Der Schattenmarkt
Als Kai wieder zu sich kam, war es Nacht. Der Mond war von einem blauweißen Hof umgeben und sein Silberlicht erfüll te Dächer und Fassaden mit kaltem Glanz. Schmerzhaft wurde sich Kai der harten Stufen in seinem Rücken bewusst. Wie lange lag er hier bereits ? In seinen Händen hielt er noch immer Fis Messer. Der Griff bestand aus Perlmutt und hatte die Form eines Delfins. Kai steckte die Klinge in seinen Gürtel. Leider war die Erinnerung an den Überfall und die wilde Flucht durch die Straßen lückenhaft. Doch er spürte noch immer ein seltsames Prickeln, als er an den Einsatz seiner Zauberkräfte zurückdachte.
Er musste fort von hier. Was hatte Fi noch gesagt? Kai konnte sich schwach daran erinnern, dass er ihre Verfolger ablenken wollte. Doch das musste inzwischen Stunden her sein. Hoffentlich war dem Elfen nichts geschehen.
Kai erhob sich und kämpfte ein leichtes Schwindelgefühl nieder. Ohne Zweifel, das wilde Tier in ihm lauerte nur darauf, wieder hervorzubrechen. Eine wichtige Lehre hatte er immerhin aus alledem gezogen: Er musste seine Gefühle besser kontrollieren. Er durfte Wut und Zorn nicht mehr freien Lauf lassen. Die verzehrenden Kräfte in ihm benutzten sie jedes Mal als Tor, ihn zu überwältigen.
Kai schaute sich um. Es war totenstill. In den schmutzigen Lachen spiegelte sich das Mondlicht und nicht weit von Kai entfernt war eine Ratte zu sehen, die an etwas nagte. Bloß weg von hier.
Das enge Gassengewirr, das er nun durchstreifte, war an vielen Stellen überbaut; mancherorts zweigten verschmutzte Höfe ab, in denen Müll lag und Katzen balgten. Einstöckige Buden wechselten sich mit schmalen Häusern ab, deren hohe Giebel sich eng aneinander drängten. Dazwischen stank es nach Moder und Abfällen. Das ganze Viertel zeugte von der Armut seiner Bewohner. Zu allem Unglück schoben sich hin und wieder dunkle Wolken vor den Mond, sodass die Gassen in tiefer Finsternis lagen. Erstmals fiel Kai auf, dass die nächtliche Dunkelheit in Hammaburg nicht so durchdringend war, wie er es aus Lychtermoor kannte. Vielmehr schien der Himmel weiter im Norden in einem schwachen, pastellfarbenen Licht zu glühen. Ein fernes Feuer? Kai hatte dafür keine Erklärung. Sehr seltsam.
Plötzlich hörte er leise Geräusche. Am Ende einer der Gassen war ein bläulicher Lichtschein auszumachen. Kai stieg vorsichtig über den Kadaver eines Hundes und riss entgeistert die Augen auf.
Vor ihm lag ein verwinkelter Platz, von dem beständiges Raunen und Wispern drang. Zwischen schäbigen Marktständen, auf denen geöffnete Truhen, Säcke und glitzernde Gegenstände lagen, huschten tief verhüllte Gestalten umher, die sich flüsternd unterhielten. Einige von ihnen hielten Laternen in den Händen, in denen es blau flackerte. Immer wieder wechselte ein Geldbeutel den Besitzer.
Der Platz grenzte an einen Kanal, an dem Boote festgemacht hatten, in denen schemenhaft Männer zu sehen waren, die Säcke, Bündel und Käfige nach oben reichten. »Feenflügel, Feenflügel«, raunte eine leise Stimme. »Junger Herr, seid Ihr an frisch gerupften Flügeln von Blütenfeen interessiert?«
Kai blickte überrascht zu einem Maskierten mit weitem Mantel auf, der unbemerkt an ihn herangetreten war. Unter der Maske verzogen sich blutleere Lippen zu einem geschäftstüchtigen Lächeln. Der Fremde enthüllte die Innenseite seines Mantels, an der ein Dutzend in allen Farben des Regenbogens schillernde Flügelchen hingen. »Keine zwei Tage alt. Die Körper kann ich auch liefern.«
Kai schüttelte angewidert den Kopf und so verzog sich die Gestalt wieder. Bei allen Moorgeistern, was war das hier?
Obwohl ihm alles andere als wohl zumute war, zog Kai sich die Kapuze seines Umhangs ins Gesicht und mischte sich unter das Publikum, das wispernd und raunend von Stand zu Stand schlich.
Was Kai auf dem heruntergekommenen Platz entdeckte, entsetzte ihn zutiefst. Die Händler versuchten nicht nur Hehlerware abzusetzen, sondern boten auch verfluchte Zaubermittel und abstoßende Jagdtrophäen feil. Einer pries für viel Gold das abgesägte Horn eines Einhorns an. Ein anderer verkaufte in verkorkten Flaschen das Blut von Mördern und Gehenkten. Dazwischen erblickte Kai Schachteln und Phiolen mit irrwitzigen Aufschriften: Tränen eines Spuks, Blick eines Basilisken oder Schatten eines Unsichtbaren.
Mitleidig starrte er zu einem engen Käfig, in dem eine geflügelte Schlange züngelte. Und regelrecht würgen ließ ihn das, was ein zahnloser Fischer auf einem Hackklotz anbot. Dort lag der abgeschlagene Fischschwanz einer Meernymphe. Kai wollte gar nicht wissen, was sich eingeschlagen in einer Decke hinter dem Stand verbarg. Unvermittelt wurde er auf ein überraschtes Raunen aufmerksam, das am Kanal seinen Anfang nahm und sich schnell ausbreitete. Im fahlen Mondlicht war eine schwarze Barke auszumachen, die soeben an der Kaimauer festmachte. Drei vermummte Gestalten betraten den Platz und wandten sich sogleich einer verschreckten Händlerin zu, die sich tief vor den Neuankömmlingen verneigte.
Kai trat stirnrunzelnd näher. Die Frau schaute sich um und öffnete unterwürfig den Deckel eine Kiste, aus der kurz ein silberhelles Licht drang. Kai wusste sofort, was sich darin verbarg: ein Irrlicht!
Jäh kam ihm ein fürchterlicher Verdacht.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch nicht verlaufen habt?«, wisperte eine Stimme neben ihm. Erschrocken wandte sich Kai um und erblickte eine Kapuzengestalt, die ihm nur bis zum Bauch reichte. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Natürlich, das war dieser Kobold vom Hafen! Der Hehler entblößte unter der Kapuze sein widerliches Rattengebiss.
Kai wollte sich schon davonmachen, als der Kobold einen schrillen Schrei ausstieß und mit seinem Spinnenfinger auf ihn deutete.
»Passt auf! Der hier gehört zum Zunftmeister der Windmacher!«
Ungezählte Augenpaare waren mit einem Mal auf Kai gerichtet. Doch bevor auch nur einer der Umstehenden seine Hand erheben konnte, war vom Kanal her wütendes Gebrüll zu hören.
»Arrrrrhhh!« Die mittlere der verhüllten Gestalten, die sich eben noch das Irrlicht angesehen hatten, schlug ihre Kapuze zurück und deutete mit einem gepanzerten Arm auf Kai. »Der Junge gehört mir!«
Es war Mort Eisenhand.
Die Leute auf dem Platz stoben schreiend auseinander, als auch die Begleiter des untoten Piraten ihre Tarnung aufgaben. Ihre knöchernen Fratzen suchten den Platz nach Kai ab, während sie ihre Entermesser zogen.
Längst hatte Mort Eisenhand die Händlerin vor sich zur Seite gestoßen und flankte mit einem großen Satz über die Kiste mit den Irrlichtern hinweg. Sein aufgedunsenes Gesicht war hassverzerrt.
Kai rollte keuchend unter dem Marktstand mit der geflügelten Schlange hindurch und hechtete dorthin, von wo er gekommen war. Doch hier verstellte ihm eine gedrungene Gestalt den Weg. Er schlug einen Haken und rannte auf eine andere Gasse zu. Hinter seinem Rücken brach ein Tumult aus. Das Wutgebrüll Eisenhands donnerte über den Platz. Kai warf einen gehetzten Blick über die Schulter und entdeckte den Geisterpiraten nur ein halbes Dutzend Schritte hinter sich. Eisenhand warf kurzerhand einen Marktstand um und zog seinen Säbel, mit dem er sich rücksichtslos einen Weg durch jene hindurchbahnte, die nicht schnell genug beiseite sprangen.
Kai hetzte weiter und tauchte in einen Hinterhof ein. Hastig bestieg er einen hohen Abfallberg und kletterte über eine niedrige Ziegelmauer. Schwer krachte er auf modernde Holzkisten, sprang wieder auf und stürmte weiter. Eisenhand war dicht hinter ihm. Ein schriller, metallischer Laut war zu hören und die Ziegelwand brach berstend auseinander.
»Komm zum alten Mort!«, hallte das kehlige Gebrüll seines Verfolgers über den Hinterhof. »Du bist mein. Du weißt es nur noch nicht!«
Voller Panik stürzte Kai auf einen der Kanäle zu. Doch statt einer Brücke entdeckte er am Ende seines Weges nur schlüpfrige Stufen, die zu einem kleinen Boot hinunterführten. Da er nicht schwimmen konnte, sprang er kurzerhand in das schwankende Gefährt und säbelte verzweifelt mit Fis Messer an der Vertäuung herum. Kai kam gerade noch dazu, das Boot mit der Ruderstange von der niedrigen Kanalmauer abzustoßen, als Mort Eisenhand auch schon heran war. Seine finstere Gestalt ragte nur wenige Schritte von ihm entfernt zwischen den Gebäuden auf und er deutete mit dem Arm aus Mondeisen drohend auf ihn.
»Dein Fluchtversuch ist unsinnig, Kleiner«, höhnte der Finsterling und enthüllte beim Sprechen faulige Zahnstummel. Eisenhand starrte ihn mit Augen an, in denen ein schreckliches Feuer glomm. Kai hatte Todesangst. Doch noch immer wagte er es nicht, seine Kräfte anzurufen. Sie lauerten nur auf eine Gelegenheit wieder hervorzubrechen. Kai fühlte, dass sie ihn diesmal überwältigen würden.
»Komm zurück«, forderte ihn der Pirat auf und zeigte ein fauliges Lächeln. »Hat doch keinen Sinn.«
Auf der anderen Kanalseite fiepte es. Ein Meer von Ratten walzte heran und stürzte sich ins Wasser. Kai schrie erschrocken auf und hatte Mühe, auf dem schwankenden Boot das Gleichgewicht zu bewahren. Abwehrend hob er das Ruder. Am unteren Kanalende war bereits jene Barke zu sehen, mit der Mort Eisenhand zum unheimlichen Markt gekommen war. Die beiden Skelette am Heck steuerten zügig auf ihn zu. »Einen wie dich könnten wir sogar lebend brauchen«, lockte Eisenhand mit Grabesstimme. »Du kannst mir nicht entkommen. Das Wasser ist mein Element!« »Nicht so voreilig, Eisenhand. Es ist auch das meine!«, schnarrte es aus dem Dunkeln. Überrascht drehte sich Kai um und entdeckte eine Schute, die in diesem Moment aus einem Seitenkanal glitt und auf seine kleine Nussschale zuhielt. Auf dem Heck konnte er zu seiner Erleichterung die zierliche Gestalt Fis ausmachen. Doch der Elf war es nicht, der gesprochen hatte. Am Bug des Kahns stand ein bärtiges Männchen mit Dreispitz, Schmähbauch und roter Säufernase, das rauflustig die Faust schüttelte. Der Unbekannte war nicht größer als ein Kobold.
»Koggs Windjammer!«, wütete Eisenhand mit Donnerstimme und hob seinen Arm aus Mondeisen. Über ihnen am Himmel begann es dumpf zu grollen und jäh zogen Sturm- wolken über der Stadt auf. »Wage es nicht, mir noch einmal in die Quere zu kommen. Ich bin jetzt kein Mensch mehr.«
Die knollennasige Gestalt kicherte und entkorkte mit den Zähnen eine Flasche, die mit einer schwach phosphoreszierenden Flüssigkeit gefüllt war. »Na, das trifft sich gut. Wie du weißt, bin ich das ebenfalls nicht.«
Der bärtige Kauz ließ die Flüssigkeit aus der Flasche ins Wasser plätschern. Der Kanal erstrahlte an der Stelle in fahlblauem Licht und die Ratten, die Kais Boot fast erreicht hatten, drehten hysterisch piepsend ab. Um sie herum gurgelte und plätscherte es. »Neiiiin!«, brüllte Mort Eisenhand zornig und ballte die eiserne Faust. Am Himmel über ihnen rumorte es. Die Wolken zogen sich spiralförmig zusammen und nahmen eine schwefelgelbe Färbung an.
In diesem Augenblick schäumte das Wasser um Kai herum auf. Sein Boot wurde von einer machtvollen Welle angehoben, die ihn hoch hinauf bis zu den Fenstern der angrenzenden Speicher trug.
Eisenhand brüllte vor Wut. Doch es war zu spät. Die gewaltige Flutwelle rollte auf ihn zu und spülte alles fort, was sich ihr in den Weg stellte. Kai stürzte nach hinten und konnte nur aus den Augenwinkeln mit ansehen, wie die Barke mit den Knochenmännern gegen eine Mauer geschmettert wurde. Mort Eisenhand traf die Wand aus Wasser am heftigsten. Mit Macht erfasste sie den Piraten und spülte ihn gurgelnd und fauchend die Gasse hinauf, aus der sie gekommen waren. Am Himmel flammte ein gleißender Blitz auf und schlug in einen der Hausgiebel ein. Funken stoben herab. Die Fluten beruhigten sich wieder und rauschend strömte das Wasser zurück in den Kanal.
»Los, her mit dir, du Landratte!«
Der Bug des Lastschiffes schrammte gegen die Nussschale, in der Kai lag, und er ergriff erstaunt die ausgestreckte Hand des kleinen Mannes mit der Knollennase. Mit mehr Kraft, als Kai ihm zugetraut hätte, zog der Fremde ihn zu sich auf den Kahn. Erst jetzt bemerkte Kai, dass sein Retter ein Holzbein besaß. »Danke.«
»Hier nicht für«, brummte der Dickbäuchige und schniefte großspurig. »Als mich damals vor Albion dieser gewaltige Fisch verschluckt hatte und ich nichts anderes besaß als eine Rolle Garn und dieses winzige Fischmesser, da ...«
»Nicht jetzt, Koggs!« Fi trat nach vorn und half Kai Platz zu nehmen.
»Pah, dann sauft doch Seewasser!«, brummte der kleine Kapitän und drehte sich beleidigt zu einer Seekiste um, in der weitere Flaschen standen. Sein Holzbein verursachte bei jedem seiner Schritte ein leises Klopfgeräusch. »Eigentlich solltet ihr jungen Heringe froh darüber sein, dass ich euch an meinen reichhaltigen Erfahrungen teilhaben lasse.«
»Wieso bist du nicht wie vereinbart dort geblieben, wo ich dich zurückgelassen hatte?«, fragte Fi und warf Kai einen verärgerten Blick aus seinen Katzenaugen zu. »Was heißt hier >wie vereinbarte«, stammelte Kai atemlos.
»Ist dir klar, dass Magister Eulertin alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um dich zu finden? Du hast wirklich ein Talent dafür, das Unglück anzuziehen.«
Obwohl Fi aufgebracht wirkte, meinte Kai in seiner Stimme eine gewisse Erleichterung mitschwingen zu hören.
»Darüber könnt ihr euch auch später noch unterhalten«, krähte Koggs Windjammer. »Wir müssen fort von hier. Eisenhand kann jeden Augenblick zurück sein. Noch mal lässt der sich nicht hereinlegen.«
Schnalzend entkorkte Koggs eine weitere Flasche. Darin wallte ein feiner Nebel. Zu Kais Verwunderung setzte der kleine Kapitän die Flasche kurzerhand an und nahm einen tiefen Schluck. Er schüttelte sich und rülpste laut. »Kraken und Polypen. Genau der richtige Stoff für lauschige Sturmabende. Welch eine Verschwendung.« Scheinbar achtlos warf er die Flasche hinter sich, wo sie an einer der Kanalwände zerschellte. Von einem Augenblick zum anderen umfing sie dichter Nebel. »Worauf wartet ihr?«, krähte der kleine Kapitän tatendurstig. Aus dem wabernden Grau drang das leise Pochen seines Holzbeins. »Hol an die Ruder, besetzt den Ausguck und dann auf zu heimischen Gewässern!«