17
»Es war einmal …«, begann
Seraph. Sie lächelte Tier an, als sie die Worte gebrauchte, mit
denen er die meisten Geschichten begann.
Er sah besser aus - er hätte auch kaum schlechter
aussehen können, ohne tot zu sein. Als Seraph hatte mit ansehen
müssen, wie Phoran ihn halb die Treppe hinaufgetragen hatte, war
ihr klar geworden, dass die wenige Zeit noch schneller verstrich
als befürchtet.
Sie fasste die Geschichte von Colossae zusammen und
ließ so viel Drama aus, wie sie konnte - sie hatte das Gefühl, dass
die meisten heute schon genug Aufregung gehabt hatten. Sie sprach
auch nicht darüber, dass Hennea und der Rabe das Gleiche waren,
aber sie hatte den Eindruck, als hätte Hennea es ebenfalls
herausgefunden. Sie würde sich später erkundigen, um sich zu
überzeugen, dass Jes Bescheid wusste, und es auch Tier sagen, weil
sie keine Geheimnisse vor ihm hatte. Hennea sollte selbst
entscheiden, ob sie es irgendwem sonst mitteilen wollte.
Während sie berichtete, blieb Seraphs Blick immer
wieder an Tier hängen. Sie gebrauchte ihre neue magische Sichtweise
nicht, denn das hätte zu viel Konzentration erfordert, aber sie
betrachtete ihn mithilfe ihrer Rabenmagie und musste sich
anstrengen, nicht in Panik darüber zu geraten, wie zerbrechlich
Tiers Weisung geworden war.
Er ahnte ebenfalls, dass es schlecht aussah - das
merkte sie
an den Falten um seine Augen und an der allzu lässigen Pose.
Seraph wusste, es würde nicht helfen, die anderen noch mehr in
Panik zu versetzen, also rang sie nicht die Hände und wetterte
nicht, obwohl sie beides gern getan hätte. Morgen würde Hinnum
ihnen helfen, und wenn sie dafür seine geliebte Bibliothek als
Geisel nehmen musste. Einen Tag länger konnte Tier noch
durchhalten.
Sie beendete ihre Geschichte, dann berichtete sie
über Hinnums Ansicht, was den Schatten, den Pirschgänger und das
Durcheinander anging, das die Zauberer mit den Mermori und der Bibliothek angerichtet hatten.
»Aha«, sagte Phoran ernst in die folgende Stille
hinein. »Mein Onkel hatte also recht. Sie töteten ihre Kinder und
retteten die Bücher.«
»Wir sollten gerecht sein«, meinte Tier, der Hinnum
sorgfältig beobachtet hatte. Ein Barde, dachte Seraph, konnte
Illusionen auf seine eigene Art durchschauen. »Ich nehme an, man
hat ihnen gesagt, ihre Familien müssten sterben - und die Bücher
hat keiner erwähnt.« Dann lächelte er Seraph an. »Aber das ist
nicht alles, was du heute erfahren hast, nicht wahr? Dafür wirkst
du viel zu selbstzufrieden, Kaiserin.«
Seraph warf einen Blick zu Hinnum. Sie hatte Hennea
die Wahl gelassen, ob sie ihre Vergangenheit enthüllen wollte.
Irgendwie kam es ihr falsch vor, dem alten Zauberer nicht das
gleiche Recht zu gewähren.
»Stell mich deiner Familie vor«, bat Hinnum.
»Darf ich dir meinen Mann Tieragan, den Barden aus
Redern, vorstellen?« Sie bemerkte Ielians Stirnrunzeln und
erkannte, dass sie Phoran vielleicht als Ersten hätte nennen
sollen. Es war zu spät, diesen Fehler noch zu korrigieren, aber sie
führte ihn als Nächsten auf.
»Kaiser?«, fragte der Gelehrte.
Seraph nahm an, es sagte etwas über eine Person
aus, wenn ihre Anwesenheit sogar einen so alten Zauberer wie Hinnum
schockieren konnte, selbst wenn er den größten Teil von zehn
Jahrhunderten in einer Bibliothek vergraben gewesen war. »Ich hatte
vergessen, dir von ihm zu erzählen«, sagte Seraph und berichtete
schnell, wieso der Kaiser bei ihrer Gruppe war. Als sie fertig war,
sah sie sich um und überlegte, wer der Nächste im Rang wäre. Dann
gab sie diese Überlegungen als hoffnungslos auf und ging nach dem
Alter vor.
Nachdem sie alle vorgestellt hatte - auf Rinnies
Beharren sogar Gura -, wandte sie sich wieder Hinnum zu und sagte:
»Das ist meine Familie. Familie, darf ich euch Hinnum, den
Illusionisten von Colossae, vorstellen?«
»Ich dachte, du hättest gesagt, er sei eine
Illusion«, wandte Tier stirnrunzelnd ein. Er starrte Hinnum an. »Er
ist wirklich nicht echt, Seraph - das zumindest kann ich
erkennen.«
»Das hier ist eine Illusion«, sagte Seraph und
deutete auf Hinnums Körper. »Aber der Marionettenspieler ist Hinnum
selbst.«
»Du willst sagen, er lebt noch«, flüsterte
Hennea.
Seraph sah ein Aufwallen von Gefühlen, das sofort
wieder hinter der makellosen Ruhe des anderen Raben verschwand. Jes
- oder der Hüter - zog Hennea dichter an sich heran und beobachtete
Hinnum grübelnd.
»Ja«, sagte Seraph zu ihnen allen. »Hinnum hat
zugestimmt, uns zu helfen. Er sagte, er könne mit Tiers Problem und
den Steinen mit den Weisungen helfen.« Obwohl Hennea sich jetzt
offenbar an alles erinnerte - was immer »alles« für einen Raben
sein mochte, der einmal eine Göttin gewesen war -, wären sie von
Hinnums Hilfe abhängig.
Sie warf dem alten Zauberer in der Gestalt eines
jungen Mannes einen Blick zu. »Aber gegen den Schatten kann er uns
am meisten helfen. Du kennst ihn, nicht wahr, Hinnum? Er
kam vor zwei Jahrhunderten hierher, ein junger, mächtiger
Zauberer, der nach jemandem suchte, der ihn unterrichten
konnte.«
Hinnum sah sie mit gleichmütiger Miene an.
»Es gefällt dir, andere zu unterrichten«, sagte
sie. »Ich weiß nicht, wie er sich damals nannte, aber wir kennen
ihn als Willon. Er ist klug und liebenswert.«
»Er war ein Illusionist«, flüsterte Hinnum.
»Zauberer halten Illusion für eine minderwertige Form von Magie -
etwas, was die Augen täuschen, aber nicht die Welt verändern kann.
Ein großer Magier zu sein, so viel Macht zu haben und dann die
Herablassung anderer Zauberer ertragen zu müssen, die selbst
mithilfe der Schale der Ewigkeit kaum an andere Orte sehen könnten,
ist schwer zu ertragen. Selbst in Colossae schaute man auf uns
herab - bis ich ihnen zeigte, was ein Illusionist kann.«
»Du hast ihn unterrichtet«, übernahm Tier das
Gespräch. Seraph überließ es ihm gerne. Er würde wissen, wie er
auch noch die letzte Einzelheit zutage fördern könnte.
»Ja.«
Tier legte den Kopf schief. »Aber ich wette, du
hast ihm nicht beigebracht, wie er zum Schatten werden kann.«
»Nein.«
»Es sind keine anderen Menschen hier«, sagte Tier.
»Seraph sagt, der Schatten könne die Macht des Pirschgängers nicht
lange kontrollieren, solange er nicht tötet. Wen hat er
umgebracht?«
»Meinen anderen Lehrling«, sagte Hinnum. »Anfangs
wusste ich das nicht. Ich dachte, sie wären beide gegangen. Ihr
seid nicht die Ersten, die Colossae gefunden haben. Manchmal kommen
sie, wenn ich mich zu allein fühle. Ich rufe sie her, unterrichte
sie und verpflichte sie zu Schweigen.«
»Wirst du uns helfen, ihn der Gerechtigkeit zu
überantworten?
Damit er aufhört, die Reisendenclans umzubringen? Damit er
aufhört, die Weisungen zu stehlen?«
Seraph sah, wie schuldig sich Hinnum fühlte.
Selbstverständlich war es Hinnum, der Willon
beigebracht hat, wie die Weisungen funktionieren, dachte
Seraph. Wer sonst hätte wissen sollen, wie das
geht?
»Er wollte alles über Zauberer wissen«, sagte
Hinnum. »Über die Götter, die starben. Über die Weisungen. Aber ich
habe ihm nicht beigebracht, wie er sie nehmen kann, und damals
verfügte er auch nicht über die Macht dazu. Er fragte mich nach den
Reisenden.«
»Du hast ihm nichts vom Adler erzählt«, warf Jes
plötzlich ein. »Volis wusste nichts über Adler, und an keinen der
Edelsteine, die Mutter und Hennea haben, ist eine Adlerweisung
gebunden.«
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Hinnum
empört. »Die Adler müssen geschützt und abgeschirmt werden. Die
Last, die ihr tragt, ist schwer genug, und ihr habt sie euch nicht
ausgesucht.«
»Er war hier, nicht wahr?«, fragte Lehr. »Hat er
sich die Stadt angesehen? Wenn die Eule und der Rabe Tempel haben,
gibt es doch sicher auch einen für den Adler.«
»Der Tempel des Adlers wurde geschleift«, sagte
Hennea. »Nachdem sie den Gott getötet hatten, zerstörten sie seinen
Tempel. Warum sollten sie einen toten Gott anbeten?«
»Das hat Hinnum bereits erwähnt.« Die Lüge fiel
Seraph leicht. Sie würde nicht zulassen, dass Hennea mehr sagen
musste, als sie wollte, nur weil sie aufgeregt war. Hinnum würde
wissen, dass sie log, und Tier ebenfalls. Aber keiner von beiden
würde das erwähnen.
»Papa«, sagte Jes. »Was will der Schatten
eigentlich mit den Weisungen?«
Tier lächelte, und Seraph wusste, dass die beiden
etwas bemerkt
hatten, das ihr entgangen war. »Gut, Sohn!« Er sah Hinnum an. »Ich
bin kein Rabe. Nicht einmal ein Reisender, obwohl ich die Weisung
des Barden habe. Aber ich bin ein Geschichtenerzähler.
In der Geschichte des Schattens gab es offenbar
drei interessante Personen.« Tier hob einen Finger. »Die erste bist
du, Hinnum, der einem Illusionisten beibrachte, wie er seine Macht
einsetzen soll. Du hast es getan, weil du einmal warst, was er war,
weil du einsam warst und weil er dir schmeichelte.«
Er hob den zweiten Finger. »Dann haben wir Willon,
der um der Macht willen zum Schatten wurde - aber ich kenne Willon.
Er hat als Kaufmann ein Vermögen gemacht, weil er immer alles
sorgfältig plante. Er hatte immer ein Ziel im Sinn. Er hat sich
verborgen - im Vergleich zu ihm folgte der namenlose König einer
eher direkten Herangehensweise -, aber wir wissen einige Dinge, die
Willon getan hat. Zum Beispiel rief er eine Geheimgesellschaft ins
Leben, die bewusst die Unruhe im Kaiserreich vergrößerte und
Weisungen stahl.«
»Der Rabe rette uns, er versucht, den Schleier zu
zerstören!«, sagte Hinnum plötzlich entsetzt. Dann wurde er blass
und warf Hennea einen Blick zu. Er räusperte sich. »Die Weisungen
wurden aus zwei Gründen geschaffen. Erstens sollten sie das
Gleichgewicht liefern, das den Schleier an Ort und Stelle hielt.
Der zweite Grund wurde nichtig gemacht durch unsere Dummheit, als
ich die Bibliothek rettete und die Mermori
herstellte.«
»Worin bestand er?«, fragte Hennea. »Ich kann mich
nicht erinnern.«
»Der Schleier sorgt dafür, dass die Alten Götter
keinen Einfluss auf unsere Welt haben. Aber ihre Macht muss dennoch
genutzt werden. Ohne ein Ventil würden sie den Schleier irgendwann
zerreißen. Also wurden die sechs Götter geschaffen,
um die Macht des Pirschgängers und des Webers zu kanalisieren. Die
Weisungen sollten demselben Zweck dienen, aber wegen des Makels im
Schleier drang die Macht der Alten Götter dennoch von alleine
hindurch.«
»Die des Webers ebenfalls?«, fragte Phoran.
Eine gute Frage, dachte Seraph. Wenn Zerstörung entkam, warum dann nicht auch
Schöpfung?
Hinnum kreuzte die Beine und setzte sich im
Schneidersitz auf die gepolsterte Bank. »Lasst mich euch sagen, was
ich vor mir sehe. Ein Rabe, verheiratet mit einem Solsenti-Barden - obwohl die Weisungen eigentlich an
die Familien der Zauberer aus Colossae gebunden waren. Sie haben
drei Kinder mit Weisungen, jedes mit einer anderen. Eigentlich
sollten die Weisungen unter den Reisendenclans verteilt sein. Ihr
seid mit dem Kaiser unterwegs - der vom Memento eines Raben
heimgesucht wird, das unbedingt den Schatten töten muss.« Er warf
Hennea einen kurzen Blick zu, dann wandte er sich wieder ab. »Ihr
seid nicht die Ersten, die Colossae fanden, aber ihr seid die
Einzigen, die ich nicht hierhergerufen habe.«
»Du glaubst also, das sei das Werk des Webers?«,
fragte Hennea eindringlich.
Hinnum nickte. »Ja.« Er sah Tier an. »Du denkst,
der Schatten will den Schleier zerstören, indem er so viele Orden
an diese Ringe bindet, wie er kann.«
Tier nickte. »Aber ich denke, das hängt auch vom
dritten Spieler in dieser Geschichte ab, dem Pirsch…« Sein Gesicht
wurde plötzlich ausdruckslos.
Lehr war aufgesprungen, bevor Seraph auch nur
verstand, was geschah. Jes zog Tier vom Tisch und auf den Boden.
Einen Moment lag er nur da und starrte blicklos ein Oberlicht
an.
Hinnum fasste Seraph am Arm, bevor sie zu Tier
gelangen konnte, und hielt sie zurück.
»Wir haben keine Zeit«, sagte er. »Seraph, sieh dir
seine Weisung an - er ist zu nahe daran, alles zu verlieren. Und
wenn das geschieht, wird es ihn umbringen. Du musst den Bann
anwenden, den ich dir beigebracht habe. Finde heraus, wie der
Schatten die Weisung stiehlt, und halte ihn auf.«
Sie riss sich los und eilte zu Tier. Die Jungen
drückten ihn auf den Boden, damit er sich nicht wehtat. Seraph sah,
dass Hinnum recht hatte - Tiers Weisung war beinahe verschwunden.
Sie hatten keine Zeit zu warten, bis der alte Zauberer helfen
konnte. Wenn Seraph keine Möglichkeit fand, den Bann aufzuhalten,
konnte er nicht mehr rückgängig gemacht werden, und Tier würde
sterben.
Sie schob ihr Entsetzen weit weg, wo es eher eine
Quelle der Kraft sein würde als eine Ablenkung. Dann beschwor sie
die Magie herauf, wie Hinnum es ihr beigebracht hatte, und
versuchte festzustellen, was der Schatten und seine Schergen ihrem
Mann angetan hatten.
Sie hatte geglaubt, der Bann des Schattens
vernichte einfach nur die Verbindung zwischen Tier und seinem
Orden. Nun, da sie sowohl Geist als auch Weisung sehen konnte,
begriff sie, dass sie sich geirrt hatte.
Jede Ranke, die vom Bann des Schattens ausging, war
in Geist gehüllt: ein heller, glänzender Überzug um einen dunklen
böswilligen Kern. Genau, wie sie ihre Magie in ihre Weisung gehüllt
hatte, um Tiers Weisung berühren zu können, wickelte der Schatten
seinen Bann in Geist. Der Geist hatte den Bann vor Seraphs früheren
Versuchen, ihn zu entdecken, gut geschützt. Ranken des Bannes waren
in das Gewebe von Tiers Weisung eingedrungen und arbeiteten sich
noch tiefer in ihn hinein.
Umhüllt von Geist, konnte der Bann die Weisung
ebenso binden, wie Tiers eigener Geist es getan hatte. Der Bann
hatte sich tief in Tiers Weisung gegraben, aber wo Tiers eigener
Geist passiv war, blieb der Bann es nicht. Er griff die Verbindung
zwischen Tier und seiner Weisung nicht einfach nur an, er entriss
ihm die Weisung mit Gewalt. Die Strähnen von Tiers Geist wurden
nach und nach zerstört, Faden um Faden, wo der Bann des Schattens
ihm seine Weisung unweigerlich entzog und nur Fetzen seines Geistes
zurückließ.
Seraphs alter Lehrer hätte den Bann für primitiv
gehalten, da er mehr Macht als Einfallsreichtum benutzte. Aber wie
primitiv er auch immer war, er funktionierte.
Die Geistesmagie des Schattens wickelte sich um die
Fäden, die sie gestohlen hatte, und schuf eine Schnur aus Magie,
Geist und Bardenweisung, die sich zwischen Tier und wahrscheinlich
dem Edelstein erstreckte, an den die Meister des Pfads seine
Weisung gebunden hatten. Noch während Seraph zusah, riss ein
kleines, dünnes Band von Tiers Geist, fiel vom Orden weg und wurde
dabei dunkler. Es kringelte sich schlaff an Tiers Körper.
»Seraph? Lass mich helfen.«
Das war Hennea. Seraph nickte zweimal und spürte,
wie der andere Rabe ihr die Hände auf die Schultern legte und ihr
Macht zuführte.
Sie hätte versuchen können, Tiers Weisung wieder zu
flicken - das hätte sie jetzt besser gekonnt, weil sie wusste, was
gebraucht wurde -, aber wie schon zuvor würde ihm das nur
kurzfristig helfen. Am Ende würden sowohl ihre Magie als auch Tiers
Geist nachlassen, und wenn er erst über alle Heilmöglichkeit hinaus
geschädigt war, würde er sterben.
Stattdessen bewegte sich Seraph also mithilfe von
Henneas Kraft an der gedrehten Schnur entlang, die Tier und den
Edelstein des Pfads verband - sie gab alles, was sie hatte, Magie,
Geist und Seele. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, bis ihre Reise
ihr endlos vorkam. Nur ihre wilde Entschlossenheit, das Ende der
Schnur zu finden, ließ sie durchhalten.
Dann hatte sie plötzlich das Gesuchte vor sich:
einen zimtfarbenen Edelstein. Graugrüne Ranken der bardischen
Weisung bildeten ein festes Knäuel mitten im Stein, und ein paar
Fragmente von Tiers Geist waren immer noch damit verbunden. Sie
hatte keine Ahnung, wie sie das Gestohlene zurückholen
sollte.
Für ihr magisches Ich wirkte der Edelstein riesig,
aber sie wusste, dass er in Wahrheit klein genug war, um in einen
Ring oder einen Halsschmuck eingesetzt zu werden.
Ich kann ihn mir nehmen,
dachte sie. Sie hielt den Stein nun mit ihrer Magie umschlungen -
wenn sie sich nur ein klein wenig stofflicher machte, würde sie ihn
einfach stehlen und mit zurücknehmen können.
Was sie vorhatte, war nicht ungefährlich. Sie würde
sich vielleicht dort wiederfinden, wo der Edelstein war - und sie
würde es nicht allein mit dem Schatten aufnehmen können. Oder
vielleicht würde es ihr auch nicht gelingen, fest genug zu werden,
um den Stein zu nehmen, aber zu fest, um zu ihrem Körper
zurückzukehren.
Noch während sie zögerte, pulsierte die Schnur und
drehte sich, und das Knäuel mit Tiers Weisung im Edelstein wurde
noch ein klein wenig größer.
Seraph hatte so etwas noch nie zuvor getan, aber
ein Rabe brauchte an Möglichkeiten nur zu denken, und dann eilte
sich die Magie, die Muster auszufüllen, die sie vorgezeichnet
hatte. Einen Augenblick entzog sich der Stein ihr noch, als fürchte
er ihre Berührung, aber schließlich konnte sie die Finger um den
von Macht gewärmten, scharfkantigen und glattseitigen Granat
biegen.
Er gehörte ihr. Einen Moment lang hielt sie ihn
einfach nur fest, so verblüfft war sie, dass es funktioniert hatte.
Dann benutzte sie ihre Magie und sah mit deren Hilfe sowohl den
Bann als auch die Macht, die ihr gestattet hatte, der Spur des
Schattens zu folgen. Sie kehrte zu sich zurück, und das Erste, was
sie hörte, war Tiers Aufschrei.
Sie brauchte kostbare Zeit, um zu begreifen, wieso
der Stein wärmer wurde, bis er heiß in ihren Händen war - Momente,
in denen er noch mehr von Tiers Weisung an sich zog. Dass der
Granat ihm jetzt so nahe war, erhöhte die Wirksamkeit der
diebischen Magie nur.
»Haltet ihn, damit er sich nicht wehtut.« Die
Stimme des Gelehrten hatte sich ein wenig verändert und klang nun
tiefer, was seinen Befehlen mehr Gewicht verlieh.
Hennea nahm die Hände von Seraphs Schultern und
umfasste stattdessen ihre Hände.
»Lass mich es schützen, Seraph«, sagte
Hennea.
Seraph öffnete die Hände und ließ Hennea den
Edelstein berühren. Ein schlichter Schutzzauber hätte einfach die
Verbindung zwischen Tier und dem Stein getrennt, und sie war zu
müde, um sich etwas anderes auszudenken. Sollte Hennea die
benötigte subtilere Magie einsetzen.
»Der Stein hat schon zu viel von seinem Geist und
seiner Weisung aufgenommen«, stellte Hennea besorgt fest und zeigte
damit, dass sie die Situation ebenso gut verstand wie Seraph.
»Du kannst es erkennen?«, fragte Seraph, dann
dachte sie: Selbstverständlich kann sie
das. Seraph versuchte immer noch, die Auswirkungen dessen zu
begreifen, wer und was Hennea gewesen war. Vielleicht hatte sie
Tier mit ihrem zögernden Vorgehen in Gefahr gebracht. Wenn sie es
nur Hennea hätte versuchen lassen - Hennea, die einmal die Göttin
der Magie gewesen war. Vielleicht hätte sie den Bann des Schattens
wirklich rückgängig machen können.
»Ich bin deiner Magie gefolgt und habe mich
erinnert.« Hennea ließ Seraph los und trat zurück. »Bevor ich sah,
was du tatest, hätte ich es nicht selbst tun können. Mein Schutz
um den Stein sollte eine Weile verhindern, dass er Tier noch mehr
wehtut. Aber es ist keine dauerhafte Lösung. Ich weiß nicht, wie
ich den Bann des Schattens rückgängig machen könnte.«
»Ich ebenso wenig«, gab Seraph zu und streckte die
Hand aus, um Tiers Gesicht zu berühren. »Jedenfalls noch nicht.«
Tier schlug die Augen auf, als sie ihn berührte. Er
lächelte sie an, dann schaute er zu Phoran, der auf Tiers Beinen
saß, und zu Jes und Kissel, die seine Arme hielten.
»Schon gut, ihr könnt mich loslassen«, sagte er.
»Ich bin jetzt in Ordnung … das denke ich jedenfalls.«
Sie warfen Seraph einen Blick zu und warteten auf
ihr Nicken, bevor sie Tier losließen.
»Letztes Mal dachten wir auch schon, er wäre damit
fertig«, sagte Phoran entschuldigend. »Er blieb eine kurze Weile
ruhig liegen, dann fingen die Krämpfe wieder an.«
»Diesmal dachte ich wirklich, du würdest
zerbrechen.« Lehrs Stimme war angespannt, als er seinem Vater
aufhalf.
Tier bewegte vorsichtig die linke Schulter. »Nein,
nichts so Dramatisches - ich habe mir wahrscheinlich nur einen oder
zwei Muskeln gezerrt.« Er blickte auf zu Seraph und lächelte
ironisch. »Du hast heute wirklich etwas gelernt. Gewöhnlich fühle
ich mich nach diesen Anfällen schlechter statt besser. Was hast du
getan?«
Seraph öffnete die Hand, sodass er den Edelstein
sehen konnte. Vorsichtig griff er nach dem ungefassten,
rostfarbenen Granat.
»Sie hätten wirklich einen hübscheren Stein finden
können«, meinte er, und als er Seraphs Gesicht sah, zog er sie an
sich, damit sie ihre Tränen an seiner Schulter verbergen
konnte.
»Ich hätte dich beinahe verloren«, flüsterte sie.
»Beinahe.«
»Ich bin hier«, erwiderte er. »Ich bin hier bei
dir.«
Sie ließ sich von ihm trösten, aber sie konnte
sehen, wie die Überreste seiner zerbrechlichen Weisung immer noch
von dem Stein in ihren Händen angezogen wurden.
Phoran entzog sich schließlich dem Chaos der
allgemeinen Besprechung, die Tiers Beinahe-Tod folgte. Rinnie
brauchte den Kaiser nicht mehr, sie klammerte sich an ihren Vater.
Und Phoran, der weder Reisender noch Magier war, konnte nichts zu
der Diskussion beisteuern, bei der es im Augenblick darum ging, wie
man den Schatten zerstören konnte.
Er wusste, sie würden ihn nicht lange allein
lassen, obwohl Toarsen und Kissel wirklich fasziniert von dem
Gedanken waren, einem Zauberer gegenüberzustehen, der schon alt
gewesen war, als das Kaiserreich gerade erst ein Aufblitzen im Auge
des schlauen alten Bauern gewesen war, der schließlich zum ersten
Phoran wurde.
Phoran ging ein paar Schritte vor die Bibliothek
und genoss die Stille der alten Stadt. Ein Sonnenuntergang, im
Vergleich mit den Sonnenuntergängen in Taela bleich und gedämpft,
erhellte den Himmel im Osten.
Phoran war davon ausgegangen, dass er sich auf
dieser Reise eigentlich daran gewöhnt hatte, erstaunliche Dinge zu
erleben - ein einsamer Berg, heimgesucht von Geistern, eine
legendäre, in der Zeit erstarrte Stadt, ein Zauberer, der älter war
als das Kaiserreich -, aber Seraph hatte ihm gerade das Gegenteil
bewiesen.
Es war nicht die Magie. Er war zwar sicher, dass
sie etwas getan hatte, um Tier zu helfen, aber er selbst hatte es
nicht sehen können. Er hatte schon öfter bemerkt, dass Seraphs
Magie weniger auffällig war als die der Hofmagier - wahrscheinlich,
weil Seraph keinen Förderer beeindrucken musste.
Nein, was Seraph getan hatte, war sogar noch
bemerkenswerter als ihre Magie - jedenfalls aus Phorans
Perspektive.
»Stell mich deiner Familie vor«, hatte der alte
Zauberer gebeten - und offensichtlich erwartet, dass Seraph nur
allen anderen ankündigte, wer Hinnum war. Phoran kannte sich mit
Hofzauberern und ihrer Denkweise aus. Hinnum hätte nie daran
gedacht, dass Seraph seine Aufforderung wörtlich nehmen
würde.
»Das hier ist meine Familie«, hatte sie
gesagt.
Das hatte sie nicht ernst gemein. Sie konnte es
einfach nicht ernst gemeint haben. Tier hätte das sicher getan,
aber Phoran kannte inzwischen viele von Rinnies Geschichten und
wusste, dass Tiers Verhalten gegenüber den Sperlingen nichts Neues
gewesen war. Er adoptierte alle Streuner, die ihm begegneten, ob
sie nun große schwarze Hunde oder linkische, liederliche Kaiser
waren.
Phoran wusste, dass Seraph
es nicht ernst gemein hatte, aber die Erinnerung an ihre Worte
stellte dennoch eine Kostbarkeit für ihn dar. Seit sein Onkel
gestorben war, wusste er, dass er allein war. Oh, da war Avar, aber
Avar gab Phoran nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein und … und
geliebt zu werden. »Meine Familie«, hatte sie gesagt, als sei
Phoran eins ihrer eigenen Kinder.
Er hörte, dass jemand aus der Bibliothek kam, und
seufzte leise, obwohl er gewusst hatte, dass Toarsen und Kissel ihn
nicht lange allein lassen würden. Ein pelziger schwarzer Kopf legte
sich auf seinen Stiefel, dann seufzte Gura ebenfalls.
»Phoran«, sagte Lehr leise hinter ihm.
Der junge Kaiser drehte sich um und sah den
dunkelhaarigen jungen Mann an - nicht unbedingt die letzte Person,
die zu sehen er erwartet hatte, aber dicht daran.
»Hast du genug von dem Lärm?«, fragte Phoran.
Lehr lächelte, aber er gab es nicht laut zu.
»Hinnum glaubt, wenn Mutter eine Lerche findet, könnte ein Kreis
aller sechs Weisungen imstande sein, sich an die Alten Götter zu
wenden.
Die Weisungen waren schließlich einmal dazu gedacht zu verhindern,
dass die Macht der Alten Götter zu groß wurde. Aber sobald die
überlebenden Zauberer begriffen, dass es ein Loch im Schleier gab,
schien das nicht notwendig zu sein, also entwickelten sie niemals
eine funktionierende Zeremonie dafür. Hinnum denkt, die Macht des
Webers und der sechs Weisungen könnte den Schatten
zerstören.«
Phoran blickte auf zum Sonnenuntergang. »Etwas von
den Worten habe ich noch mitbekommen. Sieht aus, als wollten deine
Mutter, Hennea und Hinnum versuchen, sowohl Tier als auch diesen
gestohlenen Weisungen zu helfen. Sie sagten, sie brauchten die
echten Namen der Alten Götter, oder vielleicht auch nur eine
Möglichkeit, uns andere loszuwerden, also wollen sie uns zum Tempel
der Eule schicken, weil die Namen sich dort irgendwo
befinden.«
»Rückwärts geschrieben ins Podium eingraviert«,
bestätigte Lehr. »Mutter sagt, wir können mit Holzkohle und
jemandes Hemd eine Kopie dessen anfertigen, was da steht.« Dann
fügte er untertänig hinzu: »Ich kann es auch allein tun. Es ist
nicht notwendig, dass …«
Er brach ab, und Phoran erkannte, dass sich etwas
von seinem Ärger wegen der Unterbrechung einiger kostbarer einsamer
Minuten bemerkbar gemacht haben musste. Lehr führte Phorans
Reaktion wahrscheinlich darauf zurück, dass Seraph ihm Aufgaben
übertrug, ohne ihn vorher zu fragen - was ihn vielleicht wirklich
ein bisschen aufregen sollte, denn schließlich war er der Kaiser
und Seraph die Frau eines Bauern. Aber sie hatte ihn als Familie
bezeichnet: Was Phoran anging, konnte sie ihn so viel
herumkommandieren, wie sie wollte.
»Hast du je gesehen, wie drei Zauberer
zusammengearbeitet haben?«, fragte er Lehr.
Lehr zögerte, dann sagte er vorsichtig:
»Nein.«
»Das liegt daran, dass sie es nicht können. Ich
will lieber nicht in der Nähe sein, wenn dieser alte Zauberer,
deine Mutter und Hennea anfangen, sich zu streiten.« Phoran
erinnerte sich daran, dass es Jes war, der nicht angefasst werden
wollte, und tätschelte Lehrs Rücken.
Lehr bedachte ihn mit einem trägen Lächeln.
»Im Ernst, Lehr, ich denke, keiner von uns sollte
allein in dieser Stadt unterwegs sein. Es ist nicht wie im Wald, wo
du und dein Bruder sich mit allem auskennen, was passieren kann.
Ich weiß, wir sind noch nichts Gefährlichem begegnet, aber diese
Stadt hat etwas wirklich Unheimliches an sich.«
»Also gut«, erwiderte Lehr. »Tatsächlich bin ich
herausgekommen, weil ich dachte, Ihr könntet mir eine Frage
beantworten. Ich wollte eigentlich Toarsen fragen, aber da ich Euch
gerade alleine erwische …«
»Frag.«
»Als wir heute auf dem Weg zur Bibliothek waren,
sprachen Rufort und Ielian über ihre Zeit als Sperlinge. Ielian
sagte etwas, das Rufort beunruhigte, aber ich weiß nicht genau, was
es war oder warum es ihn nervös machte.«
»Sag es mir«, bat Phoran ihn wieder.
»Rufort sagte, er sei gern einer Eurer Leibwächter
und dass es viel besser sei als das Leben als Sperling. Dann
erwiderte Ielian, es gefalle ihm ebenfalls. Aber selbst Sperling zu
sein sei besser gewesen, als für seinen Onkel als Schreiber zu
arbeiten. Das schien Rufort zu verstören, aber er verbarg seine
Reaktion vor Ielian.«
Phoran wusste, wer Ielians Onkel war, aber das traf
auch auf Rufort zu. »Sagte er, wieso er lieber Sperling als
Schreiber war?«
»Ja. Er erklärte, es sei besser bezahlt
worden.«
»Ich dachte, wir hätten sie alle gefunden«,
murmelte Phoran bedrückt.
»Alle was?«
»Die einzigen Sperlinge, die vom Pfad bezahlt
wurden, erhielten ihr Geld dafür, dass sie andere umbrachten oder
sie zumindest einschüchterten. Die meisten waren ältere Sperlinge:
Kissel und Toarsen konnten sie für uns identifizieren. Ielian ist
jünger und stammt aus der Ernte dieses Jahres. Wir hatten nicht
angenommen, dass sie auch einem Mann aus der jüngsten Gruppe solche
Arbeiten aufgetragen hatten.«
Kissel und Toarsen waren beide losgezogen, um
andere einzuschüchtern. »Ein paar Knöchel aufschrammen«, hatte
Kissel gesagt. Aber töten - besonders die Art von Mord, wie sie der
Pfad anordnete - war eine ganz andere Sache.
Er konnte Ielian nicht mehr trauen.
»Schon gut, Lehr«, fuhr er fort. »Danke, dass du es
mir gesagt hast. Ich lasse es Toarsen und Kissel wissen.«
»Ich mag ihn«, stellte Lehr fest. »Nicht viele
wagen, Mutter die Stirn zu bieten.«
»Ich mag ihn auch«, erwiderte Phoran. »Ich werde
mit ihm reden, bevor ich entscheide, was geschehen soll.
Danke.«
Es war inzwischen dunkel geworden. Phoran drehte
sich um, um in die Bibliothek zurückzukehren, aber das Memento
stand ihm im Weg.
»Ah«, sagte er. »Mir war nicht klar, dass es schon
so spät ist.«
Lehr betrachtete das Memento, aber er war nicht
zusammengezuckt oder hatte aufgeschrien oder dergleichen. Phoran
erinnerte sich an die ersten Male, als das Memento zu ihm gekommen
war, und wünschte sich, er hätte damals auch nur halb so ruhig
bleiben können. Gura winselte, wich aber nicht zurück.
Phoran rollte den linken Ärmel hoch; sein rechter
Arm hatte schon den ganzen Tag wehgetan, und das war sein
Schwertarm. Er erinnerte sich nicht, dass die Schmerzen vorher
so lange angehalten hatten, nachdem das Memento sich genährt
hatte, aber vielleicht war es ihm auch einfach entfallen.
Diesmal fühlte es sich sogar noch schlimmer an, als
der kalte Mund sich auf die Wunde drückte, die das Memento an
seinem Arm verursacht hatte. Die Kälte war durchdringender und
intensiver als am Abend zuvor. Phoran hätte sich bestimmt erinnert,
wenn es letzte Nacht so schlimm gewesen wäre.
Dann saß er plötzlich am Boden, halb gegen Lehr
gelehnt.
»Weil ich dein Blut nahm«, sagte das Memento mit
einer Stimme so trocken wie totes Laub, »schulde ich dir eine
Antwort. Wähle deine Frage.«
»Phoran?« Das war Lehrs Stimme, so leise, als
befänden sie sich auf der Jagd in der Nähe von Wild. »Schaut Euch
diese beiden Häuser auf der anderen Seite des Platzes an. Seht Ihr
sie?«
Phoran war schwindlig, und sein Körper schien nur
träge zu reagieren, aber er schaute zu den Häusern, auf die Lehr
zeigte. Vage nahm er auch wahr, dass Gura neben Lehr stand und
knurrte.
»Gestern warnte Hinnum uns, nicht in der Nacht in
der Stadt zu bleiben«, sagte Lehr. »Ich hatte es vergessen - und
ich wette, Mutter und Papa ging es ebenso. Hinnum sagte, die
Straßen gehörten den Toten.«
Das Wesen sah beinahe aus wie ein Mensch, dachte
Phoran. Es hatte die richtige Größe und Gestalt, aber ein
urtümlicher Instinkt sagte dem jungen Kaiser, dass, was immer ihn
und Lehr aus zwanzig Schritten Entfernung von der anderen Seite der
Kopfsteinstraße aus beobachtete, sehr lange kein Mensch mehr
gewesen war.
»Wie überleben wir das?«, fragte Phoran mit einem
Blick zu dem toten Mann, der ihn nun beinahe ein halbes Jahr
heimgesucht
und niemals so sehr erschreckt hatte wie dieses Ding - nein,
sagten seine Augen. Lehr hatte recht, es gab mehr als nur eins von
ihnen. Dinge also.
»Geht nach drinnen«, flüsterte das Memento. »Sie
kommen, und ich habe keine Macht über die Toten. Sie werden im
Austausch dafür, dass sie euch am Leben lassen, ein Geschenk
verlangen.«
»Was für ein Geschenk?«, fragte Phoran. Aber das
Memento hielt diese Antwort offenbar für ausreichend, denn nun
schwieg es.
Phoran, der immer noch Lehrs Arm hielt, zog sich
ein wenig wacklig auf die Beine. »Ich hoffe, deine Mutter kennt
sich mit den Toten aus«, sagte er.
»Ich kenne mich mit Raubtieren aus«, erwiderte
Lehr. »Dreht Euch nicht um, bis wir die Tür erreicht haben. Und
beeilt Euch nicht.«
Quälend langsam legten sie die paar Schritte zur
Bibliothekstür zurück. Lehr öffnete die Tür, und Phoran warf den
sich versammelnden Wesen einen letzten Blick zu, die langsam mit
den Schatten der Gebäude verschwammen, als das Zwielicht verging
und die Dunkelheit die Herrschaft über die Straßen von Colossae
übernahm. Dann war er im Haus, und die schwere Holztür schloss sich
zwischen ihnen und was immer sie jagte.
Zum ersten Mal fand Phoran die Bibliothek
regelrecht gemütlich: Das sanfte Leuchten der magischen Lichter,
die unauffällig hinter Schnitzereien in der Decke und den Wänden
befestigt waren, gab ihm das Gefühl, sicher vor der Dunkelheit zu
sein.
Seraph hörte vor lauter Stimmen nicht, wie die
Tür auf- und wieder zuging, aber sie sah, wie Jes sich aufrichtete
und zur Treppe hinschaute.
»Lehr, Phoran und Gura«, sagte er. »Sie riechen
nach Angst und Blut.«
Seine Stimme war laut genug, dass Hinnum und Hennea
ihre leise Auseinandersetzung abbrachen - eine Auseinandersetzung
so voller unausgesprochener Schuldgefühle und Zorn, dass Jes
gezwungen gewesen war, Hennea allein zu lassen und sich ein Stück
von allen entfernt einen Platz zu suchen.
Phoran kam die Treppe hinauf und hielt dabei seinen
linken Arm, als sei er verletzt. Lehr und Gura folgten ihm auf dem
Fuß. Der Hund hatte sein Rückenfell gesträubt und blickte immer
wieder hinter sich.
»Es ist Nacht«, sagte Phoran. »Die Toten wandeln
auf den Straßen. Und ich hoffe, das ist nicht so schlimm, wie ich
denke, dass es sein könnte.«
»Magie hat keinen Zugriff auf die Toten«, sagte
Hennea sofort, aber es lag keine Panik in ihrer Stimme. »Hinnum,
können sie hereinkommen?«
»Sie haben mich nie zuvor belästigt«, sagte Hinnum.
»Aber euch werden sie folgen. Die Tür kann sie eine Weile
aufhalten, aber nicht lange, wenn sie Blut gewittert haben. Magie
funktioniert allerdings zumindest in geringem Maß gegen sie, ganz
gleich, was die Geschichten sagen. Seraph, du wirst wissen, was ich
meine, wenn ich sage, dass sie Geschöpfe des Geistes sind.«
Das tat sie. Es bedeutete, dass es schwierig werden
würde, aber wenn es dem Schatten gelang, seine Magie in Geist zu
hüllen, dann konnte sie ebenfalls etwas tun. Solange es nicht zu
viele von ihnen waren.
»Selbstverständlich«, sagte Hennea erschüttert. »Es
tut mir leid. Ich hatte es vergessen. Wie am Berg der Namen. Es ist
so schwer, sich an alles zu erinnern. Jes, komm wieder aus dem
Treppenhaus.«
»Es gibt Schutzzauber, die sie aus der Bibliothek
fernhalten können«, sagte Hinnum. »Aber die habe ich nicht mehr
benutzt, seit euer Willon gegangen ist, und ich kann sie in meiner
derzeitigen Gestalt nicht aktivieren. Ich selbst brauchte sie
nicht; die Toten wollen Fleisch und Blut, und in meiner derzeitigen
Form habe ich nichts, was sie reizen könnte.«
»Was passiert, wenn sie uns finden?«, fragte
Ielian. Er war aufgestanden und hatte sein Schwert gelockert. Stahl
mochte gegen einige magische Geschöpfe helfen, aber gegen die Toten
würde er nichts nützen.
»Es ist nicht gut, wenn Tote die Lebenden
berühren«, sagte Seraph, und das war auch schon alles, was sie
wusste. Ihr alter Lehrer hatte sich mehr Gedanken wegen
Nebelmahren, Wasserdämonen und dergleichen gemacht.
»Es gibt nur wenige Gespenster in Colossae«, sagte
Hinnum. »Aber sie sind überwiegend harmlos und bleiben in der Nähe
ihrer Häuser. Ich weiß nicht, wie man sie nennen soll - Nekromantie
hat mich nie interessiert.«
»Ich kann mich auch nicht an viel erinnern«, sagte
Hennea.
»Sie haben alle Zauberer umgebracht, die
hergekommen sind, um bei mir zu bleiben, nachdem die Stadt
gestorben war«, berichtete Hinnum. »Weglaufen funktioniert nicht,
und das Gleiche gilt für die meiste Magie. Ich brauchte einige
Zeit, um zu lernen, wie ich meine Lehrlinge schützen konnte, und es
wird zu lange dauern, euch das beizubringen. Wir haben nur noch
Minuten, bis die Türen nachgeben, und nicht Tage.«
»Das Memento sagte, sie würden ein Geschenk dafür
verlangen, unser Leben zu schonen«, erinnerte sich Phoran. »Was
immer uns das nützen mag.«
»Seraph.« Tiers entschlossen ruhige Stimme schnitt
durch die wachsende Nervosität in der Bibliothek. »Ich habe meine
Laute beim Gepäck im Lager gelassen. Gibt es eine Möglichkeit, dass
Hennea oder du sie für mich holen können?«
Seraph starrte ihn an. Unter diesen Umständen
schien das eine seltsame Bitte zu sein. Vielleicht hatte sie ihn
falsch verstanden. »Wie bitte?«
Er legte den Arm um ihre Schultern und lächelte auf
sie herab, und die Müdigkeit in seinen Augen ließ ein wenig nach.
»Es gibt viele Lieder über die Toten, Seraph, und noch mehr
Geschichten. Phoran sagt, das Memento habe ihm verraten, dass sie
ein Geschenk wollen. Und ich habe bisher nur von einem einzigen
Geschenk gehört, das die Toten akzeptieren: Musik.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Toarsen leise.
»Meine Kinderfrau erzählte uns eine Geschichte von einem Barden,
der versuchte, eine Nacht in einem Spukschloss zu überleben, indem
er bis Tagesanbruch für die Gespenster sang.« Er zögerte, dann
fügte er hinzu: »Er hörte einen Augenblick zu früh auf, weil er vom
Lied einer Nachtigall überrascht wurde.«
»Diese Geschichte kenne ich, aber ihr habt Glück,
es gibt keine Vögel in Colossae, die mich ablenken könnten«, sagte
Tier. »Also hol mir bitte meine Laute, Liebste.«
»Sie kommen«, sagte eine seltsame, tonlose
Stimme.
Inmitten der Bibliothek stand ein Geschöpf der
Finsternis. Es war zu groß und dünn für einen Menschen und in
nachtfarbene Nebelschwaden gehüllt, die sich bewegten, als zupfte
hier und da ein Wind an ihnen, den die anderen nicht spüren
konnten. Es wirkte fehl am Platz, als gehöre es eher in eine der
Ecken des Raums, wo sich die Schatten sammelten, als hier in der
Mitte zu stehen.
Phoran trat vor, stellte sich zwischen das Wesen
und die anderen, und Seraph begriff, dass sie Phorans Memento vor
sich hatte. Es wirkte fester als in der Nacht zuvor, als wäre es
näher daran, ein lebendes Wesen zu sein als ein totes.
In diesem Augenblick erklang ein hohles Dröhnen,
das im Raum widerhallte und Jes knurren ließ.
»Seraph«, sagte Tier, »ich denke, es wäre wirklich
gut, wenn ich diese Laute so schnell wie möglich haben
könnte.«
Seraph öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu.
Tier wusste, in welchem Zustand seine Weisung sich befand. Er
wusste, dass die Anfälle häufiger auftraten, wenn er sang. Das
brauchte sie ihm nicht noch einmal zu sagen.
Sie nickte und schloss die Augen.
Bevor sie den Edelstein gestohlen hatte, hatte
Seraph so etwas noch nie getan, und sie war nicht sicher, wie sie
Tiers Laute ohne eine Schnur aus Magie finden sollte, die ihr den
Weg zeigte. Aber es war ein Tag des Lernens gewesen, und daher
sagte sie ihrer Magie, was sie wollte.
Tiers Laute war beinahe ebenso sehr ein Teil von
ihm wie seine braunen Augen und die Grübchen. Das Musikinstrument
zu finden und zu sich zu rufen erwies sich als einfacher, als
Seraph gedacht hätte, denn die Laute wollte bei Tier sein.
Wahrscheinlich hätte er sie sogar selbst rufen können. Seraph
öffnete die Augen und sah, dass das Instrument vor den Füßen ihres
Mannes auf dem gebohnerten Boden lag.
Tier beugte sich vor, um es aufzuheben. Er verzog
das Gesicht, dann richtete er sich langsamer wieder auf. An der
Außentür erklang ein weiteres Krachen.
»Ich werde wirklich zu alt für so viele Abenteuer«,
sagte Tier. »Danke für die Laute, meine Liebste.« Er sah sich um.
»Wir sollten alle zusammenbleiben.«
Er setzte sich auf den Tisch und machte es sich
bequem.
»Setzt euch«, wies er sie an. »Ich will, dass sie
mich ansehen und nicht euch.« Er warf dem Memento einen Blick zu.
»Und das schließt dich ein.«
Zu Seraphs Überraschung ließ sich das Memento auf
den Boden nieder. Wenn Tier in diesem Tonfall sprach, gehorchten
offenbar selbst solche Wesen. Seraph setzte sich auf eine Bank
neben Tiers Tisch, während er die Laute stimmte.
Phoran hockte sich auf den Boden, und seine
Gardisten verteilten sich um ihn herum. Jes und Hennea saßen am
Rand der Gruppe, und Lehr übernahm die andere Seite, obwohl er
dadurch dem Memento am nächsten kam, bis Hinnum sich zwischen ihnen
niederließ.
»Rinnie, warum kommst du nicht neben mich?«, fragte
Phoran. »Ich denke, deine Mutter wird vielleicht noch vor Ende der
Nacht die Hände voll haben.« So saß das verwundbarste von Seraphs
Kindern in der Mitte, und Phoran hielt Gura am Halsband, ohne dass
Seraph ihn darum bitten musste.
Tier stimmte immer noch die Laute, als die Tür mit
dem Kreischen von herausgerissenen Nägeln und einem Knacken
nachgab, was, wie Seraph annahm, von dem brechenden Türrahmen kam.
Sie schauten alle zur Treppe, aber dort war nichts zu sehen, und
außer den Klängen, die Tiers Finger an den Saiten verursachten, war
auch kein Laut mehr zu hören.
Eine Welle der Angst brach über sie herein,
schlimmer als alles, was Jes jemals bewirkt hatte.
Tier spielte eine schnelle Tonleiter und fing an,
das Instrument noch einmal zu stimmen. »Ich habe sie zu lange
liegen lassen«, murmelte er. »Die Saiten wollen nicht gestimmt
bleiben.«
»Papa«, sagte Lehr, der zur Treppe starrte.
»Spiel.«
Eine fleckig graue Hand erschien über der obersten
Stufe und zog einen Körper hinter sich her.
»Lauft!« Ielian kam auf die Beine, aber Rufort und
Kissel packten ihn beide an den Armen und zogen ihn wieder auf den
Boden.
Das Ding, das aus dem Treppenhaus kroch, sah
menschlicher aus als das Memento, dachte Seraph, und genau aus
diesem Grund wirkte es noch schrecklicher. Es hatte zwei Augen und
etwas, das einmal eine Nase gewesen sein musste. Ein
paar Strähnen grauen Haars standen von seinem Kopf ab. Es sah sie
an und klappte die Kiefer zu.
»Bleib sitzen«, zischte Toarsen Ielian an, der
wieder aufstehen wollte. »Weglaufen wird nicht helfen.«
»Nein«, stimmte das Memento zu, die Stimme wie
trockenes Laub im Wind. »Bei Nacht wandelt Tod in den Straßen von
Colossae.«
»Danke«, fauchte Phoran das Memento an, als Ielian
sich noch einmal vergeblich aufbäumte. »Das war wirklich hilfreich.
Warum bist du nicht einfach still? Ielian, setz dich hin! Gura,
Platz!«
Gura und Ielian sanken gleichermaßen unwillig
wieder zu Boden. Rinnie rollte sich zusammen und begrub ihr Gesicht
an Guras Seite, und Phoran streckte ungeschickt den Arm aus, um ihr
den Rücken mit der Hand zu tätscheln, die den Hund nicht am
Halsband hielt.
»Mutter, der Hüter will herauskommen«, sagte Jes.
»Aber ich denke, alle haben schon genug Angst.«
»Lass ihn nur«, sagte Seraph, deren Mund so trocken
war, dass ihre Stimme brach. »Er kann es kaum noch schlimmer
machen.«
Jemand - es hätte Ielian sein können - stieß einen
gedämpften Schrei aus, als Jes die Gestalt eines schwarzen Wolfs
annahm, nur einen Hauch kleiner als Gura. Der Hüter warf einen
Blick zu Ielian und fletschte die Zähne, bevor er zu dem Ding auf
der Treppe sah. Sein tiefes Knurren hallte seltsam von der hohen
Decke wider.
Rufort zuckte zusammen und rutschte eine Handspanne
zurück, bevor er sich bremsen konnte.
»Etwas hat mich berührt«, sagte er leise.
»Tier, ist das verdammte Ding endlich gestimmt?«,
fragte Phoran, als das Geschöpf seine schlaffen Beine über die
letzte Stufe zog und vorwärtskroch.
Die Präsenz der Toten bedrängte Seraph, beugte ihre
Schultern unter dem Gewicht. Es waren mehr als das Geschöpf, das
sie sehen konnten, und das andere, das Rufort berührte. Sie konnte
sie alle rings um sich herum spüren.
»Tier«, mahnte Phoran, als das Ding die viel zu
geringe Entfernung zwischen der Treppe und ihrer kleinen Gruppe
weiter schrumpfen ließ.
Jes ging um die verängstigten Menschen herum, bis
er zwischen dem Geschöpf und ihnen stand. Als er lauter knurrte,
erfüllte der Gestank von verwestem Fleisch die Bibliothek.
Tier grinste ausgelassen, und seine Finger
berührten die Lautensaiten.
Das Ding an der Treppe winselte beim ersten Ton und
verschwand, und gleichzeitig wurde der Gestank nach Verwesung
schwächer. Aber Seraph konnte spüren, wie die Toten warteten.
Tier spielte zunächst ein trauriges Lied über ein
Mädchen, das mit einem Seemann verheiratet war, der auf seinem
Schiff davonfuhr und nicht mehr zurückkehrte. Es war melodisch und
langsam, und Tiers Finger ließen kein bisschen nach. Ebenso wenig
wie seine Stimme.
Toarsen holte einmal hörbar Luft, aber als Seraph
ihm einen raschen Blick zuwarf, konnte sie nicht erkennen, dass
etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Der junge Mann beugte sich vor
und senkte den Kopf, aber er sah nicht aus, als wolle er gleich
wegrennen.
Tier hatte mit seiner Musik zumindest die
unmittelbare Krise aufgehalten. Seraph arbeitete an dem Zauber, der
ihr gestattete, Geist zu sehen - und die Bibliothek begann zu
leuchten wie ein Feld voller Freudenfeuer im Winter. Die Toten
waren alle da, ein Ring aus Gestalten, die aus Geist und etwas
anderem bestanden, das sie sehen, aber nicht benennen konnte, ein
zwischen Rot und Gold wechselnder Dunst. Es gelang
ihr, den Blick lange genug von ihnen abzuwenden, um sich zu
überzeugen, dass Tiers Weisung hielt, dann kehrte sie zu ihrer
Wache zurück, weil sie hoffte, dass die Toten sich weiterhin
fernhalten würden.
Als Tier mit dem ersten Lied fertig war, sah er
sein Publikum an - das, welches er sehen konnte. Dann begann er ein
Marschlied, das Seraph noch nie zuvor gehört hatte. Es hatte einen
eingängigen Kehrreim, und als er ihn zum zweiten Mal anstimmte,
forderte der Barde seine Zuhörer auf: »Singt mit, wenn ihr
möchtet.«
Lehr und Jes fielen beide ein, und Rinnie fügte
eine Sopran-Oberstimme hinzu. Seraph stellte fest, dass sie
ebenfalls mitsummte. Aber mitten in der vierten Strophe sagte Tier
ihren Namen statt des Wortes, das eigentlich in den Text gehörte,
und sie erkannte, dass er sich gewaltig anstrengen musste.
»Seraph«, sagte er noch einmal.
Sie riss den Blick von den Toten los und sah, dass
seine Weisung sich beinahe vollkommen von ihm gelöst hatte und nur
noch von ein paar einzelnen Strähnen seines Geistes und den letzten
Fäden ihrer Magie gehalten wurde. Sie packte die Verbindung, die
zwischen Tier und dem Edelstein verlief, und zog fest auf Tier
zu.
»Besser«, sagte Tier, bevor er wieder mit dem
Kehrreim begann.
Sie hielt die Schnur fest. Vielleicht hätte sie
Tier besser helfen können, wenn sie gewusst hätte, wie Geist und
Weisung bei einem gesunden Weisungsträger in Beziehung zueinander
standen. Bevor Tier sie angesprochen hatte, war sie so damit
beschäftigt gewesen, die Toten zu beobachten, dass sie auf die
anderen wenig geachtet hatte.
Sie sah auf und wollte sich vergewissern, wie es
Lehr ging - aber ihr Blick blieb zunächst an dem Memento hängen.
Sie konnte die Gestalt des Wesens weiterhin sehen, aber für ihre
magische Sichtweise wirkte es eher dunkellila als schwarz. Unter
dem Schutz der Weisung befand sich ein Reisender mit scharfen
Zügen, der in einem hellen Geistblau leuchtete. Er sah sie an,
schien verblüfft zu sein, dass sie ihn sehen konnte, und flüsterte
dann in ihrem Kopf: »Er soll den Fall des
Schattens erzählen, wie er es mir erzählt hat.«
»Tier«, flüsterte sie, damit sie ihren Mann beim
Singen nicht störte. »Das Memento sagt, du sollst den Fall des Schattens erzählen, wie du es ihm erzählt
hast.«
Tier wirkte ein wenig überrascht, aber er nickte.
Als er weitersang, bemerkte sie, dass sein Geist sich stabilisiert
hatte und nun wieder ein wenig besser mit den zerfaserten
graugrünen Stücken seiner Weisung verbunden war. Seraph fragte
sich, ob Tiers Musik, sobald der Bann des Schattens eingedämmt war,
ihm half, einer weiteren Auswirkung des Bannes
entgegenzutreten.
Tier beendete das Lied, schlug einen Mollakkord an
und begann eine aufsteigende Tonleiter, die sich zu einem
bewegenden Arpeggio steigerte - verlorene und klagende Musik. Seine
geschickten Finger flogen über die Bünde der Laute, und die Töne
fügten sich schließlich zu einer weniger verstörenden Melodie, als
er mit der Geschichte des Schattens begann.
»Es war einmal …«
Seraph hatte die Geschichte Dutzende von Malen
gehört, also achtete sie wenig auf die Worte. Sie behielt die Toten
im Auge, aber die schienen mit der von Lautenmusik begleiteten
Geschichte zufrieden zu sein, denn sie blieben, wo sie waren. Die
oberen Chöre von Tiers Laute webten Stücke von Heldenballaden und
festlichen Liedern über einem leise pulsierenden Bass, der sich
mehr und mehr dem Rhythmus eines Herzschlags annäherte, zu einer
einzigen Melodie.
»Dieser junge Mann war ein guter König, womit ich
sagen will, dass er für Ordnung und Wohlstand unter seinen Adligen
sorgte und für gewöhnlich auch verhinderte, dass die anderen
Bürger verhungerten.« Tiers Stimme verband sich mit seiner
Musik.
Als Seraph sicher war, dass Tiers Erzählkunst den
Toten zusagte, betrachtete sie Lehr, um herauszufinden, wie eine
Weisung normalerweise im Verhältnis zum Geist aussehen
sollte.
Zunächst überraschte der Geruch sie nicht, aber
wenn sie aufmerksamer gewesen wäre, hätte sie erkennen müssen, dass
es keinen Grund gab, wieso die Bibliothek plötzlich nach Pferd
riechen sollte.
»Ich rieche Blumen«, flüsterte Lehr.
Sobald er das gesagt hatte, nahm Seraph es
ebenfalls wahr. Sie blickte auf, aber keiner der Toten war näher
gekommen.
Ah, dachte sie und wandte
sich wieder Lehr zu. Kein Wunder, dass es den
Meistern des Pfads so schwergefallen ist, nur die Weisung zu
nehmen, kein Wunder, dass es Monate brauchte, Geist von Weisung zu
trennen - der Geist ist in das Gewebe der Weisung eingeflochten wie
Kett- und Schussfäden.
Sie hörte das Klirren von aufeinandertreffenden
Schwertern, aber als sie aufblickte, konnte sie nichts sehen, das
dieses Geräusch verursacht haben könnte - oder den plötzlichen
Geruch nach Kampfesschweiß.
»Keiner seiner Gardisten oder Adligen konnte sich
beim Schwert- oder Stabkampf lange gegen ihn halten«, sagte
Tier.
Seraph sah ihn ungläubig an, und ihr wurde klar,
dass nicht nur sie den Gebrauch ihrer Magie im Lauf dieser
zwanzigjährigen Ehe reduziert hatte - er hatte es ebenfalls
getan.
»Er richtete in jedem Dorf Bibliotheken ein«, sagte
Tier, und der Geruch nach Staub und Schimmel setzte sich über den
wirklichen Duft der Bibliothek hinweg, in der sie sich befanden und
die nur nach Leder, Pergament und Erhaltungszaubern roch. »Und in
seiner Hauptstadt sammelte er mehr Bücher, als seit
dieser Zeit am gleichen Ort zu finden waren. Vielleicht war das
der Grund für das, was ihm zustieß.«
In ihrer Ehrfurcht für das versunken, was Tier tat,
brauchte Seraph einen Augenblick, um zu erkennen, dass die Schnur
von Schattenmagie, die sie festgehalten hatte und die Tiers Weisung
an den Edelstein band, versuchte, sich ihr zu entziehen - aber
bevor sie wieder daran reißen konnte, erkannte sie, dass sich die
Schnur nun in die Gegenrichtung bewegte. Weisung und Geist kehrten
zu Tier zurück. Seraph ließ sie los.
»Zeit verging, und der König wurde alt und grau,
und seine Söhne wurden stark und weise. Die Menschen warteten ohne
Sorgen darauf, dass der alte König sterben und sein ältester Sohn
die Krone übernehmen würde.« Tier ließ die Finger kurz ruhen,
sodass sein Schweigen wartete, wie die Menschen darauf gewartet
hatten, dass der alte König starb.
Zwei Herzschläge Stille … drei, dann begannen
Mollakkorde, ein Widerhall der Melodie, die er am Anfang der
Geschichte gespielt hatte. »Eines Abends beschwerte sich der
älteste Sohn des Königs über Kopfschmerzen, bevor er zu Bett ging.
Am nächsten Tag war er blind und von Pusteln bedeckt, und am Abend
war er tot. Die Pest war in den Palast eingedrungen, und bevor sie
sich wieder zurückzog, waren auch die Königin und jeder Mann von
königlichem Blute tot.« Die vertraute Melodie nahm das Gewicht der
Trauer an. Gelegentliche Obertöne klangen wie das Klagen einer
Witwe.
Dann stieß Lehr ein so erstauntes Keuchen aus, dass
Seraph den Blick von Tier abwandte, der sie mit der Magie seiner
Worte und der Musik in Bann geschlagen hatte.
Sie sah Hinnum und das Memento, so verschieden von
den anderen, die zu Tiers Füßen saßen. Sie sah die Toten. Sie sah
ihre Kinder, Phoran und seine Gardisten. Sie sah Gura. Sie sah sie
alle im Licht von Geist, Weisung und dem dunklen Kern glitzern, von
dem sie annahm, es müsse wohl die Seele sein.
Und vor ihnen allen, unberührt von Seraphs
magischem Sehvermögen, stand Loriel, die Tochter des namenlosen
Königs. Seraph hätte nicht sagen können, woher sie wusste, wer
diese Person war, nur, dass die Frau, die entdeckt hatte, was aus
ihrem Vater geworden war, nun vor ihnen stand. Heraufbeschworen von
Tiers Macht, so echt, als wäre sie lebendig. Seraph wurde
erschüttert Zeugin, wie Loriel vor den Ungeheuern floh, die nun das
Schloss ihres Vaters bewohnten.
Die Musik wurde militärisch - scharfes Klopfen auf
die Oberfläche der Laute klang nach Trommeln und marschierenden
Soldaten -, als Tier von der Armee berichtete, die Loriel
zusammenrief, eine Armee, deren Kern bis zum Ende weiterkämpfen
würde. Plötzlich und misstönend begannen wilde Verzerrungen und
hörten unvermittelt wieder auf, gefolgt von einer Kakofonie
schrillen Quietschens und Gleitens, als Tier über Loriels Tod
sprach. Darunter lag immer noch stetig der Rhythmus des Herzschlags
vom namenlosen König.
Es fiel ihr schwer, die Aufmerksamkeit weiter auf
die Wirklichkeit des Banns zu richten, wenn Tiers wohltönender
Bariton ihre Aufmerksamkeit forderte. Dennoch, sie beobachtete, wie
die Macht von Tiers Musik den Bann des Schattens langsam zwang, ihn
loszulassen. Seraph zog den Edelstein aus ihrem Beutel am Gürtel,
in den sie ihn gesteckt hatte, und er fühlte sich in ihrer Hand
warm an.
Der Aufschrei eines Mannes zog ihre Aufmerksamkeit
wieder auf das Schlachtfeld, in welches sich die Bibliothek
verwandelt hatte. Sie wusste nicht, ob der Schrei von einem der
jungen Männer, einem der Toten oder Tiers Erzählmagie gekommen war.
Sie sah, wie der Rote Ernave gegen den Schattenkönig kämpfte, der
noch beängstigender war, als sie sich je hätte vorstellen können.
Tiers Finger spielten eine stotternde, gequälte Melodie, die ein
wenig hinter den Herzschlag zurückfiel, als wäre sie zu erschöpft,
um weiterhin im Gleichklang
ertönen zu können. Die stolzen Takte der Heeresmusik wurden durch
ihre Verlangsamung plötzlich quälend und schmerzhaft.
Unter seinem roten Bart sah Ernave ein wenig aus
wie Tier, und Seraph nahm an, dass sie vielleicht deshalb weinte,
als er am Ende der Schlacht starb. Oder vielleicht war es, weil der
Granat in ihrer Hand in winzige Splitter zerbrach und Tier wieder
von Kopf bis Fuß in das graugrüne Gewebe seiner Weisung gehüllt
war.