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Diese Gedanken hatte Jenny auch schon gehabt, sie allerdings gleich wieder verworfen, so wie sie jede Überlegung verwarf, mit der sie jemanden verdächtigte. Auch, was Florian betraf.

Ihre Angst, einen der anderen zu Unrecht einer so unfassbar schrecklichen Tat zu beschuldigen, war viel zu groß, als dass sie einen Verdacht laut aussprechen würde.

Aber der Gedanke war da gewesen.

»Ich finde, Matthias ist ein Vollidiot, dem ich mit Wonne gern einfach mal eins in die Fresse hauen würde«, sagte David. »Zudem ist er eine Marionette seiner Frau, aber … ich kann mir nicht helfen, das traue ich ihm nicht zu. Dazu hat er nicht die Eier in der Hose.«

»Ich denke, sein Benehmen hat damit zu tun, dass ihn diese Situation vollkommen überfordert und im Hintergrund seine Frau ihm jeden Schritt souffliert«, sagte Jenny.

Nico lachte kurz auf.

»Was glaubst du denn?«, wollte Sandra wissen, woraufhin Nico den Kopf hin und her wiegte. »Ich gehe nach dem Ausschlussverfahren vor, und dabei stelle ich fest, dass ich mir zwar bei niemandem aus unserer Gruppe – und das betrifft alle – wirklich vorstellen kann, dass er zu dem fähig ist, was Thomas und Anna angetan worden ist, aber in dem Bewusstsein, dass es zweifellos einer von uns gewesen sein muss, halte ich tatsächlich Matthias am ehesten dazu für fähig. Allein oder mit Annika.«

»Ist denn die Möglichkeit, dass sich ein oder mehrere Fremde hier irgendwo versteckt halten, für euch vom Tisch?« Ellen wandte sich mit dieser Frage an alle.

»Möglich ist das schon«, erwiderte Nico. »Aber wenn das so wäre, dann müssten diese Fremden sich gut im Hotel auskennen, so unsichtbar, wie sie sind.«

Daraufhin schwiegen alle und starrten nachdenklich vor sich hin. Jenny ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

Nico, der auf der Armlehne eines Sessels saß und in den Kamin schaute, in dem der Holzscheit fast heruntergebrannt war, hatte einiges von seiner unbekümmerten Art verloren. Doch für ihn würde Jenny ihre Hand ins Feuer legen. Sosehr konnte kein Mensch sich verstellen, da war sie sicher.

Horst hatte einen Ellbogen auf der Lehne seines Sessels abgestützt und knetete mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe, während sein Blick gegen die Wand gerichtet war.

Florian hatte sich an den äußeren Rand des Sofas gesetzt, als gehöre er nicht mehr dazu, und sah so aus, als würde er jeden Moment losheulen. In den vergangenen Tagen hatte sie feststellen müssen, dass sie ihn längst nicht so gut kannte, wie sie gedacht hatte. Sie fragte sich, ob er noch mehr Geheimnisse mit sich herumtrug.

Ellen hatte das Gesicht in ihren Händen vergraben. Hier und da zuckten ihre Schultern, als würde sie weinen. Sie hatte sich ihren ersten Einsatz im neuen Job wohl auch anders vorgestellt. Manchmal wunderte Jenny sich über Ellens Naivität. Von einer jungen Frau mit ihrer exzellenten Ausbildung hätte sie sich anderes erwartet.

Ihre Überlegungen wurden von Sandra gestört, die aufstand und zu Anna hinüberging. Neben der Matratze ließ sie sich auf die Knie sinken und legte ihre Hand auf Annas Stirn, zog sie aber gleich wieder zurück und prüfte mit zwei Fingern den Puls an Annas Hals.

Sofort beschleunigte sich Jennys Herzschlag. »Was ist? Alles okay mit ihr?«

Sandra starrte ein paar Sekunden lang regungslos auf den Boden, dann nickte sie. »Sofern man in ihrem Zustand von okay reden kann, ja. Ihr Puls ist regelmäßig.«

Halbwegs beruhigt nickte Jenny ihr zu und beobachtete sie dabei, wie sie sich wieder erhob, aber nicht zurück zu ihrem Sessel ging, sondern sich neben Johannes setzte, der sich den Platz am entgegengesetzten Ende des Sofas, möglichst weit weg von Florian, ausgesucht hatte.

»Ist alles okay?«, fragte Sandra. Johannes antwortete jedoch so leise, dass Jenny ihn nicht verstehen konnte, zumal er sich ein Stück weit zu Sandra vorgebeugt hatte.

Während sie sich unterhielten, versuchte Jenny, in ihren Gesichtern zu lesen, was ihr aber nicht gelang.

»Ich sehe mal nach dem Wetter.« Nico riss Jenny aus ihren Gedanken.

»Es schneit, was denn sonst?«, sagte Ellen mit weinerlicher Stimme. »Man könnte denken, es hört überhaupt nicht mehr auf.«

»Ich werfe mal einen Blick aus einem Fenster in der ersten Etage und schaue nach, wie der Himmel aussieht. Vielleicht ist ja ein Ende in Sicht.«

»Du willst allein da hochgehen?«, fragte Ellen in einem Ton, als zweifle sie ernsthaft an Nicos Verstand.

»Vergiss nicht, dass Häuptling Hackebeil da oben auf dem Kriegspfad ist«, warnte auch David ihn.

Nico winkte ab. »Ich komme schon klar. Ich denke, Matthias hat einfach nur Angst. Ich werde mich ihm nicht nähern.«

Er hatte den Raum kaum verlassen, als auch Horst sich aus seinem Sessel hochstemmte. »Es nützt nichts, ich sollte nach der Heizung sehen. Ein Ausgleichsbehälter ist nicht in Ordnung, und ich muss mich darum kümmern, damit uns nicht die ganze Anlage um die Ohren fliegt.«

»Ich dachte, wir wollten zusammenbleiben«, beschwerte sich Ellen mit dünner Stimme. »Was, wenn einer von euch nicht zurückkommt? Sollen wir dann wieder eine Suchaktion starten? Ohne mich, ich mache das nicht noch mal mit. Ich habe keine Lust, diesem Irren in die Arme zu laufen.«

Erneut zuckte Horst mit den Schultern. »Ich muss die Anlage kontrollieren, ob es mir gefällt oder nicht. Aber Matthias hält sich ja in seinem Zimmer auf, und vor Timo habe ich keine Angst. Niemand muss vor ihm Angst haben. Er ist nur auf der Flucht vor den Leuten, die ihn zu Unrecht eingesperrt haben.« Dabei sah er unentwegt Ellen an, die den Blick beschämt senkte.

»Ist es okay für dich, wenn ich mitkomme?«, fragte Florian und erhob sich von seinem Platz. »Ich muss mal ein bisschen hier raus.«

Horst zögerte, nickte dann aber. »Du solltest es nicht in den falschen Hals bekommen, aber dann möchte ich, dass noch jemand mitgeht.«

»Du glaubst also tatsächlich, dass ich das war?«

»Ich glaube, dass es jeder gewesen sein kann. Und wenn du es nicht warst, kannst du nicht wissen, ob ich vielleicht dieser Irre bin. Es ist also für uns beide sicherer, wenn noch eine dritte Person dabei ist.«

»Ich begleite euch«, sagte Jenny, in der Hoffnung, dass sich vielleicht eine Gelegenheit ergab, mit Florian zu reden, während Horst sich um die Heizung kümmerte. Florian war offensichtlich nicht begeistert von der Idee, äußerte sich aber nicht, als Horst erwiderte: »Von mir aus, also, gehen wir.«

»Mal eine Frage am Rande«, sagte David, als sie gerade Anstalten machten, den Raum zu verlassen. »Wie sieht es denn mit Essen aus?«

Ellen schüttelte den Kopf. »Wie kannst du in dieser Situation an Essen denken?«

»Irgendwann müssen wir ja mal wieder etwas zu uns nehmen. Und dir wird es vielleicht auch ganz guttun, wenn du ein wenig Ablenkung hast. Du hast doch bisher mit Nico zusammen gekocht. Was hältst du davon, wenn wir beide was zusammenstellen? Wenigstens ein paar Brote.«

»Davon halte ich überhaupt nichts. Wenn ich nur an Essen denke, wird mir schon schlecht.«

David sah zu Sandra und Johannes hinüber, die noch immer in ihr Gespräch vertieft waren. Sandra hatte eine Hand auf Johannes’ Unterarm gelegt und wirkte entspannt.

»Sandra? Johannes?«

Beide sahen ihn fragend an.

»Was sagt ihr zum Thema Essen?«

»Ich glaube, ich kriege keinen Bissen runter«, entgegnete Sandra, und auch Johannes schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht.«

Nico kam zurück ins Kaminzimmer und blieb neben dem Eingang stehen. »Viel habe ich zwar nicht gesehen, aber es könnte sein, dass der Himmel aufklart. Außerdem fliegen da oben ziemlich die Fetzen. Im Zimmer von Matthias und Annika war es so laut, dass ich Annika bis auf den Flur hören konnte.«

»Und worum ging es?«, wollte David wissen.

»Das weiß ich nicht, es war einfach nur laut.«

»Wollen wir mal los?«, fragte Horst, an Florian und Jenny gewandt. Sie nickten und verließen mit ihm das Zimmer. Jenny ging hinter dem Hausmeister und vor Florian und stellte fest, dass sie sich unwohl dabei fühlte, ihren Mitarbeiter im Rücken zu haben.

Sie erreichten die Treppe und stiegen wortlos hinab, liefen den Gang mit den Heizungsrohren entlang und erreichten schließlich eine Stahltür, hinter der ein gedämpftes Rauschen zu hören war, das zu einem Dröhnen wurde, als Horst die Tür öffnete. Er wandte sich zu ihnen um. »Ich brauche etwa fünf Minuten. Vielleicht wartet ihr lieber hier? Ist ziemlich laut da drin.«

»Ja, das machen wir«, entgegnete Jenny schnell. Das war die Gelegenheit, noch mal mit Florian zu reden.

Als die Tür hinter Horst ins Schloss fiel, zögerte sie nicht lange.

»Ich glaube dir, dass dein Messer gestohlen worden ist.« Sie sah Florian dabei fest in die Augen. »Und ich hoffe, du verstehst, dass ich es den anderen trotzdem sagen musste.«

»Nein, das verstehe ich nicht«, antwortete er eisig. »Wenn du mir wirklich glauben würdest, hättest du geschwiegen. Es würde für die anderen nämlich keinen Unterschied machen, ob sie das nun wissen oder nicht. Es war einfach völlig unnötig, dass du mich in diese Situation gebracht hast.«

Jenny schüttelte vehement den Kopf. »Das stimmt nicht, Florian. Nicht ich habe dich in diese Situation gebracht, sondern du selbst hast das getan. Außerdem mussten die anderen es wissen, allein schon deshalb, weil alle darüber nachdenken müssen, wer dir dein Messer wann und wie gestohlen hat. Vielleicht bringt uns das auf den wahren Täter.«

»Nein, verdammt. Ich glaube, du hast es den anderen gesagt, weil das für dich eine willkommene Gelegenheit war, allen mal wieder zu zeigen, dass du die überkorrekte Chefin bist, die nicht die kleinste Pflichtverletzung ihrer Mitarbeiter duldet.«

Jenny war so überrascht, dass sie nach Worten suchte. »So siehst du mich?«

Florian stieß einen zischenden Laut aus. »Nun tu doch nicht so. In der Firma wissen alle, dass du dich hochgedient hast, indem du dem Fuchs jede kleine Verfehlung gesteckt hast. Denkst du vielleicht, das hätte keiner bemerkt?«

»Aber ich …«, stammelte Jenny vollkommen überrumpelt und ärgerte sich, als sie spürte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Ich dachte immer, wir kommen wirklich gut miteinander aus.« Sogar ihre Stimme klang weinerlich. »Habe ich mich so sehr getäuscht? Sehen Thomas und Anna das auch so?«

Florian setzte an, etwas zu sagen, schwieg aber, als er ihre nassen Wangen sah, und senkte den Blick. Jenny drängte ihn nicht, sondern ließ ihm die Zeit, die er offensichtlich zum Nachdenken brauchte.

»Ich könnte jetzt ja sagen, denn sie können sich nicht mehr dazu äußern, aber … das wäre gelogen. Nein, sie mögen dich beide. Haben dich beide gemocht. Und ich … ach Scheiße, es tut mir leid. Ich weiß selbst, dass du hart gearbeitet hast, um dahin zu kommen, wo du bist. Ich war nur so sauer, dass du das mit dem Messer …« Er sah sie wieder an. »Tut mir leid.«

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Horst kam aus dem Heizungskeller. »Fertig«, sagte er und wischte sich die Hände an einem grauen Lappen ab. »Jetzt ist wieder für eine Weile Ruhe.«

Er sollte sich täuschen.