18

Sie waren die Letzten, die im Speiseraum eintrafen. Jenny sah das Ding sofort, als sie den Raum betrat.

Es lag auf dem Tisch, auf dem die Überreste des Frühstücks verteilt waren. Niemand achtete mehr auf Ordnung.

Jemand hatte die Stelle freigeräumt, um es dort so zu platzieren, dass man es von allen Seiten betrachten konnte.

Alle Blicke richteten sich auf Florian, Sandra und sie, während sie näher kamen.

»Was ist das?«, fragte Sandra, woraufhin David – natürlich David – antwortete: »Ein Messer?« Soweit Jenny sehen konnte, handelte es sich um ein typisches Outdoormesser mit einer auf der Oberseite geriffelten Klinge von etwa zehn Zentimetern Länge. Der olivfarbene Griff schien aus Kunststoff zu sein, doch der war es nicht, woran Jennys Blick hängen blieb und der sie aufstöhnen ließ. Es waren die dunklen Schlieren auf der Klinge. Sie war keine Rechtsmedizinerin und hatte auch noch nie eine echte Tatwaffe gesehen, war aber dennoch sicher, dass es sich dabei um Blut handelte, womöglich menschliches Blut.

»Wir haben es gefunden«, erklärte Matthias in einer Art, als wolle er Besitzansprüche geltend machen. »Es lag in einem der unrenovierten Räume in einem abgetrennten Bereich.«

Jennys Magen rebellierte. »Ein … abgetrennter Bereich? Wo war das?« Ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, traf ihr Blick auf Timo, der erst die Stirn in Falten legte, als wundere er sich über ihre Aufmerksamkeit, doch schon im nächsten Moment ging eine Veränderung in seinem Gesicht vor sich, so als wäre ihm gerade etwas eingefallen. Etwas Unangenehmes. Mit einem Mal sah er sehr blass aus.

»Im hinteren Trakt des Hotels, im Erdgeschoss«, erklärte Matthias und lenkte Jennys Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Und das ist noch nicht alles. Das lag auch noch dort herum.« Er zeigte auf ein durchsichtiges Tütchen, ein Stück vom Messer entfernt auf der Tischplatte. Es hatte etwa die Größe einer Zigarettenschachtel und war zu einem Viertel gefüllt mit einer hellen, kristallinen Substanz.

»Was ist das?«, fragte Sandra.

»Ich bin zwar kein Experte«, erklärte David, »aber ich schätze, das sind Drogen. Wahrscheinlich Crystal Meth.«

Jennys Gedanken überschlugen sich. Ein unrenovierter Raum im hinteren Trakt …

»Du sagtest, das Messer lag in einem abgetrennten Bereich.« Jenny wandte sich wieder an Matthias. Das flaue Gefühl in ihrem Magen wuchs gleichzeitig mit ihrer Aufgeregtheit. »Wie war dieser Bereich abgetrennt?«

»Mit einer Plastikplane«, antwortete Annika anstelle ihres Mannes und sorgte damit dafür, dass Jennys Hände vor Aufregung zu zittern begannen. Sie zwang sich, nicht zu Timo hinüberzusehen.

»Die hing von der Decke, dahinter war es dunkel. Das sah ganz schön unheimlich aus. Unser geschätzter Reiseleiter hat uns den Raum gezeigt, es dann aber vorgezogen, draußen zu warten und uns allein reingehen zu lassen.« Sie warf Johannes einen verächtlichen Blick zu. Der setzte an, etwas zu entgegnen, winkte dann aber kopfschüttelnd ab.

»Jenny«, sprach Nico sie an, »sagt dir dieser Raum etwas?«

»Ja, ich war dort, als wir nach Thomas gesucht haben. Allerdings war ich nicht hinter der Plane. Ich bin abgelenkt worden.«

Sie konnte nicht anders, sie musste Timo anschauen. Dessen Gesicht hatte sich abermals verändert und war von einem roten Schimmer überzogen. Er starrte sie an, als wolle er sie mit seinem Blick in die Knie zwingen.

Jenny wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte den Hausmeister dort gesehen. Er hatte sie erschreckt, offenbar, um sie davon abzuhalten, hinter die Plane zu schauen. Wenn sie das jetzt aber erwähnte, wäre das der definitive Beweis für alle, dass Timo der Psychopath war. Er bot sich aufgrund seines Verhaltens ja auch geradezu als Täter an.

Jenny wusste selbst nicht, warum, aber sie war sich, was Timo anging, noch immer nicht sicher.

»Jenny?« Wieder Nico. Sein Blick wechselte zwischen ihr und Timo hin und her. »Möchtest du uns nicht sagen, was los ist?«

»Ich …«, stotterte sie und sah hilfesuchend zu Florian hinüber, der allerdings die Augen gesenkt hatte und vor sich auf den Boden starrte. Wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, was mit diesem Messer seinem Kollegen und Freund angetan worden war. Und vielleicht auch Anna.

Ihre Mitarbeiterin Anna, für die sie sich verantwortlich fühlte. Sie war noch nicht gefunden worden. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Wenn der Täter jetzt davon abgehalten wurde, zu ihr zurückzugehen und mit seinem Werk fortzufahren …

Erneut traf ihr Blick Timo, der ihr wohl ansah, was in ihr vor sich ging, denn er schüttelte in einer geradezu flehenden Geste kaum merklich den Kopf.

»Ich war dort«, sagte sie mit fester Stimme. »Und ich habe hinter der Plane ein Geräusch gehört.«

»Nein!«, sagte Timo leise, beschwörend.

»Ich habe gefragt, wer da ist, da hörten die Geräusche auf. Dafür hörte ich ein Schlurfen wie von langsamen Schritten.«

»Nicht!«

»Als ich näher gekommen bin, ist jemand hinter der Plane hervorgekommen und hat mich erschreckt.«

Erneut trafen sich ihre Blicke. »Es war Timo.«

»Nein verdammt!«, stieß Timo aus und sprang dabei regelrecht auf sie zu, doch bevor er sie erreichen konnte, stellten sich Nico und David ihm in den Weg. Er versuchte, sie wegzuschieben, doch Nico bekam Timos Arm zu fassen und drehte ihn so auf den Rücken, dass dieser vor Schmerzen das Gesicht verzog.

»Lass mich sofort los, du Arschloch!«, brüllte Timo. »Ich habe damit nichts zu tun, und das ist auch nicht mein Messer. Ich habe das Scheißding noch nie gesehen.«

»Das ist ja wirklich toll, dass dir das erst jetzt wieder einfällt«, giftete Annika Jenny an. »Das hättest du uns sofort sagen müssen und nicht erst dann, wenn wieder jemand verschwunden ist.«

»Ich habe doch gleich gewusst, dass dieser Kerl dahintersteckt«, schimpfte Matthias.

»Ich mach dich kalt, du Scheißkerl!«, schleuderte Timo ihm entgegen und versuchte, sich aus Nicos Griff zu winden, woraufhin David ihm die Faust in den Magen rammte.

Mit einem Stöhnen klappte Timo nach vorn und sackte in sich zusammen.

»Sorry, aber lass das lieber in Zukunft, Kollege«, warnte David ihn. »Beim nächsten Mal bleibt es nicht bei einem kleinen Hieb.«

Timo hob den Kopf und warf Jenny einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Sie glaubte zwar, den Vorwurf darin zu erkennen, dass sie diese Situation herbeigeführt hatte, aber von dem Hass, mit dem er zuvor Matthias und auch sie angesehen hatte, entdeckte sie nichts mehr.

»Wo ist Anna?«, fragte Annika.

Timo sah sie an und zog die Mundwinkel nach unten. »Woher soll ich das wissen?«

»Weil du sie irgendwo festhältst.«

»Einen Scheiß tue ich. Merkt ihr eigentlich nicht, was hier abgeht? Wir haben hier eine Gruppe piekfeiner Yuppies, die sich mal eben eine Auszeit leisten, und auf der anderen Seite zwei einfache Kerle in Arbeitsklamotten. Dann wird jemand umgebracht. Und wer kann es natürlich nur gewesen sein? Genau, einer von den Deppen im Blaumann. Und damit es auch wirklich jeder glaubt, schiebt man ihm ein Messer unter, und alles ist wunderbar. Glaubt ihr wirklich, ich bin so dämlich und lasse das Messer, mit dem ich jemanden gekillt habe, herumliegen? Damit ihr es finden könnt? Finden müsst?«

Genau diese Frage beschäftigte Jenny auch gerade, und sie war geneigt, Timo zuzustimmen.

»Ihr Idioten, denkt einfach mal nach. Mir ist ja wohl klar, dass eine Suchaktion gestartet wird. Da verstecke ich doch dieses gottverdammte Messer, wenn es meines ist.«

»Wo er recht hat, hat er recht«, bemerkte David in gewohnt unaufgeregter Art.

»Was ist mit den Drogen?« Matthias nahm das Tütchen und hielt es Timo entgegen. »Wahrscheinlich auch nicht deine, oder? Wer hat dir die wohl untergejubelt?«

Es war nicht Timo, sondern Horst, der antwortete. »Doch!«

Er stand etwas abseits und hatte das Geschehen von dort bisher kommentarlos verfolgt. Nun richteten sich alle Blicke auf ihn.

»Dieses Dreckszeug gehört ihm, das weiß ich. Ich habe oft genug versucht, es ihm auszureden. Aber das Messer da« – er deutete auf den Tisch – »das gehört ihm nicht. Timo ist ein Hitzkopf, und er mag aufbrausend sein, aber ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er niemals dazu fähig wäre, jemandem so etwas anzutun.«

»Sehr witzig!«, sagte Matthias. Jenny fand, dass er sich aufspielte wie ein Kommissar, der einen kniffligen Fall gelöst hatte. »Wir durften ja alle schon Zeuge sein, wozu er fähig ist. Ich ganz besonders. Und wie solche Drogen wirken, wissen wir auch. Wahrscheinlich hält er sich im Rausch für einen berühmten Arzt, der wichtige Operationen durchführt.«

»Ja, und dir würde ich auch mit Freude die Zähne entfernen, weil du so ein unglaublich riesiges Arschloch bist«, fauchte Timo ihn an. »Aber das ist nicht mein Messer, und ich habe das mit eurem Kumpel nicht getan. Und mit Annas Verschwinden habe ich auch nichts zu tun, verdammt.«

»Das wird dann die Polizei entscheiden, wenn man uns hier rausholt.«

»Das kann aber noch eine Weile dauern«, gab Johannes zu bedenken. »Was machen wir so lange?«

Matthias zuckte mit den Schultern, als würde die Antwort auf der Hand liegen. »Wir sperren ihn ein.«

»Was?«, brauste Timo auf. »Habt ihr sie nicht mehr alle? Was glaubt ihr, wer ihr seid? Das ist Freiheitsberaubung. Das kostet euch Kopf und Kragen, das schwöre ich euch.«

»Ich finde das auch schwierig«, gab Nico zu bedenken. »Die Tatsache, dass er irgendwann dort war, wo ihr dieses Messer gefunden habt, beweist gar nichts. Wir können uns nicht einfach als Polizei aufspielen und ihn einsperren. Er ist unschuldig, solange wir nicht das Gegenteil beweisen können.«

»Ach ja? Ist er das?« Matthias stemmte die Hände in die Hüften, eine Geste der Dominanz, die Jenny bisher noch nicht bei ihm gesehen hatte und die auch nicht so recht zu ihm passen wollte. Eher zu seiner Frau. Er schien zur Hochform aufzulaufen und sich als leitender Ermittler zu fühlen. »Mir persönlich ist es lieber, jemanden einzusperren, der mit hoher Wahrscheinlichkeit der Mörder ist, als abzuwarten, bis er mir die Zunge rausschneidet und die Augäpfel verdampft. Hier gibt es keine Polizei, also nehmen wir das in die Hand.«

Ellen betrachtete Timo eine Weile, dann wandte sie sich an Nico. »Was ist mit Thomas? Und mit Anna? Wer hat bei denen nach ihrem Recht gefragt? Vielleicht hat er Anna noch nicht … ihr wisst schon. Allein die Chance, ihr das Leben zu retten, wenn wir ihn jetzt einsperren, ist es wert, dass wir uns vielleicht irren und Timo zu Unrecht ein, zwei Tage weggesperrt ist.«

So ähnlich waren auch Jennys Gedanken gewesen, als sie von ihrer Begegnung mit Timo erzählte, doch schon jetzt fragte sie sich, ob das nicht ein riesiger Fehler gewesen war.

»Nein, ist es nicht, verdammte Scheiße«, stieß Timo aus. »Das ist Freiheitsberaubung, und darauf steht Knast.«

»Vielleicht sollten wir uns anhören, was unser Herr Reiseleiter dazu zu sagen hat?«, schlug David vor. »Eigentlich hat er ja die Verantwortung.«

Alle Blicke richteten sich auf Johannes, der resigniert den Kopf schüttelte. »Nein, habe ich nicht.«

David zog eine Braue hoch. »Nein?«

»Das müsst ihr demokratisch entscheiden.«

Damit stand er auf und wandte sich Richtung Ausgang, wobei er Sandra mit einem schwer zu deutenden Blick bedachte. »Ich enthalte mich der Stimme.«

Sekunden später hatte er den Raum verlassen.

»Also, stimmen wir ab«, entschied Matthias. »Wer ist dafür, Timo einzusperren, damit unser Leben zu schützen und Anna vielleicht zu retten? Hand hoch.«

Jenny sah sich als Erstes zu Sandra um, die ihren Blick erwiderte und den Kopf schüttelte. »Tut mir leid, aber dass du Timo dort gesehen hast, reicht für mich nicht, ihn seiner Freiheit zu berauben.«

»Für mich auch nicht«, sagte Jenny, womit sie Sandra sichtlich überraschte.

Als sie sich zu Florian umsah, hob der gerade zögerlich die Hand. Er bemerkte ihren Blick und senkte den Kopf. »Für Anna.«

Dass die Hände von Annika und Matthias oben waren, wunderte Jenny wenig, und dass auch Ellen dafür stimmte, hatte sie erwartet. Doch als auch Nico wie in Zeitlupe die Hand hob, war sie erstaunt.

Jenny war sicher, dass der Bergführer nicht so überzeugt von Timos Schuld war wie Matthias und Annika, das hatte er ja auch schon gesagt. Andererseits sprach tatsächlich vieles gegen den Hausmeister.

»Ich bin nicht überzeugt von dem, was wir hier tun«, erklärte Nico, »aber ich fühle mich für die Gruppe verantwortlich.« Dann wandte er sich doch direkt an Timo. »Es tut mir ehrlich leid.«

»Fick dich!«, entgegnete der Hausmeister.

»Was ist mit dir?«, wandte Matthias sich an David. »Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst, aber hier geht es nicht um mich, sondern um unser aller Leben, das wir schützen müssen. Also?«

Jenny fragte sich, wie David es schaffte, sogar in dieser Situation überheblich zu grinsen. »Dass es dir hier nicht um dich geht, glaube ich ebenso wenig wie, dass Timo unser Irrer ist. Ich war ja vorhin eine Weile mit ihm allein unterwegs. Vielleicht könnte er ein bisschen an seinen Umgangsformen arbeiten, und okay, von mir aus ballert er sich mit diesem Crystal-Scheiß dauerhaft die Hirnzellen weg, aber jemanden verstümmeln? Umbringen? Nein.«

»Das machst du doch nur, weil du gegen mich bist«, knurrte Matthias, woraufhin David ein bellendes Lachen ausstieß.

»So wichtig bist du nicht.«

»Was ist mit dir?«, sprach Annika Jenny an. »Du hast uns doch den entscheidenden Hinweis gegeben.«

»Ich habe gesagt, dass ich Timo in diesem Raum begegnet bin, sonst nichts.«

»Und?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das dürfen wir nicht.«

»Es steht also fünf gegen vier bei einer Enthaltung«, verkündete Annika, nachdem sie gesehen hatte, dass auch Horst die Hand nicht hob.

»Moment noch«, platzte Jenny heraus, obwohl sie nicht so recht wusste, was sie sagen wollte. Alle sahen sie an. Auch Timo.

»Bitte, überlegt es euch noch mal. Dass Timo in dem Raum war und vielleicht dieses Zeug da genommen hat, ist doch kein Beweis, dass er Menschen verstümmelt. Wenn ihr ihn jetzt einschließt, kann es trotzdem weitergehen, weil der wahre Täter sich irgendwo in diesem Hotel versteckt. Das Einzige, was ihr dann erreicht habt, ist, dass die Gruppe noch mehr geschwächt ist.« Sie spürte selbst, dass das ein sehr dünnes Argument war, aber sie musste es zumindest versuchen, das befahl ihr ihr Gewissen. Auf eine gewisse Art fühlte sie sich schuldig an dem, was gerade geschah.

»Also dann …« Matthias ignorierte ihre Bedenken und sah Nico an, der noch immer Timos Arm auf dessen Rücken festhielt. »Weg mit ihm.«