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»Geht und fangt ein paar Fische zum Abendessen, ihr beiden.« Seraph machte eine scheuchende Geste zu Lehr und Rinnie. »Ich kümmere mich ums Frühstücksgeschirr und bereite das Zaumzeug zum Pflügen vor. In den nächsten Wochen wird es für uns alle viel Arbeit geben, und wir haben nur noch ein wenig Salzfleisch übrig. Ich hätte wirklich nichts gegen eine Forelle. Packt euch etwas zum Mittagessen ein und fangt, was ihr könnt.«
»Was ist mit dem Eintopf, den wir gestern aus Jes’ Hasen gemacht haben, Mutter?«, fragte Lehr. »Davon sollte doch noch genug übrig sein. Du wirst nicht den ganzen Tag brauchen, um das Zaumzeug zu überprüfen; wir sollten so bald wie möglich anfangen zu pflügen.«
»Morgen ist früh genug«, erwiderte Seraph entschlossen. »Gura hat heute früh den letzten Rest des Eintopfs gefressen« - oder er würde es tun, sobald sie ihn damit fütterte.
»Papa würde dich nie ohne Schutz zurücklassen«, sagte Lehr, hin und her gerissen zwischen Pflicht und Vergnügen.
Rinnie zupfte an seinem Ärmel. »Ich denke, Gura ist abschreckend genug - du weißt doch, wie er sich gegenüber Fremden verhält. Und wie oft kommen schon Leute hierher?«
Lehr biss die Zähne zusammen. »Ich habe Jes heute früh noch nicht gesehen«, sagte er.
»Er hat die Nacht im Wald verbracht«, erwiderte Seraph. »Ich nehme an, er wird heute Abend zurückkommen. Wenn ihr ihn seht, sagt ihm, dass ich Brot backe.«
»Dann kommt er bestimmt«, meinte Rinnie. Sie packte bereits Käse und Fladenbrot in ein Tuch und band es zusammen. »Komm schon, Lehr. Wenn wir nicht bald gehen, werden die Fische nicht mehr beißen.«
Er gab nach. Rasch drückte er Seraph einen Kuss auf die Stirn, nahm den Arm seiner Schwester und ging mit ihr zur Scheune, wo sie die Angelausrüstungen aufbewahrten.
Seraph sah ihnen lächelnd hinterher und drehte sich dann wieder um, um das Frühstücksgeschirr zu spülen und danach den Brotteig zu mischen.
 
»Gehen wir denn nicht zum Fluss?« Rinnie raffte die Röcke, um den Hang hinauf mit Lehr Schritt halten zu können. Er nahm sie nicht oft zu Angelausflügen mit. Für gewöhnlich ging Lehr alleine und manchmal in Begleitung von Jes. Wenn Rinnie angeln wollte, musste sie es meist mit ihren Eltern tun.
»Nicht gleich. Ich dachte, wir versuchen erst den Bach. Jes hat mir einen guten Platz gezeigt, an dem die Forellen sich gerne sonnen. Ich habe ihn noch nicht ausprobiert, aber …«
»Aber wenn Jes sagt, es ist ein guter Platz, werden wir bestimmt Erfolg haben«, beendete Rinnie den Satz vergnügt.
Die weiche Ledersohle ihres Schuhs rutschte über einen Stein, und Lehr drehte sich um und hielt seine kleine Schwester an der Schulter fest, damit sie nicht fiel.
»Sei ein bisschen vorsichtiger«, sagte er streng. »Die Steine sind hier immer noch feucht vom Tauwasser. Ich will dich heil zurückbringen.«
Rinnie schnitt hinter seinem Rücken eine Grimasse, aber dann achtete sie genau darauf, wo sie hintrat, damit er ihr nicht wieder helfen musste. Er war ein recht brauchbarer älterer Bruder - wenn er nur aufhören würde, Papa sein zu wollen.
Rinnie behielt Lehrs Rücken im Auge, als er dem Serpentinenpfad vorbei an alten, umgestürzten Bäumen folgte. Muskeln ließen sein vom Vorjahr stammendes Hemd an den Schultern eng werden. Er würde bald ein neues brauchen. Sie seufzte; sie wusste schon, wer dieses Hemd nähen würde. Mutter konnte zwar nähen, aber sie mochte es nicht besonders.
Sie fragte sich, wann sie Jes wohl treffen würden. Sie begegnete ihm immer irgendwo, wenn sie ohne ihn in den Wald ging. Lehr sagte oft, das sei das Zuverlässigste an Jes.
Jes arbeitete schwer, aber es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er Pflug und Pferd mitten auf dem Feld stehen ließ, wenn ihm danach war. Und im Frühjahr war er noch schlimmer. Papa sagte, das liege daran, dass der Winterschnee ihn einengte. Bis zum Mittsommer ging Jes dann nur noch einmal in der Woche wandern und nicht mehr jeden Tag. Und bei der letzten Ernte hatte er beinahe jeden Tag mitgearbeitet.
Lehr bog vor Rinnie von dem Waldpfad ab, dem sie gefolgt waren, und schlitterte den steilen Hang einer kleinen Schlucht hinab. Etwa auf halber Höhe musste er langsamer werden und sich seinen Weg durch das Unterholz bahnen, das den größeren Teil des Hangs dort überzog. Die Zweige rissen an Rinnies Röcken, bis sie ein ganzes Stück von Lehr entfernt war, der den Hang bereits hinter sich gelassen hatte und nun auf der anderen Seite wieder nach oben kletterte. Sie versuchte, sich zu beeilen, und blieb prompt mit einer Haarsträhne an den Dornen eines wilden Rosenbuschs hängen.
»Warte!«, rief sie und wollte die Haarsträhne ungeduldig abreißen, was alles nur noch schlimmer machte.
»Warten?«, sagte eine interessierte Männerstimme vom gegenüberliegenden Felskamm aus.
Als sie nach oben schaute, sah sie Storne, den Sohn des Müllers, der zusammen mit ein paar Freunden auf sie hinunterstarrte. Papa sagte immer, der Müller gebe Storne nicht genug zu tun. Wenn ein junger Mann nichts zu tun habe, richte er nur Unfug an.
Dann hatte Papa Rinnie direkt in die Augen gesehen und sie angewiesen, sich von Storne fernzuhalten, wenn er andere Jungen dabeihatte, ganz gleich, wie höflich sie sich gaben, denn ein Junge, der seine Freunde beeindrucken wollte, würde Dinge tun, die er allein nie tun würde. Die Jungen, mit denen Storne heute zusammen war, machten auf Rinnie keinen besonders guten Eindruck: Olbeck, der Sohn des Verwalters, und Lukeeth, dessen Vater zu den wohlhabenderen Kaufleuten im Dorf gehörte.
Rinnie zog das Messer aus der Scheide am Gürtel und schnitt die widerspenstige Haarsträhne ab, dann kam sie aus dem Gebüsch. Weiter bewegte sie sich nicht, weil man vor Raubtieren nie davonlaufen soll. Das Messer behielt sie in der Hand, als hätte sie es einfach vergessen.
»Rinnie?«, rief Lehr ungeduldig. Er hatte Storne, der nicht lauter als nötig gesprochen hatte, offenbar nicht gehört.
»Hier«, rief sie.
Sie wollte keinen Ärger anfangen, indem sie sich anmerken ließ, dass Storne und die anderen Jungen sie nervös machten, also sagte sie nichts weiter, aber etwas in ihrer Stimme musste Lehr beunruhigt haben, denn er kam im Laufschritt zurück. Er betrachtete die abgeschnittene Haarsträhne am Rosenbusch, dann schaute er nach oben und sah Storne und seine Freunde.
»Du hättest dir das Haar zusammenbinden sollen«, schimpfte er.
Ihre Erleichterung verschwand, und sie war nur noch gekränkt, dass er sie vor diesem Publikum kritisierte.
»Na, wenn das nicht das Reisendensöhnchen ist«, sagte Lukeeth, dunkeläugig und ein wenig größer als Storne.
»Weiß dein Vater, dass du wieder vor deinem Tutor ausgerissen bist?«, erwiderte Lehr so freundlich, dass Rinnie am liebsten den Mund aufgerissen hätte, zumal er ihr die Schuld an der Sache mit dem Haar gegeben hatte. Lehr hatte Mutters aufbrausende Art, und in den letzten Jahren hatte er »Junge« nur noch als Schimpfwort betrachtet.
»Mein Lehrer wagt nicht, es ihm zu sagen«, lachte Lukeeth. »Denn dann werde ich Vater verraten, was der Dummkopf in seiner Wasserflasche hat, und er wird ebenso rausfliegen wie sein Vorgänger. Ist das da deine kleine Schwester? Noch ein Reisendengör, genau wie du.«
»Hübsches Ding«, stellte Olbeck lässig fest.
Nun war Rinnie ernsthaft besorgt. Lehr war zäh, und ihr Vater hatte ihm ein paar gute Tricks beigebracht, ebenso wie ihr. Aber Olbeck war beinahe einen Fuß größer als Storne - der so groß war wie Lehr -, und er hatte nicht dieses weiche Aussehen wie die meisten Dorfjungen. Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten, aber er brachte die anderen beiden Jungen zu einem Lachen, das eher beutegierig als heiter klang.
»Ich habe schon gehört, dass du jetzt mit Aasfressern unterwegs bist, Storne«, sagte Lehr, dann wandte er sich dem Anführer zu. »Olbeck, ich dachte, du wolltest dich lieber vom Wald fernhalten, seit du im letzten Herbst Jes begegnet bist.«
Olbeck errötete unwillkürlich. Lukeeth lachte leise, hörte aber wieder auf, als Olbeck ihm einen Blick zuwarf.
»Raubtiere, nicht Aasfresser«, verbesserte Olbeck. »Du bist nur enttäuscht, dass Storne beschlossen hat, lieber mit den Wölfen zu jagen, statt mit Schafen wie dir zu grasen, Reisender«, höhnte er. »Und was deinen Bruder angeht - wenn mir klar gewesen wäre, dass er nicht richtig im Kopf ist, hätte ich ihm an diesem Tag einfach die Kehle durchgeschnitten und ihm damit noch einen Gefallen erwiesen.«
Bevor Olbecks Worte sie daran erinnerten, hatte Rinnie beinahe vergessen, dass Storne und Lehr einmal die besten Freunde gewesen waren. Aber vor ein paar Jahren war etwas geschehen, worüber Lehr nicht sprechen wollte, und seitdem hatte er Papa nicht einmal mehr zur Mühle begleitet.
»Ich werde Jes ausrichten, dass du ihn wieder sehen willst«, sagte Lehr freundlich. »Und ich werde deine Worte genau zitieren. Ich bin sicher, er wird beeindruckt sein, vor allem, da du noch nie auch nur eine Kuh geschlachtet hast. Rinnie, warum gehst du nicht nach Hause, damit wir in Ruhe reden können?«
»Nein, Rinnie«, sagte Olbeck. Er lächelte sie an. »Ich denke, du solltest lieber hierbleiben. Wir beide können uns unterhalten, nachdem wir damit fertig sind, mit deinem Bruder zu … zu sprechen
Lehr wandte sich ihr zu und flüsterte: »Lauf, Rinnie, sofort. Bleib nicht stehen, ehe du nach Hause kommst.«
Sie wusste, wenn sie weg war, würden sich die anderen Jungen nicht mehr so sehr dafür interessieren zu kämpfen, also floh sie so schnell den Hügel hinauf, wie sie konnte, ihr kleines Messer kalt in der Hand, und schaute nicht zurück. Ihr Zuhause war nicht so weit entfernt. Wenn sie nahe genug am Haus war, konnte sie Gura rufen. Selbst ein ausgewachsener Mann würde zögern, sich mit dem großen Hund anzulegen.
Sie hörte das dumpfe Klatschen von Fäusten gegen Haut, bevor sie auch nur die Schlucht verlassen hatte. Aber sie durfte jetzt nicht über den Kampf nachdenken, denn mindestens einer der Jungen hatte Lehr umgangen und folgte ihr den Hang hinauf. Sie konnte hören, wie er durchs Unterholz brach wie ein Ochse.
Als sie den Weg erreichte und der Boden unter ihren Füßen ein wenig sicherer wurde, warf sie einen Blick zurück und sah, dass es Olbeck war, der sie jagte, und sie lief so schnell wie noch nie.
Wenn Olbeck ihr folgte, bekam Lehr einen Vorteil. Storne war als Einziger unter den Jungen muskulös genug, um Lehr wirklich Schwierigkeiten zu machen. Und ihr Bruder war so zäh wie ein alter Wolf, er würde die raue Umgebung zu nutzen wissen.
Die Steigung des Wegs raubte ihren Beinen das Tempo und ihrer Brust den Atem, aber sie wagte nicht, langsamer zu werden. Sie hatte den Blick fest auf den Weg vor sich gerichtet. Als jemand sie packte und von den Beinen riss, dachte sie, es wäre Olbeck.
Sie trat zu, bevor sie erkannte, dass es Jes war, und wurde reglos, wenn man von ihrem schweren Atem einmal absah. Er setzte sie vorsichtig ab, und sein Gesichtsausdruck war anders als alles, was sie je bei ihm gesehen hatte. Sie hatte keine Zeit zu begreifen, worin der Unterschied lag, als er sich auch schon vor sie schob und die Aufmerksamkeit Olbeck zuwandte.
»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du solltest nicht mehr in meinen Wald kommen«, sagte Jes - nur, dass es sich überhaupt nicht nach Jes anhörte. Er klang regelrecht gefährlich. Der vertraute, weiche Singsangton war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
»Das hier ist nicht dein Wald«, sagte Olbeck, der ein paar Schritte entfernt auf dem Weg stehen geblieben war, und er klang nicht sonderlich ängstlich. »Mein Vater ist der Verwalter des Sept. Wenn dieser Wald überhaupt irgendwem gehört, dann mir.«
Rinnie, die sicher hinter Jes stand, konnte das Gesicht ihres Bruders nicht sehen, aber Olbeck wurde plötzlich blass.
»Lauf, Junge«, schnurrte Jes. »Ich bin gespannt, ob du deinen Albträumen davonrennen kannst …«
Rinnie versuchte, um ihren Bruder herumzugehen, aber er machte einen Schritt zur Seite und behielt sie hinter sich. Olbeck, die Augen so verdreht wie ein erschrockenes Pferd, drehte sich um und lief.
»Es sind immer noch zwei, die sich mit Lehr prügeln«, keuchte Rinnie, dann musste sie sich übergeben.
Es war widerlich und schmutzig, und sie schnappte japsend nach Luft, wenn sie sich nicht gerade krümmte. Jes hielt ihr das Haar zurück und wartete, bis sie fertig war.
»Du bist zu schnell gelaufen«, sagte er. »Ist Lehr da drunten?«
Sie spuckte, um den Geschmack aus dem Mund zu bekommen. »Ja. Auf dem Weg zu der Stelle am Bach, die du ihm gezeigt hast«, sagte sie. »Mit Storne und Lukeeth.«
Jes wirkte immer noch seltsam - sein Gesicht hatte eine Schärfe, die sie von ihm nicht gewohnt war. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte er.
»Ja.«
Er nickte und eilte davon. Rinnie brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Sobald sie wusste, dass ihr nicht wieder übel werden würde, kam sie auf die Beine und eilte Jes hinterher. Jetzt, wo er da war, hatte sie keine Angst mehr vor den Dorfjungen. Als sie die Stelle erreichte, an der Lehr vom Weg abgebogen war, hatte Jes seine kontrollierte Rutschpartie in die Schlucht schon hinter sich gebracht.
Rinnie schaute hinunter und fürchtete halb, was sie sehen würde. Aber Lehr war in Sicherheit. Er hielt Storne in einem geheimnisvollen Ringergriff, und Lukeeth lag bewusstlos neben ihnen. Blut lief aus seiner Nase.
»Ist Rinnie in Ordnung?«, rief Lehr.
»Ja«, antwortete Rinnie selbst. »Jes hat Olbeck einen Schrecken eingejagt. So, wie Olbeck aussah, wird er sich mindestens eine Woche zu Hause verkriechen.«
»Gut«, knurrte Lehr, der den sich nun heftiger windenden Storne immer noch festhielt. Er wartete, bis der andere Junge wieder ruhiger wurde. »Du trinkst zu viel«, sagte er dann zu ihm. »Und du denkst zu wenig. Nur weil Olbecks Vater der Verwalter ist, ist er nicht unverwundbar und auch nicht jemand, auf den du hören solltest - du bist klüger als er. Und zu versuchen …« Er hielt inne und sah zu Rinnie hinüber, bevor er sich verkniff, was er sagen wollte. »Du hast Olbeck gehört. Er hat jetzt ›Unterhaltungen‹ mit Kindern? Meine Schwester ist zehn Jahre alt, Storne. Du bist besser als das.«
Es war seltsam zu hören, wie Lehr einem anderen als ihr oder Jes eine Standpauke hielt. Sie konnte sehen, dass die ruhige Stimme ihres Bruders Storne ebenfalls tief traf.
Lehr trat zurück und ließ Storne aufstehen. Der Müllerssohn wischte sich die Kleidung ab, drehte sich mit einem misstrauischen Blick zu Jes um und wollte gehen.
»Willst du Lukeeth hier liegen lassen? Ohne dich wird er den Rückweg niemals finden«, sagte Lehr.
Storne hob sich den anderen Jungen ohne ein Wort auf die Schultern und stieg den Hügel hinauf.
»Du kümmerst dich gut um deine Freunde, daran erinnere ich mich«, sagte Lehr leise. »Aber die Frage ist, hätte er sich auch um dich gekümmert? Olbeck hat dich uns überlassen.«
Storne fuhr herum und wäre beinahe aus dem Gleichgewicht geraten. »Ich kann zumindest dafür sorgen, dass ihre Zungen nicht zu frei sind. Anders als jemand, den ich kenne.«
»Ihr Idioten hättet euch umbringen lassen«, sagte Lehr wütend, als ginge es um etwas, das er schon zu lange aufgestaut hatte. »Nachts zu schwimmen ist einfach dumm - es gibt Dinge im Fluss, die …«
»Dinge.« Storne spuckte auf den Boden. »Also hast du deinem Vater etwas vorgeheult, und der ist zu meinem gegangen. Ich will dir was sagen, Reisendensöhnchen: Du weißt nicht halb so viel, wie du glaubst. Halte dich lieber von mir fern.«
Jes legte die Hand auf Lehrs Schulter, aber keiner sagte etwas, bis Storne oben auf dem Hügel war.
»Hast du deshalb keine Freunde mehr?«, fragte Rinnie. »Du hast Papa gesagt, dass sie nachts im Fluss schwimmen wollten?«
Lehr zuckte die Achseln. »Das war Stornes Ausrede. Seinen Freunden gefiel eben nicht, dass er sich mit einem Reisenden abgab. Er hätte mich früher oder später ohnehin fallen lassen.«
»Storne hat dich gegen Olbeck eingetauscht?«, fragte sie, denn sie konnte sich gut vorstellen, wie weh das ihrem Bruder getan haben musste; es gab Mädchen im Dorf, die nicht mit ihr sprechen wollten, weil ihre Mutter eine Reisende war. »Er ist dümmer, als ich dachte.«
»Im Rudel sind sie gefährlich«, sagte Jes. »Wenn Rinnie allein gewesen wäre …«
Lehr nickte ruckartig. »Wenn Papa wiederkommt, rede ich mit ihm darüber. Er wird wissen, was geschehen soll, damit niemandem etwas zustößt.« Er griff nach oben, um Jes’ Hand zu tätscheln, die immer noch auf seiner Schulter lag. »Gehen wir heim«, sagte er.
Jes ließ seinen Bruder los und las die Angelruten auf, die dort lagen, wo Lehr sie hatte fallen lassen. »Wir können immer noch angeln«, sagte er.
Rinnie schaute ihn an, aber die gefährliche Aura, die ihn umgeben hatte, war verschwunden, und er sah aus und klang wie immer, wenn man von einer gewissen Schärfe in seiner Stimme absah.
Lehr berührte vorsichtig seinen rot angelaufenen Wangenknochen. »Stimmt. Sie werden uns wohl nicht mehr belästigen. Und Mutter wird mit Gura in Sicherheit sein.« Er warf Rinnie einen Blick zu. »Du siehst blass aus.«
Rinnie lächelte ihn an und versuchte, weniger blass zu sein. »Mir geht es gut. Ma rechnet damit, dass wir Fisch zum Abendessen haben. Du bringst immer etwas zurück; sie wird nichts anderes vorbereitet haben.«
Also gingen sie weiter zum Bach und angelten.
 
Seraph seufzte erleichtert. Das Geschirr, das Scheck passte, war vernachlässigt, aber das Leder war lediglich trocken und nicht gerissen. Wenn es gerissen wäre, hätten sie warten müssen, bis Tier mit Frost zurückkam, bevor sie anfingen zu pflügen.
Sie ölte das Kummet vorsichtig, bis das Leder sich butterweich anfühlte. Dann wandte sie sich dem Geschirr zu. Sie löste die Lederschnüre, die es zusammenhielten, und ölte jeden einzelnen Riemen, wobei sie sie sorgfältig auf dem frisch gefegten Boden des Sattelraums auslegte, um das Geschirr wieder zusammensetzen zu können, wenn sie fertig war. Auseinandergenommen sah es aus wie ein Haufen Lederreste.
Als sie und Tier es zum ersten Mal getrennt und geölt hatten, hatte sie schon befürchtet, sie würden es nie wieder richtig zusammenbekommen. Selbst Tier hatte beinahe nicht mehr weitergewusst. Ein Grinsen umspielte ihre Mundwinkel, und sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte. Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, wenn er das Geschirr selbst demontiert hätte. Schließlich hatten sie Scheck herausgeholt und es einen Riemen nach dem anderen direkt am Pferd wieder zusammengebastelt.
Scheck, der in einer offenen Box im Stall stand, schnaubte sie an. Es passte ihm nicht, wenn einer seiner Leute nahe genug war, dass er ihn sehen konnte, ihm aber nicht die Aufmerksamkeit zukommen ließ, die ihm zustand.
»Erinnerst du dich an den Gesichtsausdruck des Verwalters, als er in diesem ersten Jahr vorbeikam und die Furchen sah, die wir gepflügt hatten?« Das war nicht der jetzige Verwalter gewesen, sondern sein Onkel, ein freundlicher Mann. »Nicht mal zwei Reihen waren auch nur annähernd gerade. Keiner von uns hatte je zuvor ein Feld gepflügt.«
Scheck wieherte ihr eine leise Einladung zu, also legte Seraph den Riemen hin und wischte sich die Hände am Rock ab, bevor sie Schecks Kopf rieb. Das dunkle Öl würde sich leichter aus ihrem Rock auswaschen lassen als von Schecks weißen Flecken.
»Wie sehr der alte Verwalter es hasste, dich im Pfluggeschirr zu sehen«, sagte sie zu dem alten Wallach. »Er wollte dich uns abkaufen. Hat zwei Pferde zum Tausch angeboten, die zur Bauernarbeit ausgebildet waren, weil er es für eine Schande hielt, dass ein hoher Herr von deiner Herkunft einen Pflug zog. Tier sagte, dass jeder gute Soldat den Krieg hasst, und du warst ein guter Soldat, also war die Arbeit auf einem Bauernhof genau das Richtige für dich.«
Sie rieb über den Wulst direkt vor Schecks Ohr und lächelte, als er den Kopf ein wenig schief legte und vor Vergnügen die Augen schloss. »Dich stört der Pflug ebenso wenig, wie mein Wagen dich gestört hat, nicht wahr?« Sie lächelte abermals. »Tier sagt, das beste Schlachtross ist eins, das tut, was man von ihm will.«
Scheck rieb den Kopf gegen sie und schob sie damit einen Schritt zurück. »Also, was denkst du?«, fragte Seraph leise. »Sehe ich Probleme, die es eigentlich nicht gibt? Wie gefährlich kann ein einziger fehlgeleiteter Priester sein? Wenn ich meinen Kindern verrate, was sie sind, wird es sie für immer verändern.
Ich hätte es ihnen schon lange sagen sollen«, flüsterte sie. »Tier wollte es so. Aber sie hatten diese Gelegenheit zur … zur Unschuld verdient.«
Sie schloss die Augen, legte den Kopf gegen den Hals des alten Pferds und atmete den süßen Strohduft seiner Haut ein. »Ich glaube allerdings, jetzt ist es Zeit, alter Freund.«
Sie ging ein paar Schritte weiter. »Sie müssen wissen, was sie sind. Ich habe kein Recht, es ihnen vorzuenthalten, und der Priester ist ein guter Anlass.« Sie nickte. »Danke. Deine Ratschläge sind immer die richtigen.«
Sie beendete ihre Arbeit am Geschirr, inspizierte den Pflug und stellte fest, dass er im Winter in der Scheune keinen größeren Schaden genommen hatte, dann kehrte sie ins Haus zurück und formte aus dem Teig einen Laib. Sie behielt ein wenig Teig zurück für Bratbrote nach dem Abendessen. Sie hatte den großen Brotlaib gerade zum Abkühlen nach draußen getragen, als Jes, Lehr und Rinnie mit drei fetten Forellen zurückkehrten, die sie bereits gesäubert hatten.
Seraph warf einen forschenden Blick auf die Prellung an Lehrs Gesicht, die Risse in Rinnies Kleidung und die Stelle, wo sie sich das Haar abgeschnitten hatte. Erst dann nahm sie die Fische entgegen, die Lehr ihr reichte.
»Jes und ich werden alles zum Räuchern bereit machen, und wir räuchern zwei davon«, sagte Lehr eilig und zog sich mit seinem Bruder wieder nach draußen zurück.
Mit mühsam erworbener Geduld legte Seraph die Forelle auf ein Backblech, salzte sie und füllte sie mit Zwiebeln und Kräutern. Nachdem sie sie fest in Blätter gepackt hatte, nahm sie den Zwiebelschäler, um das Blech auf die Kohlen des Feuers unter dem Herd zu schieben. Sie hängte das Werkzeug wieder zurück, wischte sich die Hände ab und wandte sich ihrer Tochter zu.
»Und?«, fragte sie. »Was ist heute geschehen?«
Rinnie griff nach einem Lappen und wischte den Tisch ab. »Wir hatten ein bisschen Ärger mit Storne und seinen Freunden - Olbeck, der Sohn des Verwalters, und Lukeeth. Ich habe mich in ein paar Dornen verfangen und musste mein Haar abschneiden, um mich zu befreien. Aber bald darauf kam Jes, und die anderen Jungen sind davongerannt.
Mutter«, sagte sie dann und starrte den Tisch, den sie abwischte, mit gerunzelter Stirn an. »Jes hatte etwas Seltsames an sich. Ich meine, er hat eigentlich gar nichts getan, aber Olbeck rannte trotzdem davon wie eine erschrockene Henne. Hat Jes jemals jemandem wehgetan?«
Seraph zog die Schürze aus und rieb sich die Wangen, die von der Arbeit am Herd heiß geworden waren. Es wurde in der Tat Zeit für ein paar Wahrheiten, aber nicht sofort.
Also gab sie Rinnie nur einen Teil. »So anders unser Jes sein mag, er ist stark und kann gut zuschlagen - dafür hat dein Papa gesorgt. Olbeck hat vor nicht allzu langer Zeit eine solche Begegnung mit Jes verloren.«
Nach dem Abendessen, dachte Seraph. Wir reden nach dem Abendessen.
 
»Besseres Essen kann der Kaiser auch nicht haben«, erklärte Rinnie und aß ihr letztes Stück Fisch.
»Dank meinen furchtlosen Anglern«, stimmte Seraph zu, die bereits aufgestanden war und den Tisch abräumte.
Sie hatte so lange gehofft, dass ihre Kinder ins Dorfleben passen würden, hatte gehofft, sie würden dort glücklich und frei sein von der nicht enden wollenden Aufgabe, Menschen schützen zu müssen, die ihre Beschützer mehr hassten als die Dinge, gegen die die Reisenden ankämpften. Heute Abend würde diese Unschuld ein Ende finden - aber es wäre ungerecht, ihre Geheimnisse noch länger zu wahren.
Plötzlich wollte Seraph es unbedingt hinter sich bringen. »Rinnie«, sagte sie. »Hol den Korb mit dem Bratbrot und einen Topf Honig. Ich glaube, wir sollten spazieren gehen und uns eine gute Stelle suchen, um zu reden.«
»Es wird bald dunkel sein.« Jes klang bedrückt.
Seraph sah ihn direkt an »Das ist vielleicht genau das, was wir brauchen. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit euch besprechen muss, und das wird auf der Wiese oberhalb des Hauses einfacher sein - und ein paar dieser Dinge werden im Dunkel des Waldes vielleicht glaubwürdiger sein als hier.«
»Mutter …«, begann Lehr, aber Seraph schüttelte den Kopf.
»Nicht jetzt. Gehen wir.«
 
Jes hatte recht: Als sie die Wiese erreichten, war die Sonne schon hinter die Berge gesunken. Es gab immer noch viel Licht, aber Seraph war froh über ihren warmen Umhang.
Auf ihre Anweisung setzten sich die Kinder in einem Halbkreis auf die Wiese und teilten das Bratbrot auf. Sie verschlangen es wie gefräßige Wölfe, sogar Lehr. Sie waren nicht sonderlich an Süßigkeiten gewöhnt.
»Ich habe euch nie viel von meiner Familie erzählt«, begann Seraph abrupt.
»Sie waren Reisende«, sagte Rinnie. »Alle bis auf deinen jüngsten Bruder Ushireh starben an der Pest, die ein Reisender mitbrachte, den sie für die Nacht aufgenommen hatten. Und als Ushireh umgebracht wurde, rettete Papa dich; da warst du ein klein wenig jünger, als Lehr und Jes jetzt sind. Und du hast die Bäckerei explodieren lassen, und Papa behauptete, ihr wäret miteinander verheiratet, bevor ihr es wirklich wart, damit er dich noch einmal retten konnte. Und ich weiß auch etwas über die Zaubererahnen. Sie beschworen den Pirschgänger herauf, und dann töteten sie alle, die in der Stadt lebten, um ihn gefangen zu nehmen. Aber es funktionierte nicht so gut, wie sie gehofft hatten. Also mussten die Reisenden von dieser Zeit an das Böse bekämpfen, das von dieser Stadt ausgeht.«
Seraph lachte. »Stimmt. Aber es gibt noch mehr, was ich euch sagen sollte.« Sie sah alle nacheinander an. »Ihr solltet wissen, dass dies meine Entscheidung war und nicht die von Tier. Ich wollte nicht, dass ihr zu viel von meinen Leuten wusstet. Ich wollte, dass ihr ins Dorf eures Vaters passtet, aber … aber es gibt Dinge, die ihr wissen müsst.«
Sie holte tief Luft. »Ihr wisst, dass ich eine Magierin bin.«
»Aber du wirkst keine Magie, Ma.« Rinnie klang, als beschwerte sie sich. »Tante Alinath sagt, es gibt keine Magier, nur Leute, die gut dabei sind, andere Leute Magie in etwas sehen zu lassen, was bloß ein guter Trick ist.«
Jes fing an zu lachen. Es war nicht sein übliches, kehliges, heiteres Lachen, sondern etwas Tieferes, Freudloses.
Rinnie blickte zu ihm auf und rutschte ein wenig von ihm weg.
»Jes, sie kann nichts dafür«, tadelte Seraph freundlich, bevor sie Rinnie ansah. »Ich fürchte, eure Tante irrt sich - und sie weiß es auch besser. Sie war dabei, als ich die Bäckerei explodieren ließ - und euer Vater ebenfalls. Und trotz allem, was ihr gehört habt, sind nicht alle Reisenden Magier und nicht alle Magier Reisende.«
»Erinnerst du dich an die Geschichten, die Papa uns manchmal erzählt hat, Rinnie«, fragte Lehr, »über die Magier in der Armee?«
»Ja«, stimmte Seraph zu. »Aber ich bin eine besondere Art von Magier - ein Rabe.«
Kühle Macht glitt über Seraphs Haut wie das Streicheln eines Liebenden, als sie ein magisches Feuer auf ihrer Handfläche entfachte. Als die Magie sich stabilisierte, nahm sie Lehrs Hand und schob das Licht in seine Hand, wo es fröhlich weiterflackerte.
»Lasst mich vorn anfangen«, sagte Seraph. »Es war einmal eine große Stadt voller Zauberer, die in ihrer Macht sehr überheblich waren. So blind waren sie in ihrem Stolz, dass sie ein schrecklich böses Wesen heraufbeschworen, den Pirschgänger. Um dieses Übel wieder zu beherrschen, opferten sie die gesamte Stadt, alle Bürger, die keine Zauberer waren, Männer, Frauen und Kinder - auch ihre eigenen Frauen, Männer und Kinder.«
Sie holte tief Luft und schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern, wie ihr Vater diese Geschichte immer erzählt hatte, damit sie nichts ausließ. »Als die Zauberer die Stadt opferten, um den Pirschgänger zu binden, tötete die Magie alle bis auf ein paar der mächtigsten Magier und die meisten der Schwächeren. Den Überlebenden blieb buchstäblich nichts weiter als die Kleidung, die sie am Leib trugen. Zuerst dachten sie, das würde genügen, aber die Welt ist nicht gut zu Menschen, die keine Heimat haben. Im Lauf der Jahre wurde ihr Volk weniger, und die überlebenden Zauberer von Colossae diskutierten, was sie tun sollten.«
Sie lächelte ein wenig grimmig. »Sie waren immer noch überheblich in ihrem Wissen und ihrer Macht, obwohl sie ihre Stadt im Tod verschlossen hinter sich gelassen hatten, und sie wollten sich immer noch in alles einmischen. Der Pirschgänger war gefangen, aber im Lauf der Zeit würden sich die Gitter seines Gefängnisses lockern. Die Zauberer kamen also zu dem Schluss, dass ihre Nachfahren, die kein Colossae mehr hatten, was sie nährte und bildete, nicht imstande sein würden, sich gegen das Wesen zu stellen, das sie geschaffen hatten. Also beschlossen sie, ihre Kinder zu verändern und ihnen Kräfte zu verleihen, die weniger vom Lernen abhingen. Sie schufen die Weisungen.
Ich bin ein Magier«, sagte sie. »Es gibt andere Magier bei den Reisenden, die ganz ähnlich sind wie die Magier des Kaisers, die Tier geholfen haben, gegen die Fahlar zu kämpfen. Aber ich bin Rabe. Ich brauche keine komplizierten Zaubersprüche. Ich brauche Macht nicht zu stehlen, wie andere Magier es tun. Ich kann Dinge tun, die nicht in einem Buch festgehalten und auswendig gelernt wurden. Aber der Rabe ist nur einer von sechs Weisungen, die den Reisenden verliehen werden.«
Jes hatte sich ein wenig von der Familie zurückgezogen, bis sein Gesicht vor dem magischen Feuer verborgen war. Seraph richtete sich auf die Knie auf und streckte sich, bis sie seinen Arm leicht berühren konnte.
»Friede, Jes«, sagte sie. »Es geht nicht nur um dich, und es tut mir leid, dass ich dich das denken ließ. Deine Begabung ist nur schwerer zu verstecken als die der anderen.«
Jes’ Begabung war so schrecklich, dass sie ihn nicht hatte abschirmen können, wie sie es bei den anderen Kindern getan hatte.
Nachdem er sich zögernd wieder hingesetzt hatte, setzte sie sich ebenfalls auf den Boden und sagte: »Ich bin Rabe. Aber es gibt auch Barden, Heiler, Jäger, Wetterhexer und Hüter. Wir nennen die Weisungen jedoch nach den Vögeln, die symbolisch für sie sind, weil das weniger verwirrend klingt. Gewöhnliche Zauberer werden ebenfalls als Magier bezeichnet, aber Rabe bedeutet immer, dass einem die Weisung der Magier verliehen wurde. Die anderen fünf sind: Eule für Barde, Lerche für Heiler, Falke für Jäger, Kormoran für Wetterhexer und Adler für Hüter.«
Sie beobachtete ihre Kinder genau, aber sie schienen nur ihren Worten zu folgen, also fuhr sie fort. »Mein Vater sagte mir, einstmals wären die Weisungen viel weiter verbreitet gewesen. Bei meinem Clan waren in meiner Generation nur drei von uns an Weisungen gebunden, Rabe, Adler und Falke. Andere Clans waren noch schlimmer dran - und als ich die Clans verließ, wusste ich nur von einer noch lebenden Lerche, einer sehr alten Frau.«
Seraph holte tief Luft und fragte sich, wie sie den nächsten Teil aussprechen sollte. »Stellt euch also meine Überraschung vor, als ihr alle mit Weisungen geboren wurdet.«
Lehr reichte Rinnie das magische Licht über den Korb mit dem Bratbrot hinweg und rieb sich die Hände. »Aber an Rinnie und mir ist nichts, was uns von anderen unterscheidet«, meinte er. »Und Jes’ Art ist doch sicher nichts, das den Reisenden geholfen hätte?«
»Nichts, was euch von anderen unterscheidet? Tatsächlich?«, fragte Seraph leise. »Bist du je ohne Wild von einer Jagd nach Hause gekommen, Lehr? Hast du dich je verlaufen, mein Falke?«
Er starrte sie an und wagte kaum zu atmen. »Vater hat mir beigebracht, wie man Spuren liest und wie ich mir Wegzeichen merken kann, ohne die ich mich verirren würde«, sagte er angespannt.
»Ach ja?«, erwiderte sie. »Das ist nicht, was er mir erzählt hat.«
»Was bin ich denn, Mutter?«, fragte Rinnie eifrig und starrte in das Licht, das sie in der Hand hielt. »Kann ich ein solches Licht machen?«
Seraph lächelte. »Nein. Du bist Kormoran - eine Wetterhexe. Nicht jeder weiß schon vorher, wenn ein Unwetter aufkommt, Rinnie.«
»Was ist mit Jes und Papa und … und Tante Alinath?«, fragte Rinnie aufgeregt. »Lehr ist Falke, und das macht ihn zum Jäger, oder? Was machen Falken und Kormorane, wenn sie kein Feuer anzünden können?«
»Papa und Tante Alinath sind keine Reisenden«, sagte Lehr.
»Wir sind es auch nur zur Hälfte, und wir haben dennoch Weisungen«, verteidigte Rinnie sich hitzig.
Seraph hob die Hand. »Warte bitte. Sehen wir mal. Hm. Ja. Lehr hat recht, die Weisungen gehören nur den Reisenden. Das dachte ich jedenfalls, bis ich eurem Papa begegnete. Tier ist Eule - also ein Barde. Ich habe in den letzten Jahren viel darüber nachgedacht, aber mir ist nur eine einzige Erklärung eingefallen: Die alte Rabenfrau, die meine Lehrerin war, sagte mir, dass man nicht für die Weisungen züchten kann, wie man besondere Eigenschaften in Pferden züchtet. Ihr alter Lehrer Arvage wäre schon bei dem Gedanken empört gewesen, dass jemand außerhalb der Clans der Reisenden eine Weisung haben könnte.«
Sie räusperte sich und fuhr fort. »Bei den Reisenden fällt es jeweils der Eule zu, sich die Geschichte der Clans zu merken, denn eine ihrer Eigenschaften ist ein hervorragendes Gedächtnis. Aber die Eule trägt auch die Musik durch die Generationen - und Musik war immer ein Teil von Tier.
Ihr hattet mehr Fragen.« Seraph schnalzte mit der Zunge und wartete, was ihr noch einfiel. »Falken suchen Spuren und können gut mit Waffen umgehen. Kormorane können das Wetter vorhersagen, und wenn sie ihre Kräfte vorsichtig einsetzen, können sie das Wetter auch beherrschen. Es gibt noch viel mehr Eigenschaften, aber ich kenne sie nicht alle. Einiges ist schon von einer Person zur nächsten anders; diese Dinge werdet ihr selbst herausfinden müssen. Für andere«, sie zuckte die Achseln, »sollten wir irgendwann jemanden finden, der euch unterrichtet.«
»Was ist mit Tante Alinath?«, fragte Rinnie noch einmal.
»Deine Tante ist genau das, als was sie erscheint - eine Solsenti-Bäckerin.«
»Was bedeutet Solsenti?«, fragte Jes abrupt.
»Dumme Leute«, sagte Rinnie selbstzufrieden. »Besonders Tante Alinath.«
Seraph sagte: »Hör auf zu lachen, Lehr. In der Sprache der Reisenden wird jemanden, der blind oder verkrüppelt ist, als Solsenti bezeichnet, aber überwiegend wird es für Leute gebraucht, die kein Reisendenblut haben. Was wolltest du sonst noch wissen, Rinnie?«
»Jes«, sagte Rinnie.
»Jes ist Hüter.«
»Und Hüter ist am weitesten vom Menschen entfernt«, warf Jes verbittert ein. »Sie nahmen den Geist eines Dämons und banden ihn an ihren Willen. In der Nacht bin ich das hier.« Er stand auf und ließ seinen Umhang fallen, sodass er deutlich in dem magischen Licht zu sehen war, das Rinnie immer noch hielt. Einen Augenblick wirkte er noch so menschlich wie sie alle, aber dann verschwamm seine Gestalt und wurde dunkler. Ein Panther so groß wie Gura stand vor ihnen, die Augen golden und von einem unheimlichen Licht erfüllt.
Es war das Tempo der Verwandlung, das Seraph einschätzen half, ob das, was sie sah, Wirklichkeit oder Illusion war. Diesmal konnte sie ziemlich sicher sein, dass der Panther solide und kein Produkt ihrer Ängste war.
»Der Hüter passt auf den Clan auf«, fuhr sie ruhig fort. »Wenn Gefahr droht, im Wald, in der Dunkelheit, passt er sich an, um uns zu schützen. Keine Magie kann ihn beeinflussen, nur seine eigene. Am Tag - und ich rede nicht nur davon, wenn die Sonne am Himmel steht, sondern von Zeiten der Sicherheit - schläft der Hüter und nimmt einen Teil von Jes mit sich.«
Rinnie gab Lehr das Licht zurück und ging mit weit aufgerissenen Augen um Jes herum. Seraph konnte sehen, wie unwohl ihr Sohn sich unter diesem stetigen Blick fühlte, obwohl er nicht mit der Wimper zuckte - aber sie hatte mehr Zutrauen zu Rinnie als Jes.
»Du bist wunderschön«, sagte ihre Tochter schließlich ehrfürchtig und streckte die Hand aus, um das grauschwarze Fell zu berühren.
Lehr beobachtete die Katze angespannt, dann lachte er. »Was, hast du erwartet, dass wir alle kreischend davonrennen, Jes? Niemand, der in der Nähe von Tante Alinath aufgewachsen ist, würde sich vor einem einfachen Dämon fürchten.«
»Ich kann mich nicht in einen Panther verwandeln?«, fragte Rinnie schmollend und setzte sich neben Jes.
»Nein, nur Jes«, erwiderte Seraph.
Lehr runzelte die Stirn. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht so wütend auf dich gewesen, weil du so oft in den Wald gehst«, sagte er zu seinem Bruder. »Ich nehme an, wir werden alle ein paar Tage brauchen, um zu begreifen, was Mutter uns heute Nacht gesagt hat.« Er hielt inne, dann sprach er das Wichtigste aus: »Du solltest eines wissen, Jes: Ich bin froh, dass du mein Bruder bist, bei Tag und bei Nacht.«
»Kriege ich nicht mal Reißzähne?«, fragte Rinnie.
Die Katze stieß ein schnaubendes Lachen aus und verwandelte sich wieder in eine vertrautere Gestalt. »Nein, Rinnie. Keine Reißzähne für dich.« Er streckte die Hand aus und zauste ihr Haar. »Aber mach dir keine Sorgen. Wenn du willst, dass ich jemanden für dich beiße, werde ich das tun.«
Jes hockte sich auf die Fersen, auch wenn er sich nicht genug entspannte, um sich wirklich wieder hinzusetzen. »Papa wollte, dass ich es euch allen sage, aber ich wollte nicht. Ich wollte nicht, dass ihr Angst vor mir habt.«
Seraph sah ihn stirnrunzelnd an. »Das weißt du doch besser«, sagte sie. »Ganz gleich, was sie wirklich denken, sie werden immer ein wenig Angst haben.« Sie wandte sich den anderen zu und erklärte: »Schrecken zu verbreiten ist eine der Begabungen des Hüters. Wenn er will, kann er Pferde oder Wild in Panik versetzen. Aber Menschen werden schon durch seine Anwesenheit nervös. Es geht nicht darum, dass ihr Angst vor ihm habt - er löst eure anderen Ängste aus.«
Seraph lächelte, als ihr plötzlich etwas einfiel. »Mein ältester Bruder war Hüter«, sagte sie. »Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor. Er verfolgte Leute im Wald. Sie kamen schreckensbleich in unser Lager und versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, weil es schließlich nichts gegeben hatte, wovor sie Angst haben mussten. Mein Großvater hat ihn immer ausgeschimpft.« Bei der Erinnerung daran, wie der gebeugte alte Mann ihrem so großen und wilden Bruder mit dem Finger drohte, schüttelte sie lachend den Kopf. Ihr Bruder hätte den alten Mann mit einem einzigen Schlag niederschmettern können, aber stattdessen ließ er die Standpauke mit gesenktem Kopf über sich ergehen - und ein paar Wochen später kam ein anderer verängstigter Wanderer in ihr Lager.
»Deshalb ist Olbeck weggerannt«, sagte Rinnie. »Jes hat ihn so verängstigt.«
Seraph nickte. »Wenn es nur der Schrecken war, wird er sich zwar erinnern, dass er davongerannt ist, aber nicht, wovor er sich fürchtete. Das wird ihn wütend machen. Er wird versuchen, dich zu bestrafen, Jes. Pass auf dich auf.«
»Mutter«, sagte Lehr. »Warum erzählst du uns jetzt von den Weisungen?«
»Wegen des Priesters, den der neue Sept aus Taela mitgebracht hat«, sagte Seraph.
»Ich mag ihn nicht«, stellte Jes sofort fest.
»Bist du ihm schon begegnet?«, fragte Seraph überrascht; Jes ging nur sehr selten ins Dorf.
»Ich habe ihn gesehen, als er in der Jagdgesellschaft des neuen Sept ritt«, antwortete er. »Ich kann ihn nicht leiden.«
»Gut«, sagte sie. »Ich möchte, dass ihr ihm alle möglichst aus dem Weg geht. Er hat etwas … Seltsames an sich.«
»Was?«, fragte Lehr, der plötzlich grinste. »Verwandelt er sich in einen Panther oder kann er Licht aus dem Nichts heraufbeschwören?«
Sie erwiderte das Lächeln, doch sie schüttelte den Kopf. »Er beunruhigt mich.« Sie erklärte, was der Priester ihr von seinem Glauben erzählt hatte.
Als sie fertig war, schüttelte Lehr den Kopf. »Du meinst, ein ganzer Haufen Solsenti - wahrscheinlich Solsenti-Zauberer, wenn man von der Magie ausgeht, die sie wirken, um ihren Tempel zu beleuchten - hat eine Religion ins Leben gerufen, die auf den Weisungen der Reisenden beruht?«
Sie nickte. »Ich dachte, ihr solltet die Wahrheit über das wissen, was ihr seid, bevor es ihm gelingt, euch irgendwo in die Enge zu treiben und euch das Durcheinander in den Kopf zu setzen, das er und seine Religion gebracht haben.« Sie zögerte. »Ich hätte es euch früher sagen sollen - und es gibt noch eine andere Sache. Ich habe mir deshalb zuvor nie Gedanken gemacht, weil Reisende nicht auf die gleiche Weise an Schicksal glauben, wie es die Leute hier tun.« Und weil Tier ihr immer das Gefühl gegeben hatte, dass ihnen nichts Böses zustoßen könnte. »Seit Generationen gibt es immer mehr Weisungen in den Reisendenclans. Aber aus einer Ehe zwischen einer Reisenden und einem Solsenti mit einer Weisung, dem ersten Solsenti mit einer Weisung, von dem ich je gehört habe, kommen gleich drei Kinder, denen ebenfalls Weisungen zuteil wurden? Mein Großvater pflegte zu sagen: ›Wenn große Begabungen gegeben werden, droht großes Übel.‹ Ich will, dass ihr alle vorsichtig seid.«
Jes kam mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Beine, seine Aufmerksamkeit auf das Haus gerichtet. »Mutter, jemand reitet gerade auf den Hof.«
Rabenzauber
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