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»Geht und fangt ein paar
Fische zum Abendessen, ihr beiden.« Seraph machte eine scheuchende
Geste zu Lehr und Rinnie. »Ich kümmere mich ums Frühstücksgeschirr
und bereite das Zaumzeug zum Pflügen vor. In den nächsten Wochen
wird es für uns alle viel Arbeit geben, und wir haben nur noch ein
wenig Salzfleisch übrig. Ich hätte wirklich nichts gegen eine
Forelle. Packt euch etwas zum Mittagessen ein und fangt, was ihr
könnt.«
»Was ist mit dem Eintopf, den wir gestern aus Jes’
Hasen gemacht haben, Mutter?«, fragte Lehr. »Davon sollte doch noch
genug übrig sein. Du wirst nicht den ganzen Tag brauchen, um das
Zaumzeug zu überprüfen; wir sollten so bald wie möglich anfangen zu
pflügen.«
»Morgen ist früh genug«, erwiderte Seraph
entschlossen. »Gura hat heute früh den letzten Rest des Eintopfs
gefressen« - oder er würde es tun, sobald sie ihn damit
fütterte.
»Papa würde dich nie ohne Schutz zurücklassen«,
sagte Lehr, hin und her gerissen zwischen Pflicht und
Vergnügen.
Rinnie zupfte an seinem Ärmel. »Ich denke, Gura ist
abschreckend genug - du weißt doch, wie er sich gegenüber Fremden
verhält. Und wie oft kommen schon Leute hierher?«
Lehr biss die Zähne zusammen. »Ich habe Jes heute
früh noch nicht gesehen«, sagte er.
»Er hat die Nacht im Wald verbracht«, erwiderte
Seraph.
»Ich nehme an, er wird heute Abend zurückkommen. Wenn ihr ihn
seht, sagt ihm, dass ich Brot backe.«
»Dann kommt er bestimmt«, meinte Rinnie. Sie packte
bereits Käse und Fladenbrot in ein Tuch und band es zusammen. »Komm
schon, Lehr. Wenn wir nicht bald gehen, werden die Fische nicht
mehr beißen.«
Er gab nach. Rasch drückte er Seraph einen Kuss auf
die Stirn, nahm den Arm seiner Schwester und ging mit ihr zur
Scheune, wo sie die Angelausrüstungen aufbewahrten.
Seraph sah ihnen lächelnd hinterher und drehte sich
dann wieder um, um das Frühstücksgeschirr zu spülen und danach den
Brotteig zu mischen.
»Gehen wir denn nicht zum Fluss?« Rinnie raffte
die Röcke, um den Hang hinauf mit Lehr Schritt halten zu können. Er
nahm sie nicht oft zu Angelausflügen mit. Für gewöhnlich ging Lehr
alleine und manchmal in Begleitung von Jes. Wenn Rinnie angeln
wollte, musste sie es meist mit ihren Eltern tun.
»Nicht gleich. Ich dachte, wir versuchen erst den
Bach. Jes hat mir einen guten Platz gezeigt, an dem die Forellen
sich gerne sonnen. Ich habe ihn noch nicht ausprobiert, aber
…«
»Aber wenn Jes sagt, es ist ein guter Platz, werden
wir bestimmt Erfolg haben«, beendete Rinnie den Satz
vergnügt.
Die weiche Ledersohle ihres Schuhs rutschte über
einen Stein, und Lehr drehte sich um und hielt seine kleine
Schwester an der Schulter fest, damit sie nicht fiel.
»Sei ein bisschen vorsichtiger«, sagte er streng.
»Die Steine sind hier immer noch feucht vom Tauwasser. Ich will
dich heil zurückbringen.«
Rinnie schnitt hinter seinem Rücken eine Grimasse,
aber dann achtete sie genau darauf, wo sie hintrat, damit er ihr
nicht wieder helfen musste. Er war ein recht brauchbarer älterer
Bruder - wenn er nur aufhören würde, Papa sein zu wollen.
Rinnie behielt Lehrs Rücken im Auge, als er dem
Serpentinenpfad vorbei an alten, umgestürzten Bäumen folgte.
Muskeln ließen sein vom Vorjahr stammendes Hemd an den Schultern
eng werden. Er würde bald ein neues brauchen. Sie seufzte; sie
wusste schon, wer dieses Hemd nähen würde. Mutter konnte zwar
nähen, aber sie mochte es nicht besonders.
Sie fragte sich, wann sie Jes wohl treffen würden.
Sie begegnete ihm immer irgendwo, wenn sie ohne ihn in den Wald
ging. Lehr sagte oft, das sei das Zuverlässigste an Jes.
Jes arbeitete schwer, aber es war ihm durchaus
zuzutrauen, dass er Pflug und Pferd mitten auf dem Feld stehen
ließ, wenn ihm danach war. Und im Frühjahr war er noch schlimmer.
Papa sagte, das liege daran, dass der Winterschnee ihn einengte.
Bis zum Mittsommer ging Jes dann nur noch einmal in der Woche
wandern und nicht mehr jeden Tag. Und bei der letzten Ernte hatte
er beinahe jeden Tag mitgearbeitet.
Lehr bog vor Rinnie von dem Waldpfad ab, dem sie
gefolgt waren, und schlitterte den steilen Hang einer kleinen
Schlucht hinab. Etwa auf halber Höhe musste er langsamer werden und
sich seinen Weg durch das Unterholz bahnen, das den größeren Teil
des Hangs dort überzog. Die Zweige rissen an Rinnies Röcken, bis
sie ein ganzes Stück von Lehr entfernt war, der den Hang bereits
hinter sich gelassen hatte und nun auf der anderen Seite wieder
nach oben kletterte. Sie versuchte, sich zu beeilen, und blieb
prompt mit einer Haarsträhne an den Dornen eines wilden Rosenbuschs
hängen.
»Warte!«, rief sie und wollte die Haarsträhne
ungeduldig abreißen, was alles nur noch schlimmer machte.
»Warten?«, sagte eine interessierte Männerstimme
vom gegenüberliegenden Felskamm aus.
Als sie nach oben schaute, sah sie Storne, den Sohn
des Müllers, der zusammen mit ein paar Freunden auf sie
hinunterstarrte.
Papa sagte immer, der Müller gebe Storne nicht genug zu tun. Wenn
ein junger Mann nichts zu tun habe, richte er nur Unfug an.
Dann hatte Papa Rinnie direkt in die Augen gesehen
und sie angewiesen, sich von Storne fernzuhalten, wenn er andere
Jungen dabeihatte, ganz gleich, wie höflich sie sich gaben, denn
ein Junge, der seine Freunde beeindrucken wollte, würde Dinge tun,
die er allein nie tun würde. Die Jungen, mit denen Storne heute
zusammen war, machten auf Rinnie keinen besonders guten Eindruck:
Olbeck, der Sohn des Verwalters, und Lukeeth, dessen Vater zu den
wohlhabenderen Kaufleuten im Dorf gehörte.
Rinnie zog das Messer aus der Scheide am Gürtel und
schnitt die widerspenstige Haarsträhne ab, dann kam sie aus dem
Gebüsch. Weiter bewegte sie sich nicht, weil man vor Raubtieren nie
davonlaufen soll. Das Messer behielt sie in der Hand, als hätte sie
es einfach vergessen.
»Rinnie?«, rief Lehr ungeduldig. Er hatte Storne,
der nicht lauter als nötig gesprochen hatte, offenbar nicht
gehört.
»Hier«, rief sie.
Sie wollte keinen Ärger anfangen, indem sie sich
anmerken ließ, dass Storne und die anderen Jungen sie nervös
machten, also sagte sie nichts weiter, aber etwas in ihrer Stimme
musste Lehr beunruhigt haben, denn er kam im Laufschritt zurück. Er
betrachtete die abgeschnittene Haarsträhne am Rosenbusch, dann
schaute er nach oben und sah Storne und seine Freunde.
»Du hättest dir das Haar zusammenbinden sollen«,
schimpfte er.
Ihre Erleichterung verschwand, und sie war nur noch
gekränkt, dass er sie vor diesem Publikum kritisierte.
»Na, wenn das nicht das Reisendensöhnchen ist«,
sagte Lukeeth, dunkeläugig und ein wenig größer als Storne.
»Weiß dein Vater, dass du wieder vor deinem Tutor
ausgerissen bist?«, erwiderte Lehr so freundlich, dass Rinnie am
liebsten den Mund aufgerissen hätte, zumal er ihr die Schuld an der
Sache mit dem Haar gegeben hatte. Lehr hatte Mutters aufbrausende
Art, und in den letzten Jahren hatte er »Junge« nur noch als
Schimpfwort betrachtet.
»Mein Lehrer wagt nicht, es ihm zu sagen«, lachte
Lukeeth. »Denn dann werde ich Vater verraten, was der Dummkopf in
seiner Wasserflasche hat, und er wird ebenso rausfliegen wie sein
Vorgänger. Ist das da deine kleine Schwester? Noch ein
Reisendengör, genau wie du.«
»Hübsches Ding«, stellte Olbeck lässig fest.
Nun war Rinnie ernsthaft besorgt. Lehr war zäh, und
ihr Vater hatte ihm ein paar gute Tricks beigebracht, ebenso wie
ihr. Aber Olbeck war beinahe einen Fuß größer als Storne - der so
groß war wie Lehr -, und er hatte nicht dieses weiche Aussehen wie
die meisten Dorfjungen. Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten,
aber er brachte die anderen beiden Jungen zu einem Lachen, das eher
beutegierig als heiter klang.
»Ich habe schon gehört, dass du jetzt mit
Aasfressern unterwegs bist, Storne«, sagte Lehr, dann wandte er
sich dem Anführer zu. »Olbeck, ich dachte, du wolltest dich lieber
vom Wald fernhalten, seit du im letzten Herbst Jes begegnet
bist.«
Olbeck errötete unwillkürlich. Lukeeth lachte
leise, hörte aber wieder auf, als Olbeck ihm einen Blick
zuwarf.
»Raubtiere, nicht Aasfresser«, verbesserte Olbeck.
»Du bist nur enttäuscht, dass Storne beschlossen hat, lieber mit
den Wölfen zu jagen, statt mit Schafen wie dir zu grasen,
Reisender«, höhnte er. »Und was deinen Bruder angeht - wenn mir
klar gewesen wäre, dass er nicht richtig im Kopf ist, hätte ich ihm
an diesem Tag einfach die Kehle durchgeschnitten und ihm damit noch
einen Gefallen erwiesen.«
Bevor Olbecks Worte sie daran erinnerten, hatte
Rinnie beinahe vergessen, dass Storne und Lehr einmal die besten
Freunde gewesen waren. Aber vor ein paar Jahren war etwas
geschehen, worüber Lehr nicht sprechen wollte, und seitdem hatte er
Papa nicht einmal mehr zur Mühle begleitet.
»Ich werde Jes ausrichten, dass du ihn wieder sehen
willst«, sagte Lehr freundlich. »Und ich werde deine Worte genau
zitieren. Ich bin sicher, er wird beeindruckt sein, vor allem, da
du noch nie auch nur eine Kuh geschlachtet hast. Rinnie, warum
gehst du nicht nach Hause, damit wir in Ruhe reden können?«
»Nein, Rinnie«, sagte Olbeck. Er lächelte sie an.
»Ich denke, du solltest lieber hierbleiben. Wir beide können uns
unterhalten, nachdem wir damit fertig sind,
mit deinem Bruder zu … zu sprechen.«
Lehr wandte sich ihr zu und flüsterte: »Lauf,
Rinnie, sofort. Bleib nicht stehen, ehe du nach Hause
kommst.«
Sie wusste, wenn sie weg war, würden sich die
anderen Jungen nicht mehr so sehr dafür interessieren zu kämpfen,
also floh sie so schnell den Hügel hinauf, wie sie konnte, ihr
kleines Messer kalt in der Hand, und schaute nicht zurück. Ihr
Zuhause war nicht so weit entfernt. Wenn sie nahe genug am Haus
war, konnte sie Gura rufen. Selbst ein ausgewachsener Mann würde
zögern, sich mit dem großen Hund anzulegen.
Sie hörte das dumpfe Klatschen von Fäusten gegen
Haut, bevor sie auch nur die Schlucht verlassen hatte. Aber sie
durfte jetzt nicht über den Kampf nachdenken, denn mindestens einer
der Jungen hatte Lehr umgangen und folgte ihr den Hang hinauf. Sie
konnte hören, wie er durchs Unterholz brach wie ein Ochse.
Als sie den Weg erreichte und der Boden unter ihren
Füßen ein wenig sicherer wurde, warf sie einen Blick zurück und
sah, dass es Olbeck war, der sie jagte, und sie lief so schnell wie
noch nie.
Wenn Olbeck ihr folgte, bekam Lehr einen Vorteil.
Storne war als Einziger unter den Jungen muskulös genug, um Lehr
wirklich Schwierigkeiten zu machen. Und ihr Bruder war so zäh wie
ein alter Wolf, er würde die raue Umgebung zu nutzen wissen.
Die Steigung des Wegs raubte ihren Beinen das Tempo
und ihrer Brust den Atem, aber sie wagte nicht, langsamer zu
werden. Sie hatte den Blick fest auf den Weg vor sich gerichtet.
Als jemand sie packte und von den Beinen riss, dachte sie, es wäre
Olbeck.
Sie trat zu, bevor sie erkannte, dass es Jes war,
und wurde reglos, wenn man von ihrem schweren Atem einmal absah. Er
setzte sie vorsichtig ab, und sein Gesichtsausdruck war anders als
alles, was sie je bei ihm gesehen hatte. Sie hatte keine Zeit zu
begreifen, worin der Unterschied lag, als er sich auch schon vor
sie schob und die Aufmerksamkeit Olbeck zuwandte.
»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du solltest
nicht mehr in meinen Wald kommen«, sagte Jes - nur, dass es sich
überhaupt nicht nach Jes anhörte. Er klang regelrecht gefährlich.
Der vertraute, weiche Singsangton war verschwunden, als hätte es
ihn nie gegeben.
»Das hier ist nicht dein
Wald«, sagte Olbeck, der ein paar Schritte entfernt auf dem Weg
stehen geblieben war, und er klang nicht sonderlich ängstlich.
»Mein Vater ist der Verwalter des Sept. Wenn dieser Wald überhaupt
irgendwem gehört, dann mir.«
Rinnie, die sicher hinter Jes stand, konnte das
Gesicht ihres Bruders nicht sehen, aber Olbeck wurde plötzlich
blass.
»Lauf, Junge«, schnurrte Jes. »Ich bin gespannt, ob
du deinen Albträumen davonrennen kannst …«
Rinnie versuchte, um ihren Bruder herumzugehen,
aber er machte einen Schritt zur Seite und behielt sie hinter sich.
Olbeck, die Augen so verdreht wie ein erschrockenes Pferd, drehte
sich um und lief.
»Es sind immer noch zwei, die sich mit Lehr
prügeln«, keuchte Rinnie, dann musste sie sich übergeben.
Es war widerlich und schmutzig, und sie schnappte
japsend nach Luft, wenn sie sich nicht gerade krümmte. Jes hielt
ihr das Haar zurück und wartete, bis sie fertig war.
»Du bist zu schnell gelaufen«, sagte er. »Ist Lehr
da drunten?«
Sie spuckte, um den Geschmack aus dem Mund zu
bekommen. »Ja. Auf dem Weg zu der Stelle am Bach, die du ihm
gezeigt hast«, sagte sie. »Mit Storne und Lukeeth.«
Jes wirkte immer noch seltsam - sein Gesicht hatte
eine Schärfe, die sie von ihm nicht gewohnt war. »Geht es dir jetzt
besser?«, fragte er.
»Ja.«
Er nickte und eilte davon. Rinnie brauchte einen
Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Sobald sie wusste, dass ihr
nicht wieder übel werden würde, kam sie auf die Beine und eilte Jes
hinterher. Jetzt, wo er da war, hatte sie keine Angst mehr vor den
Dorfjungen. Als sie die Stelle erreichte, an der Lehr vom Weg
abgebogen war, hatte Jes seine kontrollierte Rutschpartie in die
Schlucht schon hinter sich gebracht.
Rinnie schaute hinunter und fürchtete halb, was sie
sehen würde. Aber Lehr war in Sicherheit. Er hielt Storne in einem
geheimnisvollen Ringergriff, und Lukeeth lag bewusstlos neben
ihnen. Blut lief aus seiner Nase.
»Ist Rinnie in Ordnung?«, rief Lehr.
»Ja«, antwortete Rinnie selbst. »Jes hat Olbeck
einen Schrecken eingejagt. So, wie Olbeck aussah, wird er sich
mindestens eine Woche zu Hause verkriechen.«
»Gut«, knurrte Lehr, der den sich nun heftiger
windenden Storne immer noch festhielt. Er wartete, bis der andere
Junge
wieder ruhiger wurde. »Du trinkst zu viel«, sagte er dann zu ihm.
»Und du denkst zu wenig. Nur weil Olbecks Vater der Verwalter ist,
ist er nicht unverwundbar und auch nicht jemand, auf den du hören
solltest - du bist klüger als er. Und zu versuchen …« Er hielt inne
und sah zu Rinnie hinüber, bevor er sich verkniff, was er sagen
wollte. »Du hast Olbeck gehört. Er hat jetzt ›Unterhaltungen‹ mit
Kindern? Meine Schwester ist zehn Jahre alt, Storne. Du bist besser
als das.«
Es war seltsam zu hören, wie Lehr einem anderen als
ihr oder Jes eine Standpauke hielt. Sie konnte sehen, dass die
ruhige Stimme ihres Bruders Storne ebenfalls tief traf.
Lehr trat zurück und ließ Storne aufstehen. Der
Müllerssohn wischte sich die Kleidung ab, drehte sich mit einem
misstrauischen Blick zu Jes um und wollte gehen.
»Willst du Lukeeth hier liegen lassen? Ohne dich
wird er den Rückweg niemals finden«, sagte Lehr.
Storne hob sich den anderen Jungen ohne ein Wort
auf die Schultern und stieg den Hügel hinauf.
»Du kümmerst dich gut um deine Freunde, daran
erinnere ich mich«, sagte Lehr leise. »Aber die Frage ist, hätte er
sich auch um dich gekümmert? Olbeck hat dich uns überlassen.«
Storne fuhr herum und wäre beinahe aus dem
Gleichgewicht geraten. »Ich kann zumindest dafür sorgen, dass ihre
Zungen nicht zu frei sind. Anders als jemand, den ich kenne.«
»Ihr Idioten hättet euch umbringen lassen«, sagte
Lehr wütend, als ginge es um etwas, das er schon zu lange
aufgestaut hatte. »Nachts zu schwimmen ist einfach dumm - es gibt
Dinge im Fluss, die …«
»Dinge.« Storne spuckte auf
den Boden. »Also hast du deinem Vater etwas vorgeheult, und der ist
zu meinem gegangen. Ich will dir was sagen, Reisendensöhnchen: Du
weißt nicht halb so viel, wie du glaubst. Halte dich lieber von mir
fern.«
Jes legte die Hand auf Lehrs Schulter, aber keiner
sagte etwas, bis Storne oben auf dem Hügel war.
»Hast du deshalb keine Freunde mehr?«, fragte
Rinnie. »Du hast Papa gesagt, dass sie nachts im Fluss schwimmen
wollten?«
Lehr zuckte die Achseln. »Das war Stornes Ausrede.
Seinen Freunden gefiel eben nicht, dass er sich mit einem Reisenden
abgab. Er hätte mich früher oder später ohnehin fallen
lassen.«
»Storne hat dich gegen Olbeck eingetauscht?«,
fragte sie, denn sie konnte sich gut vorstellen, wie weh das ihrem
Bruder getan haben musste; es gab Mädchen im Dorf, die nicht mit
ihr sprechen wollten, weil ihre Mutter eine Reisende war. »Er ist
dümmer, als ich dachte.«
»Im Rudel sind sie gefährlich«, sagte Jes. »Wenn
Rinnie allein gewesen wäre …«
Lehr nickte ruckartig. »Wenn Papa wiederkommt, rede
ich mit ihm darüber. Er wird wissen, was geschehen soll, damit
niemandem etwas zustößt.« Er griff nach oben, um Jes’ Hand zu
tätscheln, die immer noch auf seiner Schulter lag. »Gehen wir
heim«, sagte er.
Jes ließ seinen Bruder los und las die Angelruten
auf, die dort lagen, wo Lehr sie hatte fallen lassen. »Wir können
immer noch angeln«, sagte er.
Rinnie schaute ihn an, aber die gefährliche Aura,
die ihn umgeben hatte, war verschwunden, und er sah aus und klang
wie immer, wenn man von einer gewissen Schärfe in seiner Stimme
absah.
Lehr berührte vorsichtig seinen rot angelaufenen
Wangenknochen. »Stimmt. Sie werden uns wohl nicht mehr belästigen.
Und Mutter wird mit Gura in Sicherheit sein.« Er warf Rinnie einen
Blick zu. »Du siehst blass aus.«
Rinnie lächelte ihn an und versuchte, weniger blass
zu sein. »Mir geht es gut. Ma rechnet damit, dass wir Fisch zum
Abendessen haben. Du bringst immer etwas zurück; sie wird nichts
anderes vorbereitet haben.«
Also gingen sie weiter zum Bach und angelten.
Seraph seufzte erleichtert. Das Geschirr, das
Scheck passte, war vernachlässigt, aber das Leder war lediglich
trocken und nicht gerissen. Wenn es gerissen wäre, hätten sie
warten müssen, bis Tier mit Frost zurückkam, bevor sie anfingen zu
pflügen.
Sie ölte das Kummet vorsichtig, bis das Leder sich
butterweich anfühlte. Dann wandte sie sich dem Geschirr zu. Sie
löste die Lederschnüre, die es zusammenhielten, und ölte jeden
einzelnen Riemen, wobei sie sie sorgfältig auf dem frisch gefegten
Boden des Sattelraums auslegte, um das Geschirr wieder
zusammensetzen zu können, wenn sie fertig war. Auseinandergenommen
sah es aus wie ein Haufen Lederreste.
Als sie und Tier es zum ersten Mal getrennt und
geölt hatten, hatte sie schon befürchtet, sie würden es nie wieder
richtig zusammenbekommen. Selbst Tier hatte beinahe nicht mehr
weitergewusst. Ein Grinsen umspielte ihre Mundwinkel, und sie
erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als sie ihn um Hilfe
gebeten hatte. Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, wenn er
das Geschirr selbst demontiert hätte. Schließlich hatten sie Scheck
herausgeholt und es einen Riemen nach dem anderen direkt am Pferd
wieder zusammengebastelt.
Scheck, der in einer offenen Box im Stall stand,
schnaubte sie an. Es passte ihm nicht, wenn einer seiner Leute nahe
genug war, dass er ihn sehen konnte, ihm aber nicht die
Aufmerksamkeit zukommen ließ, die ihm zustand.
»Erinnerst du dich an den Gesichtsausdruck des
Verwalters, als er in diesem ersten Jahr vorbeikam und die Furchen
sah, die wir gepflügt hatten?« Das war nicht der jetzige Verwalter
gewesen, sondern sein Onkel, ein freundlicher Mann.
»Nicht mal zwei Reihen waren auch nur annähernd gerade. Keiner von
uns hatte je zuvor ein Feld gepflügt.«
Scheck wieherte ihr eine leise Einladung zu, also
legte Seraph den Riemen hin und wischte sich die Hände am Rock ab,
bevor sie Schecks Kopf rieb. Das dunkle Öl würde sich leichter aus
ihrem Rock auswaschen lassen als von Schecks weißen Flecken.
»Wie sehr der alte Verwalter es hasste, dich im
Pfluggeschirr zu sehen«, sagte sie zu dem alten Wallach. »Er wollte
dich uns abkaufen. Hat zwei Pferde zum Tausch angeboten, die zur
Bauernarbeit ausgebildet waren, weil er es für eine Schande hielt,
dass ein hoher Herr von deiner Herkunft einen Pflug zog. Tier
sagte, dass jeder gute Soldat den Krieg hasst, und du warst ein
guter Soldat, also war die Arbeit auf einem Bauernhof genau das
Richtige für dich.«
Sie rieb über den Wulst direkt vor Schecks Ohr und
lächelte, als er den Kopf ein wenig schief legte und vor Vergnügen
die Augen schloss. »Dich stört der Pflug ebenso wenig, wie mein
Wagen dich gestört hat, nicht wahr?« Sie lächelte abermals. »Tier
sagt, das beste Schlachtross ist eins, das tut, was man von ihm
will.«
Scheck rieb den Kopf gegen sie und schob sie damit
einen Schritt zurück. »Also, was denkst du?«, fragte Seraph leise.
»Sehe ich Probleme, die es eigentlich nicht gibt? Wie gefährlich
kann ein einziger fehlgeleiteter Priester sein? Wenn ich meinen
Kindern verrate, was sie sind, wird es sie für immer
verändern.
Ich hätte es ihnen schon lange sagen sollen«,
flüsterte sie. »Tier wollte es so. Aber sie hatten diese
Gelegenheit zur … zur Unschuld verdient.«
Sie schloss die Augen, legte den Kopf gegen den
Hals des alten Pferds und atmete den süßen Strohduft seiner Haut
ein. »Ich glaube allerdings, jetzt ist es Zeit, alter
Freund.«
Sie ging ein paar Schritte weiter. »Sie müssen
wissen, was sie sind. Ich habe kein Recht, es ihnen vorzuenthalten,
und der Priester ist ein guter Anlass.« Sie nickte. »Danke. Deine
Ratschläge sind immer die richtigen.«
Sie beendete ihre Arbeit am Geschirr, inspizierte
den Pflug und stellte fest, dass er im Winter in der Scheune keinen
größeren Schaden genommen hatte, dann kehrte sie ins Haus zurück
und formte aus dem Teig einen Laib. Sie behielt ein wenig Teig
zurück für Bratbrote nach dem Abendessen. Sie hatte den großen
Brotlaib gerade zum Abkühlen nach draußen getragen, als Jes, Lehr
und Rinnie mit drei fetten Forellen zurückkehrten, die sie bereits
gesäubert hatten.
Seraph warf einen forschenden Blick auf die
Prellung an Lehrs Gesicht, die Risse in Rinnies Kleidung und die
Stelle, wo sie sich das Haar abgeschnitten hatte. Erst dann nahm
sie die Fische entgegen, die Lehr ihr reichte.
»Jes und ich werden alles zum Räuchern bereit
machen, und wir räuchern zwei davon«, sagte Lehr eilig und zog sich
mit seinem Bruder wieder nach draußen zurück.
Mit mühsam erworbener Geduld legte Seraph die
Forelle auf ein Backblech, salzte sie und füllte sie mit Zwiebeln
und Kräutern. Nachdem sie sie fest in Blätter gepackt hatte, nahm
sie den Zwiebelschäler, um das Blech auf die Kohlen des Feuers
unter dem Herd zu schieben. Sie hängte das Werkzeug wieder zurück,
wischte sich die Hände ab und wandte sich ihrer Tochter zu.
»Und?«, fragte sie. »Was ist heute
geschehen?«
Rinnie griff nach einem Lappen und wischte den
Tisch ab. »Wir hatten ein bisschen Ärger mit Storne und seinen
Freunden - Olbeck, der Sohn des Verwalters, und Lukeeth. Ich habe
mich in ein paar Dornen verfangen und musste mein Haar abschneiden,
um mich zu befreien. Aber bald darauf kam Jes, und die anderen
Jungen sind davongerannt.
Mutter«, sagte sie dann und starrte den Tisch, den
sie abwischte, mit gerunzelter Stirn an. »Jes hatte etwas Seltsames
an sich. Ich meine, er hat eigentlich gar nichts getan, aber Olbeck
rannte trotzdem davon wie eine erschrockene Henne. Hat Jes jemals
jemandem wehgetan?«
Seraph zog die Schürze aus und rieb sich die
Wangen, die von der Arbeit am Herd heiß geworden waren. Es wurde in
der Tat Zeit für ein paar Wahrheiten, aber nicht sofort.
Also gab sie Rinnie nur einen Teil. »So anders
unser Jes sein mag, er ist stark und kann gut zuschlagen - dafür
hat dein Papa gesorgt. Olbeck hat vor nicht allzu langer Zeit eine
solche Begegnung mit Jes verloren.«
Nach dem Abendessen, dachte
Seraph. Wir reden nach dem
Abendessen.
»Besseres Essen kann der Kaiser auch nicht
haben«, erklärte Rinnie und aß ihr letztes Stück Fisch.
»Dank meinen furchtlosen Anglern«, stimmte Seraph
zu, die bereits aufgestanden war und den Tisch abräumte.
Sie hatte so lange gehofft, dass ihre Kinder ins
Dorfleben passen würden, hatte gehofft, sie würden dort glücklich
und frei sein von der nicht enden wollenden Aufgabe, Menschen
schützen zu müssen, die ihre Beschützer mehr hassten als die Dinge,
gegen die die Reisenden ankämpften. Heute Abend würde diese
Unschuld ein Ende finden - aber es wäre ungerecht, ihre Geheimnisse
noch länger zu wahren.
Plötzlich wollte Seraph es unbedingt hinter sich
bringen. »Rinnie«, sagte sie. »Hol den Korb mit dem Bratbrot und
einen Topf Honig. Ich glaube, wir sollten spazieren gehen und uns
eine gute Stelle suchen, um zu reden.«
»Es wird bald dunkel sein.« Jes klang
bedrückt.
Seraph sah ihn direkt an »Das ist vielleicht genau
das, was wir brauchen. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit euch
besprechen
muss, und das wird auf der Wiese oberhalb des Hauses einfacher
sein - und ein paar dieser Dinge werden im Dunkel des Waldes
vielleicht glaubwürdiger sein als hier.«
»Mutter …«, begann Lehr, aber Seraph schüttelte den
Kopf.
»Nicht jetzt. Gehen wir.«
Jes hatte recht: Als sie die Wiese erreichten,
war die Sonne schon hinter die Berge gesunken. Es gab immer noch
viel Licht, aber Seraph war froh über ihren warmen Umhang.
Auf ihre Anweisung setzten sich die Kinder in einem
Halbkreis auf die Wiese und teilten das Bratbrot auf. Sie
verschlangen es wie gefräßige Wölfe, sogar Lehr. Sie waren nicht
sonderlich an Süßigkeiten gewöhnt.
»Ich habe euch nie viel von meiner Familie
erzählt«, begann Seraph abrupt.
»Sie waren Reisende«, sagte Rinnie. »Alle bis auf
deinen jüngsten Bruder Ushireh starben an der Pest, die ein
Reisender mitbrachte, den sie für die Nacht aufgenommen hatten. Und
als Ushireh umgebracht wurde, rettete Papa dich; da warst du ein
klein wenig jünger, als Lehr und Jes jetzt sind. Und du hast die Bäckerei explodieren lassen, und
Papa behauptete, ihr wäret miteinander verheiratet, bevor ihr es
wirklich wart, damit er dich noch einmal retten konnte. Und ich weiß auch etwas über die Zaubererahnen. Sie
beschworen den Pirschgänger herauf, und dann töteten sie alle, die
in der Stadt lebten, um ihn gefangen zu nehmen. Aber es
funktionierte nicht so gut, wie sie gehofft hatten. Also mussten
die Reisenden von dieser Zeit an das Böse bekämpfen, das von dieser
Stadt ausgeht.«
Seraph lachte. »Stimmt. Aber es gibt noch mehr, was
ich euch sagen sollte.« Sie sah alle nacheinander an. »Ihr solltet
wissen, dass dies meine Entscheidung war und nicht die von Tier.
Ich wollte nicht, dass ihr zu viel von meinen Leuten wusstet.
Ich wollte, dass ihr ins Dorf eures Vaters passtet, aber … aber es
gibt Dinge, die ihr wissen müsst.«
Sie holte tief Luft. »Ihr wisst, dass ich eine
Magierin bin.«
»Aber du wirkst keine Magie, Ma.« Rinnie klang, als
beschwerte sie sich. »Tante Alinath sagt, es gibt keine Magier, nur
Leute, die gut dabei sind, andere Leute Magie in etwas sehen zu
lassen, was bloß ein guter Trick ist.«
Jes fing an zu lachen. Es war nicht sein übliches,
kehliges, heiteres Lachen, sondern etwas Tieferes,
Freudloses.
Rinnie blickte zu ihm auf und rutschte ein wenig
von ihm weg.
»Jes, sie kann nichts dafür«, tadelte Seraph
freundlich, bevor sie Rinnie ansah. »Ich fürchte, eure Tante irrt
sich - und sie weiß es auch besser. Sie war dabei, als ich die
Bäckerei explodieren ließ - und euer Vater ebenfalls. Und trotz
allem, was ihr gehört habt, sind nicht alle Reisenden Magier und
nicht alle Magier Reisende.«
»Erinnerst du dich an die Geschichten, die Papa uns
manchmal erzählt hat, Rinnie«, fragte Lehr, »über die Magier in der
Armee?«
»Ja«, stimmte Seraph zu. »Aber ich bin eine
besondere Art von Magier - ein Rabe.«
Kühle Macht glitt über Seraphs Haut wie das
Streicheln eines Liebenden, als sie ein magisches Feuer auf ihrer
Handfläche entfachte. Als die Magie sich stabilisierte, nahm sie
Lehrs Hand und schob das Licht in seine Hand, wo es fröhlich
weiterflackerte.
»Lasst mich vorn anfangen«, sagte Seraph. »Es war
einmal eine große Stadt voller Zauberer, die in ihrer Macht sehr
überheblich waren. So blind waren sie in ihrem Stolz, dass sie ein
schrecklich böses Wesen heraufbeschworen, den Pirschgänger. Um
dieses Übel wieder zu beherrschen, opferten sie die gesamte Stadt,
alle Bürger, die keine Zauberer waren, Männer,
Frauen und Kinder - auch ihre eigenen Frauen, Männer und
Kinder.«
Sie holte tief Luft und schloss die Augen,
versuchte sich zu erinnern, wie ihr Vater diese Geschichte immer
erzählt hatte, damit sie nichts ausließ. »Als die Zauberer die
Stadt opferten, um den Pirschgänger zu binden, tötete die Magie
alle bis auf ein paar der mächtigsten Magier und die meisten der
Schwächeren. Den Überlebenden blieb buchstäblich nichts weiter als
die Kleidung, die sie am Leib trugen. Zuerst dachten sie, das würde
genügen, aber die Welt ist nicht gut zu Menschen, die keine Heimat
haben. Im Lauf der Jahre wurde ihr Volk weniger, und die
überlebenden Zauberer von Colossae diskutierten, was sie tun
sollten.«
Sie lächelte ein wenig grimmig. »Sie waren immer
noch überheblich in ihrem Wissen und ihrer Macht, obwohl sie ihre
Stadt im Tod verschlossen hinter sich gelassen hatten, und sie
wollten sich immer noch in alles einmischen. Der Pirschgänger war
gefangen, aber im Lauf der Zeit würden sich die Gitter seines
Gefängnisses lockern. Die Zauberer kamen also zu dem Schluss, dass
ihre Nachfahren, die kein Colossae mehr hatten, was sie nährte und
bildete, nicht imstande sein würden, sich gegen das Wesen zu
stellen, das sie geschaffen hatten. Also beschlossen sie, ihre
Kinder zu verändern und ihnen Kräfte zu verleihen, die weniger vom
Lernen abhingen. Sie schufen die Weisungen.
Ich bin ein Magier«, sagte sie. »Es gibt andere
Magier bei den Reisenden, die ganz ähnlich sind wie die Magier des
Kaisers, die Tier geholfen haben, gegen die Fahlar zu kämpfen. Aber
ich bin Rabe. Ich brauche keine komplizierten Zaubersprüche. Ich
brauche Macht nicht zu stehlen, wie andere Magier es tun. Ich kann
Dinge tun, die nicht in einem Buch festgehalten und auswendig
gelernt wurden. Aber der Rabe ist nur einer von sechs Weisungen,
die den Reisenden verliehen werden.«
Jes hatte sich ein wenig von der Familie
zurückgezogen, bis sein Gesicht vor dem magischen Feuer verborgen
war. Seraph richtete sich auf die Knie auf und streckte sich, bis
sie seinen Arm leicht berühren konnte.
»Friede, Jes«, sagte sie. »Es geht nicht nur um
dich, und es tut mir leid, dass ich dich das denken ließ. Deine
Begabung ist nur schwerer zu verstecken als die der anderen.«
Jes’ Begabung war so schrecklich, dass sie ihn
nicht hatte abschirmen können, wie sie es bei den anderen Kindern
getan hatte.
Nachdem er sich zögernd wieder hingesetzt hatte,
setzte sie sich ebenfalls auf den Boden und sagte: »Ich bin Rabe.
Aber es gibt auch Barden, Heiler, Jäger, Wetterhexer und Hüter. Wir
nennen die Weisungen jedoch nach den Vögeln, die symbolisch für sie
sind, weil das weniger verwirrend klingt. Gewöhnliche Zauberer
werden ebenfalls als Magier bezeichnet, aber Rabe bedeutet immer,
dass einem die Weisung der Magier verliehen wurde. Die anderen fünf
sind: Eule für Barde, Lerche für Heiler, Falke für Jäger, Kormoran
für Wetterhexer und Adler für Hüter.«
Sie beobachtete ihre Kinder genau, aber sie
schienen nur ihren Worten zu folgen, also fuhr sie fort. »Mein
Vater sagte mir, einstmals wären die Weisungen viel weiter
verbreitet gewesen. Bei meinem Clan waren in meiner Generation nur
drei von uns an Weisungen gebunden, Rabe, Adler und Falke. Andere
Clans waren noch schlimmer dran - und als ich die Clans verließ,
wusste ich nur von einer noch lebenden Lerche, einer sehr alten
Frau.«
Seraph holte tief Luft und fragte sich, wie sie den
nächsten Teil aussprechen sollte. »Stellt euch also meine
Überraschung vor, als ihr alle mit Weisungen geboren wurdet.«
Lehr reichte Rinnie das magische Licht über den
Korb mit dem Bratbrot hinweg und rieb sich die Hände. »Aber an
Rinnie
und mir ist nichts, was uns von anderen unterscheidet«, meinte er.
»Und Jes’ Art ist doch sicher nichts, das den Reisenden geholfen
hätte?«
»Nichts, was euch von anderen unterscheidet?
Tatsächlich?«, fragte Seraph leise. »Bist du je ohne Wild von einer
Jagd nach Hause gekommen, Lehr? Hast du dich je verlaufen, mein
Falke?«
Er starrte sie an und wagte kaum zu atmen. »Vater
hat mir beigebracht, wie man Spuren liest und wie ich mir
Wegzeichen merken kann, ohne die ich mich verirren würde«, sagte er
angespannt.
»Ach ja?«, erwiderte sie. »Das ist nicht, was er
mir erzählt hat.«
»Was bin ich denn, Mutter?«, fragte Rinnie eifrig
und starrte in das Licht, das sie in der Hand hielt. »Kann ich ein
solches Licht machen?«
Seraph lächelte. »Nein. Du bist Kormoran - eine
Wetterhexe. Nicht jeder weiß schon vorher, wenn ein Unwetter
aufkommt, Rinnie.«
»Was ist mit Jes und Papa und … und Tante
Alinath?«, fragte Rinnie aufgeregt. »Lehr ist Falke, und das macht
ihn zum Jäger, oder? Was machen Falken und Kormorane, wenn sie kein
Feuer anzünden können?«
»Papa und Tante Alinath sind keine Reisenden«,
sagte Lehr.
»Wir sind es auch nur zur Hälfte, und wir haben
dennoch Weisungen«, verteidigte Rinnie sich hitzig.
Seraph hob die Hand. »Warte bitte. Sehen wir mal.
Hm. Ja. Lehr hat recht, die Weisungen gehören nur den Reisenden.
Das dachte ich jedenfalls, bis ich eurem Papa begegnete. Tier ist
Eule - also ein Barde. Ich habe in den letzten Jahren viel darüber
nachgedacht, aber mir ist nur eine einzige Erklärung eingefallen:
Die alte Rabenfrau, die meine Lehrerin war, sagte
mir, dass man nicht für die Weisungen züchten kann, wie man
besondere Eigenschaften in Pferden züchtet. Ihr alter Lehrer Arvage
wäre schon bei dem Gedanken empört gewesen, dass jemand außerhalb
der Clans der Reisenden eine Weisung haben könnte.«
Sie räusperte sich und fuhr fort. »Bei den
Reisenden fällt es jeweils der Eule zu, sich die Geschichte der
Clans zu merken, denn eine ihrer Eigenschaften ist ein
hervorragendes Gedächtnis. Aber die Eule trägt auch die Musik durch
die Generationen - und Musik war immer ein Teil von Tier.
Ihr hattet mehr Fragen.« Seraph schnalzte mit der
Zunge und wartete, was ihr noch einfiel. »Falken suchen Spuren und
können gut mit Waffen umgehen. Kormorane können das Wetter
vorhersagen, und wenn sie ihre Kräfte vorsichtig einsetzen, können
sie das Wetter auch beherrschen. Es gibt noch viel mehr
Eigenschaften, aber ich kenne sie nicht alle. Einiges ist schon von
einer Person zur nächsten anders; diese Dinge werdet ihr selbst
herausfinden müssen. Für andere«, sie zuckte die Achseln, »sollten
wir irgendwann jemanden finden, der euch unterrichtet.«
»Was ist mit Tante Alinath?«, fragte Rinnie noch
einmal.
»Deine Tante ist genau das, als was sie erscheint -
eine Solsenti-Bäckerin.«
»Was bedeutet Solsenti?«,
fragte Jes abrupt.
»Dumme Leute«, sagte Rinnie selbstzufrieden.
»Besonders Tante Alinath.«
Seraph sagte: »Hör auf zu lachen, Lehr. In der
Sprache der Reisenden wird jemanden, der blind oder verkrüppelt
ist, als Solsenti bezeichnet, aber
überwiegend wird es für Leute gebraucht, die kein Reisendenblut
haben. Was wolltest du sonst noch wissen, Rinnie?«
»Jes«, sagte Rinnie.
»Jes ist Hüter.«
»Und Hüter ist am weitesten vom Menschen entfernt«,
warf Jes verbittert ein. »Sie nahmen den Geist eines Dämons und
banden ihn an ihren Willen. In der Nacht bin ich das hier.« Er
stand auf und ließ seinen Umhang fallen, sodass er deutlich in dem
magischen Licht zu sehen war, das Rinnie immer noch hielt. Einen
Augenblick wirkte er noch so menschlich wie sie alle, aber dann
verschwamm seine Gestalt und wurde dunkler. Ein Panther so groß wie
Gura stand vor ihnen, die Augen golden und von einem unheimlichen
Licht erfüllt.
Es war das Tempo der Verwandlung, das Seraph
einschätzen half, ob das, was sie sah, Wirklichkeit oder Illusion
war. Diesmal konnte sie ziemlich sicher sein, dass der Panther
solide und kein Produkt ihrer Ängste war.
»Der Hüter passt auf den Clan auf«, fuhr sie ruhig
fort. »Wenn Gefahr droht, im Wald, in der Dunkelheit, passt er sich
an, um uns zu schützen. Keine Magie kann ihn beeinflussen, nur
seine eigene. Am Tag - und ich rede nicht nur davon, wenn die Sonne
am Himmel steht, sondern von Zeiten der Sicherheit - schläft der
Hüter und nimmt einen Teil von Jes mit sich.«
Rinnie gab Lehr das Licht zurück und ging mit weit
aufgerissenen Augen um Jes herum. Seraph konnte sehen, wie unwohl
ihr Sohn sich unter diesem stetigen Blick fühlte, obwohl er nicht
mit der Wimper zuckte - aber sie hatte mehr Zutrauen zu Rinnie als
Jes.
»Du bist wunderschön«, sagte ihre Tochter
schließlich ehrfürchtig und streckte die Hand aus, um das
grauschwarze Fell zu berühren.
Lehr beobachtete die Katze angespannt, dann lachte
er. »Was, hast du erwartet, dass wir alle kreischend davonrennen,
Jes? Niemand, der in der Nähe von Tante Alinath aufgewachsen ist,
würde sich vor einem einfachen Dämon fürchten.«
»Ich kann mich nicht in einen Panther verwandeln?«,
fragte Rinnie schmollend und setzte sich neben Jes.
»Nein, nur Jes«, erwiderte Seraph.
Lehr runzelte die Stirn. »Wenn ich das gewusst
hätte, wäre ich nicht so wütend auf dich gewesen, weil du so oft in
den Wald gehst«, sagte er zu seinem Bruder. »Ich nehme an, wir
werden alle ein paar Tage brauchen, um zu begreifen, was Mutter uns
heute Nacht gesagt hat.« Er hielt inne, dann sprach er das
Wichtigste aus: »Du solltest eines wissen, Jes: Ich bin froh, dass
du mein Bruder bist, bei Tag und bei Nacht.«
»Kriege ich nicht mal Reißzähne?«, fragte
Rinnie.
Die Katze stieß ein schnaubendes Lachen aus und
verwandelte sich wieder in eine vertrautere Gestalt. »Nein, Rinnie.
Keine Reißzähne für dich.« Er streckte die Hand aus und zauste ihr
Haar. »Aber mach dir keine Sorgen. Wenn du willst, dass ich
jemanden für dich beiße, werde ich das tun.«
Jes hockte sich auf die Fersen, auch wenn er sich
nicht genug entspannte, um sich wirklich wieder hinzusetzen. »Papa
wollte, dass ich es euch allen sage, aber ich wollte nicht. Ich
wollte nicht, dass ihr Angst vor mir habt.«
Seraph sah ihn stirnrunzelnd an. »Das weißt du doch
besser«, sagte sie. »Ganz gleich, was sie wirklich denken, sie
werden immer ein wenig Angst haben.« Sie wandte sich den anderen zu
und erklärte: »Schrecken zu verbreiten ist eine der Begabungen des
Hüters. Wenn er will, kann er Pferde oder Wild in Panik versetzen.
Aber Menschen werden schon durch seine Anwesenheit nervös. Es geht
nicht darum, dass ihr Angst vor ihm habt -
er löst eure anderen Ängste aus.«
Seraph lächelte, als ihr plötzlich etwas einfiel.
»Mein ältester Bruder war Hüter«, sagte sie. »Er hatte einen
ausgeprägten Sinn für Humor. Er verfolgte Leute im Wald. Sie kamen
schreckensbleich in unser Lager und versuchten, sich nichts
anmerken zu lassen, weil es schließlich nichts gegeben hatte, wovor
sie Angst haben mussten. Mein Großvater hat ihn immer
ausgeschimpft.« Bei der Erinnerung daran, wie der gebeugte alte
Mann ihrem so großen und wilden Bruder mit dem Finger drohte,
schüttelte sie lachend den Kopf. Ihr Bruder hätte den alten Mann
mit einem einzigen Schlag niederschmettern können, aber stattdessen
ließ er die Standpauke mit gesenktem Kopf über sich ergehen - und
ein paar Wochen später kam ein anderer verängstigter Wanderer in
ihr Lager.
»Deshalb ist Olbeck weggerannt«, sagte Rinnie. »Jes
hat ihn so verängstigt.«
Seraph nickte. »Wenn es nur der Schrecken war, wird
er sich zwar erinnern, dass er davongerannt ist, aber nicht, wovor
er sich fürchtete. Das wird ihn wütend machen. Er wird versuchen,
dich zu bestrafen, Jes. Pass auf dich auf.«
»Mutter«, sagte Lehr. »Warum erzählst du uns jetzt
von den Weisungen?«
»Wegen des Priesters, den der neue Sept aus Taela
mitgebracht hat«, sagte Seraph.
»Ich mag ihn nicht«, stellte Jes sofort fest.
»Bist du ihm schon begegnet?«, fragte Seraph
überrascht; Jes ging nur sehr selten ins Dorf.
»Ich habe ihn gesehen, als er in der
Jagdgesellschaft des neuen Sept ritt«, antwortete er. »Ich kann ihn
nicht leiden.«
»Gut«, sagte sie. »Ich möchte, dass ihr ihm alle
möglichst aus dem Weg geht. Er hat etwas … Seltsames an
sich.«
»Was?«, fragte Lehr, der plötzlich grinste.
»Verwandelt er sich in einen Panther oder kann er Licht aus dem
Nichts heraufbeschwören?«
Sie erwiderte das Lächeln, doch sie schüttelte den
Kopf. »Er beunruhigt mich.« Sie erklärte, was der Priester ihr von
seinem Glauben erzählt hatte.
Als sie fertig war, schüttelte Lehr den Kopf. »Du
meinst, ein ganzer Haufen Solsenti -
wahrscheinlich Solsenti-Zauberer, wenn man
von der Magie ausgeht, die sie wirken, um ihren
Tempel zu beleuchten - hat eine Religion ins Leben gerufen, die
auf den Weisungen der Reisenden beruht?«
Sie nickte. »Ich dachte, ihr solltet die Wahrheit
über das wissen, was ihr seid, bevor es ihm gelingt, euch irgendwo
in die Enge zu treiben und euch das Durcheinander in den Kopf zu
setzen, das er und seine Religion gebracht haben.« Sie zögerte.
»Ich hätte es euch früher sagen sollen - und es gibt noch eine
andere Sache. Ich habe mir deshalb zuvor nie Gedanken gemacht, weil
Reisende nicht auf die gleiche Weise an Schicksal glauben, wie es
die Leute hier tun.« Und weil Tier ihr immer das Gefühl gegeben
hatte, dass ihnen nichts Böses zustoßen könnte. »Seit Generationen
gibt es immer mehr Weisungen in den Reisendenclans. Aber aus einer
Ehe zwischen einer Reisenden und einem Solsenti mit einer Weisung, dem ersten Solsenti mit einer Weisung, von dem ich je gehört
habe, kommen gleich drei Kinder, denen ebenfalls Weisungen zuteil
wurden? Mein Großvater pflegte zu sagen: ›Wenn große Begabungen
gegeben werden, droht großes Übel.‹ Ich will, dass ihr alle
vorsichtig seid.«
Jes kam mit einer geschmeidigen Bewegung auf die
Beine, seine Aufmerksamkeit auf das Haus gerichtet. »Mutter, jemand
reitet gerade auf den Hof.«