38
Jenny erhob sich und ging zu einem Sessel, der direkt vor dem Kamin stand. Sie ließ sich hineinfallen, rutschte in eine bequeme Position und blickte auf die lodernden Flammen. Ihr Innerstes fühlte sich an wie ein Kellergewölbe, in dem sich jeden Moment etwas Furchtbares abspielen konnte. Ein schwarzes Loch, das ihr alle Energie raubte.
Sie befand sich in einer Situation von solch surrealer Fremdheit, dass irgendwo in einer Ecke ihres Verstandes noch immer ein Teil von ihr darauf hoffte, endlich aufzuwachen und erleichtert festzustellen, dass dieser ganze Wahnsinn sich als das herausstellte, was es eigentlich sein müsste. Ein wirklich böser Traum.
Aber sie wusste, das alles war real.
Sie sann über Timo nach, über seinen kurzen Auftritt und darüber, dass niemand daran gedacht hatte, ihn zu fragen, wer ihn aus dem Kühlraum befreit hatte. War es am Ende sogar Matthias selbst gewesen? Aber warum sollte er das tun?
Und warum hatte Timo ihnen erzählt, dass Matthias bei Florian war und der sich ihm angeschlossen hatte? Welchen Nutzen hatte er davon?
Und schließlich die Frage aller Fragen: Wem traute sie zu, diese furchtbaren Dinge getan zu haben? Wer war derjenige, der Anna verstümmelt und Thomas und Johannes getötet hatte? War es überhaupt derselbe Täter? Immerhin war Johannes wahrscheinlich vergiftet worden, während die beiden …
Bevor sie sich die Frage beantworten konnte, kamen die anderen zurück. Nico trug eine rote Kunststoffbox vor sich her, die gefüllt war mit allerlei Konserven und Verpackungen.
»Das müsste für die nächsten zwei Tage reichen«, verkündete er und stellte die Box neben dem Getränkewagen auf dem Boden ab. »Alles Lebensmittel, die wir kalt essen können.«
Sein Blick fiel auf die Alkoholflaschen. »Ich denke, davon lassen wir besser die Finger. Wer weiß, was noch alles vergiftet ist.«
»Nun, zumindest der Wodka scheint okay zu sein«, stellte David fest und griff nach einer der Flaschen. »Andernfalls würden wir beide jetzt schon neben Johannes da draußen im Schnee liegen.«
Nico musterte die klare Flüssigkeit mit einem kritischen Blick. »Er war okay, als wir davon getrunken haben. Das war, bevor wir diesen Raum verließen. Wer weiß, ob er jetzt immer noch in Ordnung ist?«
»Was soll das heißen?«, fuhr Jenny ihn an. »Unterstellst du mir, ich hätte die Zeit genutzt, die ihr in der Küche wart, um Gift in den Wodka zu schütten?«
Nico schüttelte den Kopf. »Nein, ich …«
»Was, nein du?« Jenny war es egal, dass sie laut geworden war. Diese Unterstellung war eine solche Unverschämtheit, dass sie sich dagegen wehren musste. »Ich war doch die Einzige, die das hätte tun können, nicht wahr? Außer mir war ja niemand mit den Flaschen allein. Also kann doch wohl nur ich …«
»Nun zieh dir mal die Spritze aus dem Arm«, sagte David. »Schon vergessen, dass wir alle vorher den Raum verlassen haben, um Johannes nach draußen zu bringen? Auch du!«
Das stimmte. Fast. »Alle außer Florian«, sagte Jenny, nun wieder deutlich leiser.
David nickte. »Genau. Also käme er ebenso in Frage. Ganz davon abgesehen, dass zwischendurch jeder von uns in einem unbeobachteten Moment die Gelegenheit gehabt hätte, etwas in die Flaschen zu kippen. Es gibt also keinen Grund für dich, so auszuflippen. Nico hat dir nichts unterstellt, sondern lediglich eine logische Überlegung geäußert.«
Er betrachtete die Flasche, die er noch immer in der Hand hielt, und stellte sie dann auf den Tisch zurück. »Ich habe jedenfalls keinen Bedarf mehr nach einem Drink aus einer dieser Pullen.«
Nico setzte sich und vermied es, Jenny anzuschauen. Sie horchte in sich hinein, suchte nach einem Gefühl der Scham, weil sie ihn angegriffen hatte, fand aber lediglich Reste des Zorns über seine unverhohlene Anschuldigung.
»Hier«, sagte David und reichte Jenny eine Papierserviette, in der zwei feucht glänzende Würstchen lagen. »Frisch aus dem Glas. Nicht gerade ein opulentes Mahl und wahrscheinlich auch kein kulinarischer Genuss, aber das Glas war noch vakuumverschlossen, und man kann sie kalt essen.«
Jenny nahm ihm Serviette und Würste aus der Hand und nickte ihm dankbar zu, woraufhin David zu der Kiste zurückkehrte und Sekunden später mit dem gleichen Angebot neben Sandra stand.
Die zögerte jedoch. »Und wer sagt mir, dass du jetzt nicht irgendetwas da reingetan hast?«
David zuckte ungerührt mit der Schulter. »Niemand.«
Eine Weile, in der Sandra abzuschätzen schien, ob sie ihm trauen konnte oder nicht, sahen sie sich in die Augen, dann siegte wohl der Hunger, denn auch sie nahm die Serviette mit den Würstchen an.
Bevor David erneut zu der roten Box zurückkehren konnte, stand Nico aus seinem Sessel auf, ging zu der Kiste und zog selbst zwei Würste aus dem Glas, in dem noch weitere schwammen.
David beobachtete Nico kommentarlos dabei, wie er an Ort und Stelle die erste Wurst mit zwei Bissen verschlang, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte.
Mittlerweile drückte sich die Dunkelheit gegen die Oberlichter des Raums. Ob es noch immer schneite, war nicht mehr zu erkennen.
»Sag mal, Sandra«, sagte David, ebenfalls eine Wurst in der Hand, »du möchtest doch in deinem Zimmer übernachten. Schon mal daran gedacht, dass du dich damit in unmittelbarer Nachbarschaft von Sheriff Matthias und seiner Gang befindest?«
»Ja, das habe ich. Deshalb wäre ich euch auch dankbar, wenn ihr mich nachher bis zu meinem Zimmer begleitet.«
»Hm … Du möchtest also nicht mit uns zusammenbleiben, weil du befürchtest, einer von uns könnte der Irre sein. Andererseits möchtest du aber, dass der potentielle Irre dich zu deinem Zimmer begleitet, um dich vor den anderen potentiellen Irren zu beschützen, richtig?«, erwiderte Nico.
»Nein, so wie du es sagst, ist es sicher nicht richtig«, entgegnete Sandra. »Ich möchte einfach verhindern, mit nur einem aus der Gruppe zusammen zu sein, so wie das jeder von uns verhindern sollte. Eben weil jeder der Täter sein kann. Wenn wir jetzt also damit aufhören könnten, uns gegenseitig Dinge in den Mund zu legen, die nicht so gemeint und auch nicht so gesagt wurden, wäre das sicher hilfreich, findest du nicht?«
Langsam verlieren wir alle die Nerven, stellte Jenny fest. Aber war das ein Wunder?
Sie steckte sich das letzte Stück Wurst in den Mund, stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei ihr Blick wieder auf die Oberlichter fiel.
»Was denkst du, Nico, wie lange wird es wohl dauern, bis jemand auf die Idee kommt, nach uns zu suchen, wenn es endlich aufgehört hat zu schneien?«
Nico zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er klang noch immer etwas beleidigt, was so gar nicht zu dem Bild passte, das Jenny sich in den letzten beiden Tagen von ihm gemacht hatte.
»Kann sein, dass die Bergwacht schon versucht hat, uns über Funk zu kontaktieren, um nachzufragen, ob alles in Ordnung ist. Wenn sie keine Antwort erhalten, werden sie sicher aufbrechen, sobald es die Wetterlage zulässt.«
»Und wann wird das sein?«
Nun sah er sie direkt an. »Woher soll ich das wissen?«
»Ich dachte, ihr Bergführer habt Erfahrungswerte.«
Nico stieß ein humorloses Lachen aus. »Erfahrungswerte … Meine Erfahrungswerte sagen, dass es das, was wir hier gerade erleben, überhaupt nicht geben dürfte. Starke Schneefälle, okay, aber alles andere?«
David schürzte die Lippen. »Wir stellen also fest, es war eine Schnapsidee, die Handys nicht mitzunehmen. Darauf würde ich mich kein zweites Mal mehr einlassen. Digital Detox, okay. Kein Internet, kein Telefon, kein nix, alles gut. Aber es hätte auch ausgereicht, die Handys auszuschalten und zu vereinbaren, dass sie nicht genutzt werden. So viel Vertrauen sollte sein. Ich bin schließlich ein erwachsener Mensch, der das alles freiwillig mitmacht.«
»Klar«, entgegnete Nico, »wie viel Vertrauen man haben kann, hat ja die Tatsache gezeigt, dass Thomas sein Handy hochgeschmuggelt hat. Und?« Provozierend sah er David an. »Was hat es ihm genutzt? Nichts. Weil es hier oben kilometerweit kein Netz gibt. Sogar wenn jeder von uns ein Telefon dabeihätte, würde das nichts an der Situation ändern.«
David winkte ab. »Wie auch immer, ich weiß eines sicher: Wenn wir hier rauskommen, mache ich keinen Schritt mehr ohne mein Smartphone.«
Ein polterndes Geräusch aus Richtung des Eingangs zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, in der nächsten Sekunde stand Horst in der Tür.
»Was ist passiert?«, fragte Jenny
»Ich … ich habe mit Timo geredet.«
»Wo ist er?«, wollte Nico wissen.
»Ich weiß nicht, wo er sich versteckt. Irgendwo im Untergeschoss des hinteren, leeren Trakts. Er hat mich wohl gehört, als ich nach ihm suchte, und stand auf einem der Flure plötzlich vor mir. Er …« Horst rieb sich über die Augen und schüttelte dann den Kopf. »Er hatte ein Küchenmesser in der Hand. Ich komme nicht mehr an ihn ran. Er hat gesagt, ich solle verschwinden, sonst könne er für nichts garantieren. Er hat mich mit dem Messer bedroht. Mich!«
»Das klingt übel«, stellte David fest. »Was meinte er damit, er könne für nichts garantieren?«
Horst ging auf den Sessel zu, der ihm am nächsten stand, und ließ sich hineinfallen. »Das weiß ich nicht genau, aber ich habe in seinen Augen etwas gesehen, das ich nicht an ihm kenne. Eine Art … wilde Entschlossenheit. Ich glaube, dieser Vollidiot da oben hat mit seinem Geschwätz darüber, dass Timo dieser Wahnsinnige sei, und damit, dass er ihn eingesperrt hat, derart in alten Wunden herumgebohrt, dass Timo nicht mehr Herr seiner Sinne ist.«
»Und was denkst du jetzt?«, hakte Nico nach. »Glaubst du mittlerweile auch, er könnte derjenige sein?«
Horst sah David eine Weile an, ehe er leise antwortete: »Nein, das glaube ich immer noch nicht.« Jenny fand, dass es nur mäßig überzeugend klang. »Aber ich habe ihn so noch nicht erlebt, und ich weiß nicht, was passiert, wenn er auf Matthias trifft.«
»Du siehst ziemlich fertig aus«, bemerkte Sandra und deutete auf die Sessel, die Florian zusammengeschoben hatte und die noch immer im hinteren Bereich des Raums standen. »Was hältst du davon, wenn du dich mal ein bisschen hinlegst?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Nein, mir geht es gut.« Doch Sandra stand auf, griff das Kissen, das auf ihrem Sessel gelegen hatte, und ging damit zu Florians Lager. »Nun komm, das wird dir guttun, du wirst …« Sie verstummte abrupt und starrte auf die Sitzfläche von einem der Sessel.
»Was ist?«, fragte Jenny beunruhigt.
David war mit ein paar Schritten neben ihr, richtete seinen Blick auf die gleiche Stelle und sagte: »Hoppla!«
»Was ist denn? Nun sag schon.« Ohne zu wissen, warum, widerstrebte es Jenny, aufzustehen und selbst nachzusehen.
»Da in der Ritze des Sessels … steckt ein Messer«, erklärte Sandra, ohne den Blick abzuwenden. »Ich glaube, es ist das von Florian.«
»Dann hat er es sich wohl zurückgeholt und hier vergessen, als er Matthias gefolgt ist«, mutmaßte David. »Auffällig ist aber, dass keine Blutspuren darauf sind.«
»Was?« Nico stand auf. »Bist du sicher?«
»Bring eine Serviette mit«, forderte David ihn auf und deutete zu der Lebensmittelbox. Nico ging zu der Kiste und gab ihm eine der Papierservietten, mit der David vorsichtig das Messer aufnahm und es von allen Seiten betrachtete.
»Absolut clean. Ich würde mal sagen, jemand hat es sorgfältig abgewischt oder abgewaschen.« Sein Blick traf Jenny. »So viel zum Thema: Die Polizei wird die Spuren auf dem Messer auswerten.«
»Aber …«, setzte Jenny an, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Die Situation überforderte sie mittlerweile, so ungern sie sich das auch eingestand.
»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht«, sagte Horst, »aber für mich gibt es nicht viele Möglichkeiten. Am logischsten erscheint mir, dass Florian es abgewischt hat, weil er wusste, dass keine anderen Abdrücke außer seinen eigenen darauf zu finden waren. Damit wäre klar, dass nur er das Messer in der Hand gehabt hatte.«
»Oder Matthias hatte es an sich genommen, saubergemacht und es unbemerkt abgelegt, als er hier war und Florian mit ihm gegangen ist«, ergänzte David.
»Na, ich weiß ja nicht …« Nico wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Warum sollte er das tun?«
»Tja, warum sollte er das tun?«, wiederholte David.
»Zumindest würde das erklären, warum Florian das Messer nicht mitgenommen hat«, griff Jenny den Gedanken auf und war froh, ein logisches Argument gefunden zu haben, das Florian entlastete.
Sandra nickte. »Das stimmt. Florian hat es nicht selbst hier liegen lassen, weil er gar nichts davon wusste. Das wäre ja auch vollkommener Quatsch. Er soll sein Messer heimlich wieder an sich genommen und es abgewischt haben, um es dann, wenn er von hier verschwindet, im Sessel zu vergessen? Für wie wahrscheinlich haltet ihr das?«
»Es gibt da noch etwas anderes, das dafür sprechen könnte, dass Matthias hinter der Sache steckt«, warf David ein. »Nachdem er mitbekommen hatte, dass es sich um Florians Messer handelt, war er ja ziemlich schnell davon überzeugt, dass doch nicht Timo, sondern Florian der Wahnsinnige sein muss.«
Nico zuckte mit den Schultern. »Ja, und? Als wir Johannes rausgebracht haben, hatte er wieder Timo im Visier. Der hat sie doch nicht alle, das liegt ja wohl auf der Hand.«
»Davon abgesehen, dass ich dir bei Letzterem völlig zustimme … er hat da draußen in der Lobby tatsächlich wieder Timo beschuldigt, und zwar so laut, dass Florian es hier drinnen gehört haben muss. Was, wenn das nur eine Finte war, um Florians Vertrauen zu gewinnen und eine Gelegenheit zu bekommen, ihm das Messer unterzujubeln?«
Der Gedanke jagte Jenny kalten Schweiß auf die Stirn. »Wenn das stimmen sollte«, sagte sie leise, »dann ist Florian bei Matthias in großer Gefahr.«