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Ohne lange zu überlegen, wandte Jenny sich um und ging zu Davids Zimmer. Ihr Puls raste, gleichzeitig hatte sie das Gefühl, ein Eisenring presse ihre Brust zusammen. Wo konnten Sandra und Florian sein? Sie musste sie finden, bevor es zu spät war.
Blechtür hatte Anna ihr mitgeteilt. Zweimal. Diese Blechtür musste der Schlüssel sein. Und Jenny wusste, dass sie schon eine Tür gesehen hatte, auf die diese Beschreibung passte. Aber wo?
Nachdem sie an Davids Zimmertür geklopft hatte und keine Reaktion erfolgte, versuchte sie es erneut und rief dabei verhalten seinen Namen. Sie musste versuchen, zumindest halbwegs leise zu sein. Der Wahnsinnige durfte noch nicht wissen, dass sie wusste, wer er war. Andererseits war sie ziemlich sicher, dass er sich nicht mehr auf der ersten Etage befand.
In Davids Zimmer regte sich immer noch nichts, also klopfte sie etwas fester, doch auch das blieb erfolglos. »Bitte«, flüsterte sie leise, »bitte öffne.« Und etwas lauter sagte sie: »David, ich brauche deine Hilfe. Bitte, sag doch wenigstens irgendwas.« Aber hinter der Tür blieb es totenstill.
Nach einem weiteren, verzweifelten Versuch gab sie auf und wandte sich ab. Nico! Sie musste es an Nicos Tür versuchen.
Doch auch der Bergführer reagierte weder auf mehrfaches Klopfen noch auf ihre verzweifelten Rufe.
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie den Kopf sinken ließ und mit geschlossenen Augen die Stirn gegen das Holz der Tür presste.
Wie war es möglich, dass weder David noch Nico reagierten? Nicht einmal durch die Aufforderung an sie zu verschwinden. Es war, als seien auch die Zimmer hinter diesen Türen leer.
Sie öffnete die Augen und hob den Kopf. Was, wenn David und Nico tatsächlich nicht in ihren Zimmern waren, genau wie Sandra und Florian? Aber wo sollten sie sein? Und vor allem, warum sollten sie die Räume verlassen, wo doch beide ausdrücklich betont hatten, dass sie sich dort verbarrikadieren und auf keinen Fall die Tür öffnen würden?
Gerade deswegen? War das alles ein Täuschungsmanöver gewesen? Aber gegen wen? Das hätte sich gegen sie gerichtet. Warum sollten sowohl David als auch Nico versuchen, sie zu täuschen? Die beiden konnten doch nicht ernsthaft glauben, dass sie, Jenny, etwas mit diesen grauenvollen Dingen zu tun hatte. Dass sie sich vor ihr schützen mussten.
Nein, es musste einen anderen Grund geben, warum keiner der beiden reagierte, da war sie sicher. Wie auch immer – sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie musste irgendetwas unternehmen, mindestens ein Leben konnte davon abhängen.
Sie blickte zu der Tür hinüber, hinter der das Zimmer von Matthias und Annika lag. Einen Moment lang haderte sie mit sich, doch dann gab sie sich einen Ruck und versuchte es dort. Das Ergebnis war allerdings das gleiche.
Als auch nach dem zweiten, vorsichtigen Klopfen kein Geräusch aus dem Inneren zu hören war, wandte Jenny sich verzweifelt ab.
Es schien, als sei sie plötzlich vollkommen allein in diesem Hotel. Was, wenn alle anderen außer diesem Irren tatsächlich … Der Gedanke ließ sie erschauern. Sie spürte, wie eine dumpfe, nie gekannte Panik sie umkreiste, bereit, sie jeden Moment anzufallen, in einen Abgrund zu reißen und vollkommen handlungsunfähig zu machen.
So etwas durfte sie nicht denken. Was auch immer der Grund war, dass die anderen nicht reagierten – er konnte unmöglich alle umgebracht haben.
Am wichtigsten war jetzt die Frage, wo Sandra und Florian steckten.
Blechtür … Wo hatte sie, verdammt nochmal, eine Blechtür gesehen? Und wann? Wann hatte sie sich irgendwo außerhalb der Lobby, ihres Zimmers oder des Kaminzimmers aufgehalten? Bei der Suche nach Thomas und bei der nach Anna. Dabei hatte sie sich die unrenovierten Bereiche im Erdgeschoss angesehen. Den großen Raum mit der Plastikplane, in dem Timo sie erschreckt hatte …
In Gedanken ging sie die Wege noch mal durch. Da gab es nirgendwo eine Blechtür.
Bei der Suche nach Anna war sie im Untergeschoss gewesen. Mit Florian. Der Gang … Rohre … der Raum, in dem sie beim zweiten Anlauf Anna gefunden hatten. Als sie zum ersten Mal dort vorbeigekommen war, hatte sie geglaubt, ein Geräusch zu hören. Da war ein Geruch … ölig, faulig. Verrostete Dosen auf Blechregalen …
Der Schrank! Er hatte zwei Blechtüren.
»O Gott …«, stieß Jenny leise aus und lief los.
Bei dem Gedanken, allein in den Keller gehen zu müssen, zog sich ihr Magen vor Angst zusammen. Ihr wurde schlagartig so übel, das sie schon befürchtete, sich erneut übergeben zu müssen.
Sie erreichte die Treppe, stieg hinab, durchquerte die Lobby. Dann kam sie zu der Tür, hinter der sich die Treppe ins Untergeschoss befand. Sie öffnete sie, verharrte und lauschte angestrengt in die Dunkelheit, bevor sie nach dem Lichtschalter tastete und die Neonröhren aufflammen ließ.
Nachdem sie erneut einige Sekunden konzentriert gelauscht hatte, setzte sie den Fuß auf die erste Stufe.
Tu es nicht!, beschwor die innere Stimme der Vernunft sie, und Jenny wusste, dass sie bisher gut daran getan hatte, auf sie zu hören. Du weißt, wie bescheuert du es in Filmen findest, wenn Frauen nachts allein in dunklen Wäldern oder Kellern herumlaufen, obwohl sie wissen, dass ein Mörder sich dort herumtreibt.
Dann dachte sie an Sandra und Florian, an Anna und Thomas, und brachte die Stimme zum Verstummen.
Am Fuß der Treppe angekommen, betrachtete sie den Korridor mit den unter der Decke verlaufenden Heizungsrohren, der sich vor ihr erstreckte.
Rohe Betonwände zu beiden Seiten, die alle paar Meter von kleinen Gängen und Türen unterbrochen wurden. Und in einer Entfernung von vielleicht fünfzehn Metern der Blechschrank.
Während sie langsam und vorsichtig auf ihn zuging, überlegte sie, was sie glaubte, darin zu finden. Der Schrank war voller Regale gewesen, auf denen irgendwelche Dosen und Gefäße vor sich hin schimmelten. Was sollte sie dort schon finden?
Noch fünf Meter.
Vielleicht einen Hinweis? Aber worauf? Sie wusste, wer der Wahnsinnige war, der Anna verstümmelt und Thomas und Johannes getötet hatte.
Noch zwei Meter. Dann stand sie vor dem Schrank. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Als sie die Hand hob, zitterte die so stark, dass Jenny befürchtete, sie würde stakkatoartig gegen das Blech der Tür schlagen, wenn sie versuchte, diese zu öffnen.
Sie atmete noch einmal tief durch, packte zu und zog die Tür mit einem Ruck auf.
Für einen Moment stand sie wie erstarrt, dann schlug sie eine Hand vor den Mund, gerade noch rechtzeitig, um den Schrei zu unterdrücken.