28

Außer Nico und Horst waren alle im Kaminzimmer, die auch zuvor dort gewesen waren.

Sandra, die neben Anna auf dem Boden kniete und ihre Hand auf Annas Wange gelegt hatte, sah auf und fragte Jenny: »Wolltest du nicht etwas aus deinem Zimmer holen?«

»Ja«, entgegnete Jenny knapp. »Eigentlich. Ich muss euch was sagen.« Sie wandte sich um, aber Florian war nicht zu sehen. Er war ihr nicht gefolgt, als sie sein Zimmer verlassen hatte. Vielleicht war er jetzt ebenso verschwunden wie Timo. – Und aus dem gleichen Grund: weil er befürchten musste, von den anderen eingesperrt zu werden. Oder Schlimmeres.

War sie schuld daran?

Nein, so durfte sie nicht denken. Sie musste es den anderen sagen. Wenn Florian tatsächlich etwas mit diesen grauenhaften Verstümmelungen an Thomas und Anna zu tun hatte – was sie einfach nicht glauben konnte – und sie es den anderen verschwieg, trug sie zumindest eine Mitschuld, falls noch mehr geschehen sollte.

»Ich habe …«

Horst betrat den Raum, über seiner Schulter hing eine braune Tasche. Jenny wartete, bis er sich gesetzt hatte, bevor sie erneut begann.

»Ich habe gerade in Florians Zimmer eine Entdeckung gemacht, von der ich euch erzählen muss.« Sie schluckte gegen das plötzliche Kratzen im Hals an. »Allerdings möchte ich, dass ihr zuvor etwas wisst: Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er nichts mit dieser Sache zu tun hat.«

»Nun mach es nicht so spannend«, sagte David.

»Auf Florians Nachttisch lag eine Messerscheide. Eine leere Messerscheide. Sie gehört zu seinem Messer, das ihm gestohlen wurde.«

»Lass mich raten: Das ist das Messer, das unser lieber Matthias gefunden hat, stimmt’s?«

Jenny sah David ernst an. »Ja, das ist es.«

»Was?«, stöhnte Ellen auf. »Florian? Aber … warum hat er uns das nicht gesagt?«

»Weil er Angst hatte, für den Täter gehalten zu werden. Wenn man bedenkt, was einige von euch mit Timo gemacht haben, kann man es ihm ja auch nicht übelnehmen.«

»Da machst du einen kleinen Denkfehler, liebe Jenny«, sagte David im Plauderton. »Als das Messer auftauchte und er erkannte, dass es seines ist, aber nichts sagte, hatte noch niemand etwas mit Timo getan. Erst, als du erzählt hast, dass du ihn gesehen hast, wurde Timo eingesperrt. Also konnte das nicht der Grund für Florians Schweigen gewesen sein.«

Johannes schüttelte den Kopf. »Das wird ja immer verrückter. Aber das heißt doch, Florian …«

»Das heißt«, fiel Jenny ihm ins Wort, »dass das blutige Messer, das Matthias gefunden hat, Florian gehört und dass es ihm gestohlen wurde. Nichts anderes heißt es.«

»Aber von wem wurde es gestohlen?«

»Ich schätze mal von dem Wahnsinnigen, der damit Thomas’ Zunge herausgeschnitten hat«, antwortete Sandra an Jennys Stelle und erhob sich. »Und das kann letztendlich jeder von uns gewesen sein.«

David sah demonstrativ zur Tür. »Und wo ist Florian jetzt?«

Jenny zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Er ist in seinem Zimmer geblieben, als ich zu euch gekommen bin. Er befürchtete … ihr wisst schon.«

»Dann verwette ich meinen knackigen Hintern darauf, dass er mittlerweile irgendwo in den hintersten Winkeln dieses Gebäudes verschwunden ist.«

»Da hast du leider verloren.« Alle wandten sich dem Eingang des Zimmers zu, in dem Florian mit hängenden Schultern stand.

»Es tut mir leid, dass ich euch das verschwiegen habe, aber vielleicht könnt ihr mich ein kleines bisschen verstehen.«

Als niemand darauf antwortete, kam er herein und blieb neben einem leeren Sessel stehen. »Das Messer lag auf meinem Nachttisch, seit wir angekommen sind. Ich weiß nicht, wann es gestohlen wurde, weil ich nicht mehr daran gedacht habe.«

»Aber wie konnte jemand einfach in dein Zimmer gelangen und es an sich nehmen?«, hakte Johannes nach.

»Keine Ahnung! Vielleicht habe ich die Tür mal offen gelassen?«

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich«, erklärte Horst. »Die Türen fallen automatisch ins Schloss, wenn man sie loslässt, und können nur mit dem Zimmerschlüssel geöffnet werden.«

»Was ist mit den Kartenlesegeräten, die an den Türen angebracht sind?«

»Die funktionieren noch nicht. Die werden erst aktiviert, wenn alle Türen und Schlösser erneuert und die Computer installiert sind.«

Johannes hob die Hände. »Das heißt also, der Dieb muss einen Schlüssel gehabt haben.«

Alle Blicke richteten sich auf Horst, der den Kopf schüttelte. »Nun fangt nicht schon wieder mit Timo und mir an. Natürlich haben wir einen Zweitschlüssel, mit dem wir in Florians Zimmer gekommen wären, aber ebenso gut kann sich jemand Florians Schlüssel genommen haben.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit.« David sah Florian eindringlich an. »Und zwar, dass das Messer gar nicht gestohlen wurde.«

»Natürlich ist es geklaut worden«, widersprach Florian lautstark. »Denkt doch mal nach, verdammt. Warum sollte ich mit meinem Messer so etwas Schreckliches tun und es dann so platzieren, dass es bei der ersten Suchaktion gefunden werden muss? Das ist doch völlig bescheuert.«

»Das Problem ist, dass jemand, der Menschen so etwas antut, in anderen Kategorien denkt als wir, und dass Dinge, die uns unlogisch erscheinen, für ihn ihre eigene Logik haben«, entgegnete David und machte eine Pause, als wolle er Florian die Möglichkeit geben, etwas zu erwidern. »Dieser Typ ist ein Irrer, also wird er auch wie ein Irrer denken«, fuhr er fort, als Florian nicht reagierte.

»Das sehe ich etwas anders«, warf Sandra ein. »Wer immer das war, gehört sehr wahrscheinlich zu den Leuten, mit denen wir hier seit unserer Ankunft zusammen sind. Er ist also einer von uns. Und bisher hat er es hervorragend verstanden, sich so zu verhalten, dass er nicht aufgeflogen ist. Heißt das nicht, dass er sehr wohl intelligent und in der Lage ist, logisch zu denken und folgerichtig zu handeln?«

Darauf wusste offensichtlich niemand eine Antwort.

Jenny ging zu Anna und beugte sich zu ihr hinunter. Ihr Kopf bewegte sich kurz, als Jenny ihr die Hand auf die Stirn legte, die sich noch immer kühl anfühlte.

Sie überlegte, wie lange es her war, dass sie Anna die Tropfen gegen die Schmerzen gegeben hatte, und griff nach dem kleinen Fläschchen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie sehr Anna an ihren Verletzungen litt.

»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Florian kleinlaut. »Mit mir, meine ich.«

»Was sollen wir mit dir vorhaben?«, fragte Nico, der in diesem Moment den Raum betrat.

Als keiner Anstalten machte, es ihm zu erklären, erhob sich Jenny – nach einem Blick auf Annas Gesicht – und berichtete ihm von ihrer Entdeckung und dem bisherigen Gespräch.

Als sie fertig war, schürzte Nico die Lippen und sah Florian eine Weile nachdenklich an.

»Meiner Meinung nach haben wir keine andere Wahl, als zusammenzubleiben und aufeinander aufzupassen. Nur der Täter weiß, was wirklich geschehen ist. Es genügt völlig, dass wir bereits jetzt in drei Lager gespalten sind, finde ich.«

»Ganz meine Meinung«, bestätigte Johannes.

Auch David nickte. »Mir ist zwar nicht sehr wohl dabei, aber ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Es genügt schon, dass wir darauf achten müssen, nicht von Timo oder dem Dorf-Sheriff Matthias und seiner ultrasportlichen Lady überfallen zu werden, da müssen wir uns nicht durch weitere Unstimmigkeiten noch zusätzlich schwächen.«

»Timo wird uns nicht überfallen«, erklärte Horst. »Im Übrigen bin ich aber eurer Meinung.«

»Du kommst dir wohl immer noch besonders schlau vor, du Großkotz, was?« Matthias stand plötzlich in der Zimmertür, in der rechten Hand ein großes Tranchiermesser, in der linken ein Fleischerbeil. Es hätte komisch gewirkt, wäre da nicht dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen gewesen.

»Sieh an, du traust dich in die Höhle der Bösen?«, spottete David.

»Wie du siehst, bin ich für alle Fälle gerüstet, Arschloch. Wir haben draußen gestanden und gehört, was Jenny Nico gerade erzählt hat, und müssen wieder einmal feststellen, wie bescheuert ihr seid. Wir wissen jetzt, dass es Florians Messer war, das wir gefunden haben. Blutverschmiert. Und ihr überlegt noch? Ich fasse es nicht. Wie viele Beweise braucht ihr denn noch?«

»Ihr habt draußen gestanden und uns belauscht?«, hakte David nach. »Und wo ist deine Frau? Beim Training?«

»Moment mal«, sagte Nico. »Warst du nicht felsenfest davon überzeugt, dass Timo der Täter ist? Und jetzt?«

»Der Beweis mit dem Messer ist ja wohl mehr als eindeutig«, wich Matthias aus.

David schüttelte den Kopf, als sei er fassungslos. »Hundertfünfzig Millionen Spermien, und du hast gewonnen?«

»Ich an eurer Stelle würde mich jedenfalls von dem Kerl fernhalten.« Matthias ignorierte David und starrte Florian mit hochrotem Kopf an.

»Dann tu es.« David deutete an Matthias vorbei in Richtung Lobby. »Lauf, Forrest, lauf.«

In Matthias’ Blick loderte der blanke Hass, als er ausstieß: »Fast wünsche ich mir, dass du dieser Irre bist und mir zu nahe kommst.«

Davids Gesicht verdunkelte sich so schnell, als wäre ein Schalter umgelegt worden. »Überleg dir gut, was du dir wünschst, kleiner Matthias. Manchmal werden Wünsche ja wahr.«

Die Stille, die für einen Moment eintrat, als die Blicke der beiden sich ineinander verkeilten, war fast greifbar. Dann wandte Matthias sich mit einer theatralischen Geste ab und war im nächsten Moment verschwunden.

»Das was sehr provokativ«, bemerkte Jenny. »Ich finde, wir sollten uns zusammenreißen. Gerade weil die Situation so extrem ist und schnell die letzten Tabus fallen. Aber wenn wir dem nachgeben, machen wir alles nur noch schlimmer.«

Sie hatte es schon wieder getan. Ein weiteres Mal hatte sie anderen oberlehrerhaft erklärt, wie sie sich verhalten sollten.

»Sorry, aber wie dieser Mensch sich benimmt, das geht einfach nicht. Wenn ich darauf nicht reagieren und ein bisschen Dampf ablassen würde, ginge ich ihm wahrscheinlich irgendwann an die Gurgel.«

»Das könntest du?«, fragte Ellen. »Neigst du zu Gewalttätigkeiten?«

»Keine Angst, dir würde ich höchstens einen Klaps auf den Po geben«, erwiderte David.

»O Gott!«, sagte Sandra und verdrehte die Augen. »Du lässt aber auch keine Gelegenheit für einen dummen Spruch aus, oder? Wobei, der war nicht nur dumm, der war sexistisch und wirklich dämlich.«

David nickte. »Ja, da hast du wohl recht, und ich entschuldige mich auch dafür. Aber nur unter der Bedingung, dass alle versprechen, keine dämlichen Sprüche mehr zu machen.« Und mit einem Blick auf Horst fügte er hinzu: »Und dass derjenige von uns, der Timo als Erster trifft, ihm verrät, dass Matthias und seine Frau jetzt allein in ihrem Zimmer hocken.«

»Ich muss euch mal etwas fragen.« Johannes lenkte die Aufmerksamkeit geschickt auf sich. »Ich habe mir Gedanken gemacht. Zum Beispiel darüber, dass irgendjemand ganz richtig bemerkte, dass es für eine einzelne Person ziemlich schwierig gewesen sein muss, Thomas’ schweren, schlaffen Körper von A nach B zu schaffen. Das sehe ich auch so. Dann habe ich mir wieder und wieder die Situation vor Augen geführt, als Matthias das Messer gefunden hat … und es stimmt. Ich habe das Messer erst gesehen, als er es mir entgegengehalten hat. Dass es vorher auf dem Tisch gelegen hat, kann ich also nicht bestätigen. Dann dieses seltsame Verhalten von Matthias und Annika. Sie haben sich von uns abgesondert, weil sie uns angeblich misstrauen, aber ganz ehrlich … Bin ich eigentlich der Einzige, der ernsthaft in Betracht zieht, dass die beiden diese furchtbaren Dinge gemeinsam gemacht haben?«