magister, habt Ihr das gesehen ? Mein Element ist das Feuer! Jetzt verstehe ich auch, warum ich damals so viele von den Irrlichtern rufen konnte!«

»Ja, Feuer!«, presste Eulertin hervor. Er schwebte seufzend in die Höhe, schnippte mit den Fingern und aus einer Ecke kam ein Schwamm geflogen. Er tauchte in die Schale mit dem Wasser ein und begann von Geisterkräften gelenkt, den Kreidekreis fortzuwischen.

»So, wie Ihr das sagt, klingt das aber nicht gut.« Kais Euphorie verflog und er sah den Däumling verunsichert an.

»Setz dich, mein Junge!«

Eine der Truhen schwebte heran und kam direkt hinter Kai zum Stehen. Er ließ sich beunruhigt auf dem Deckel nieder und schaute dem Däumling dabei zu, wie dieser vor ihm hinauf zu dem Lehnstuhl schwebte. Nachdenklich nahm der Magister auf der ledernen Fläche vor der Eingangstür seines Häuschens Platz.

»Hör mir jetzt gut zu«, sprach der kleine Zauberer ernst und atmete schwer ein. »Was ich dir nun erzähle, ist überaus wichtig. Es betrifft dich, es betrifft uns und es betrifft die Zukunft, der wir alle entgegensehen. Du weißt bereits, dass wir in unruhigen Zeiten leben. Was du nicht weißt, ist, dass auf uns alle eine Zeit der Finsternis zukommen wird. Die Prophezeiung der drei Schicksalsweberinnen vom Nornenberg ist eindeutig. Darin heißt es, dass sich der Schatten im Norden erheben wird. Er wird die Sonne verschlingen und die Welt in Düsternis hüllen. Die einzige Hoffnung für die freien Völker bestünde darin, die letzte Flamme zu finden. Erlischt sie, ist die Welt zum Untergang verdammt.« »Ist das ein magisches Artefakt?«, fragte Kai und hoffte, Eulertin würde ausnahmsweise etwas gesprächiger sein.

»Nein«, antwortete der Däumlingszauberer. »Wir, die wir uns bemühen, das Verderben aufzuhalten, sind uns sicher, dass damit ein Zauberer gemeint ist. Ein mächtiger Magier, der dem Element des Feuers verschrieben ist. Auch Morgoya scheint diese Prophezeiung so zu deuten. Seit zwei Jahrzehnten war es ihr Bestreben, jeden Feuerzauberer zu vernichten, dessen sie habhaft werden konnte. Sie hat die legendären Sonnenmagier Albions ausgelöscht und schon seit Jahren entsandte sie Agenten in die freien Königreiche, deren einziges Ziel es war, jeden Zauberer zu stellen und umzubringen, der dem Feuer geweiht ist. Die letzten lebenden Feuermagier waren Magnus Flammenhöh und seine Gattin Ignis. Verräter haben sie vor einem Jahr beim Geburtstagsbankett des Stadtmagisters von Halla vergiftet. Zu eben dem Zeitpunkt, als Morbus Finsterkrähe versucht hat, Hammaburg zu Fall zu bringen. Selbst ich stand kurz davor, die Hoffnung zu verlieren. Doch Feenkönigin Berchtis weissagte uns, dass die letzte Flamme noch brenne. Schwach nur, aber sie sei da. Irgendwo da draußen. Nun, mein Junge. Mir scheint, wir haben sie heute gefunden.«

»Ich?«, japste Kai und starrte den Magister ungläubig an.

Eulertin nickte.

»Das kann unmöglich sein!«, rief Kai und sprang auf. »Wieso ich ? Da draußen müssen doch noch andere Zauberer sein. Richtige Zauberer! Ich ... ich bin doch bloß ein Irrlichtjäger. Ihr sagtet es selbst: Ich bin noch gar kein Magier!«

»Ja, das sagte ich«, seufzte Eulertin und erhob sich müde. »Und das ist das nächste Problem. Zum richtigen Zauberer wirst du erst durch die Große Weihe. Doch dabei kann ich dir nicht helfen. Ein Adept kann diese Weihe nur entsprechend von einem Zauberer seines eigenen Elements empfangen. Nur gibt es weit und breit keine Feuermagier mehr. Ich sage es dir nur ungern, aber du stehst mit deiner Fähigkeit völlig allein da.«

Kai wollte etwas sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Tja«, murmelte der Däumling niedergeschlagen. »So sieht es aus. Alles deutet darauf hin, dass du die prophezeite Flamme bist. Doch deine wahre Macht zum Vorschein bringen kann ich leider nicht. Niemand kann das.«

Kai stöhnte auf und fiel wieder auf den Deckel der Truhe zurück.

Was sollte er von dieser Eröffnung halten ? Sie machte ihm Angst.

Er wollte kein Auserwählter sein. Allein die Vorstellung, dass da draußen Wesen lauerten, deren einzige Aufgabe es war, ihn zu finden und umzubringen, brachte das Blut in seinen Adern zum Gefrieren. »Und diese ... diese Schicksalsweberinnen können sich nicht geirrt haben?«, flüsterte er zaghaft.

»Nein«, antwortete Eulertin. »Ihre Prophezeiungen erfüllen sich immer.« »Vielleicht gibt es ja doch noch einen anderen Feuerzauberer«, sagte Kai leise. Doch der Blick des Magisters brachte ihn zum Verstummen.

»Allerdings ...«, hob der Däumling an.

»Was allerdings?«

»Allerdings sind da einige Seltsamkeiten an dir, die ich nicht recht verstehe.« »Was meint Ihr?«

»Jeder Zauberer«, erklärte Eulertin, »legt sich bei der Großen Weihe einen Zauberstab zu. Ein solcher Stab ist ein nützlicher Fokus. Unter anderem kannst du darin Zauberkraft speichern. All das muss dich im Augenblick nur am Rande interessieren. Viel wichtiger ist, dass die Erschaffung des Stabes eigentlich zu dem Ritual der Großen Weihe zählt.«

»Ja, und?«, fragte Kai verwirrt. »Den werde ich dann wohl ebenfalls nie erhalten.« »Das ist nicht ganz richtig, denn du besitzt bereits etwas Ähnliches«, erklärte Eulertin und deutete zu Kais Gürtel. »Deine Flöte!«

»Meine Flöte?« Kai nahm das Instrument erstaunt in die Hand und betrachtete es. »Erinnere dich an das, was du mir über dieses Instrument berichtet hast. Beim Kampf gegen die Attentäter auf der Straße und später beim Lagerfeuer in Koggs' Viertel. Sie besteht sogar aus Eichenholz. Eiche wird dem Element Feuer zugeordnet, so wie Weidenholz der Luft.« »Und was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht«, meinte der Däumling. »Ihr Irrlichtjäger scheint bei euren Traditionen gewisse Kenntnisse bewahrt zu haben, die eigentlich nur Zauberer besitzen. Vielleicht sollte uns diese Erkenntnis Mut machen? Vielleicht heißt es aber auch nur, dass ...«

In diesem Augenblick begann einer der Donnerfrösche lauthals zu quaken. Eulertins Kopf flog zu dem Regal an der Wand herum, wo Kai die vier Froschgefäße zwischengelagert hatte. Einer der Frösche hüpfte wild auf seiner Leiter nach oben und stand kurz davor, aus dem Glas zu springen.

Alarmiert schoss der Magister in die Lüfte.

»Was ist denn?«

»Die Frösche sind mit magischen Fallen verbunden, die ich an wichtigen Orten in der Stadt errichtet habe«, zischte Eulertin. »Jener dort verweist auf das Haus von Stadtkämmerer Hansen. Du erinnerst dich an den freundlichen Ratsherrn mit der Nickelbrille?«

Kai nickte.

»Offenbar wird soeben bei ihm eingebrochen.«