20
Ächzend hob Lehr den Hund hoch. Phoran nahm an, dass Gura um die 140 Pfund wog. Er würde den Hund nicht den ganzen Weg ins Lager zurücktragen können. Und Kissel war auch nicht in der Verfassung für einen so weiten Marsch.
Phoran warf einen Blick zu dem Habicht, der sie beobachtete. Wahrscheinlich würde das Tragen des Hunds noch ihr kleinstes Problem sein.
»Phoran, wo geht Ihr hin?«, fragte der Habicht. »Lauft, Phoran, lauft! Es wird Euch nichts …« Etwas, das Phoran nicht erkennen konnte, prallte gegen den Habicht und stieß ihn vom Dach.
Eine Elster flog hinter Phoran und landete auf dem Boden, dann verwandelte sie sich in Hinnum.
»Lauft«, sagte er, ohne den Blick von dem großen Vogel zu wenden, der unsicher vor ihm zu Boden flatterte. »Ich kann ihn nicht lange festhalten.«
»Los!« Phorans Stimme brach vor Erleichterung.
»Dort entlang«, rief Lehr und führte sie an, Gura auf den Armen.
Es war ein Albtraum. Sie gingen, statt zu laufen, weil Kissel und der überlastete Lehr nicht schneller werden konnten. Phoran blieb ganz hinten und bewegte sich rückwärts, damit er sehen konnte, was sich von dort näherte.
Der Himmel, der am Morgen so hell und blau gewesen war, wirkte nun dunkel und bedrohlich. Da Rinnie leise vor sich hin murmelte und sich eher unsicher bewegte, ging Phoran davon aus, dass sie etwas mit dem Wetter zu tun hatte. Er erinnerte sich an Lehrs Bericht über die Blitze, die den Troll getroffen hatten, und kam zu dem Schluss, dass Ielian sich geirrt hatte: Kormorane konnten noch mehr erreichen als gutes Wetter für Bauern. Wenn Rinnie noch ein wenig Zeit hatte, würde sie eine furchterregende Gegnerin sein.
Aus dem Bereich, wo sie Hinnum zurückgelassen hatten, damit er sich dem Schatten stellen konnte, erklangen nun Geräusche, und Lichtblitze zuckten auf. Das Ganze wurde von Vibrationen begleitet, die den Boden unter ihren Füßen beben ließen.
Als sie den Fuß der Rampe erreichten, sagte Phoran: »Lehr, gib mir den Hund und nimm mein Schwert. Hab ein Auge auf Kissel. Du wirst ihn vielleicht stützen müssen.«
Er nahm den Hund und begann mit dem langen Aufstieg. Was ihm an ihrem ersten Tag in der toten Stadt als Meisterwerk der Baukunst erschienen war, war nun einfach nur eine Qual.
Kissel tat, was er konnte, aber er hatte viel Blut verloren, und sie kamen schrecklich langsam voran. Lehr schob die Schulter unter den freien Arm, noch bevor Toarsen, Kissel und er ein Dutzend Schritte weit gekommen waren.
»Gib mir das Schwert«, sagte Jes und erschreckte damit alle furchtbar.
Phoran hatte ihn nicht gesehen, und wie er Lehrs Miene entnahm, ging es den anderen ebenso.
»Mach das nicht noch mal«, sagte Lehr gereizt und hielt das Schwert seinem Bruder hin, der plötzlich aus dem Nichts erschienen war.
»Weiter!«, rief Phoran.
»Mutter, Papa und Hennea sind auf dem Weg«, sagte Jes. »Hinnum hat die Magie des Schattens gespürt und ist vorgegangen, um zu helfen, so gut er kann.«
»Wir haben ihn gesehen«, sagte Phoran keuchend, denn bei dem steilen Aufstieg fühlte sich der Hund schwerer und schwerer an. »Er hat Willon angegriffen, damit wir fliehen konnten. Sie haben jede Menge Krach gemacht.«
»Das habe ich gehört«, stimmte Jes zu. Phoran staunte immer wieder darüber, wie sehr dieser Jes sich von dem langsam sprechenden jungen Mann unterschied, der er sonst war.
»Ich habe nichts mehr gehört, seit wir auf der Rampe sind«, sagte Lehr. »Ich hoffe, das bedeutet nichts Schlechtes.«
Bei seinen Worten flatterte eine zerzauste Elster heran und landete auf Rinnies Schulter. »Geht«, krächzte sie schwankend. »Geht!«
Kissel taumelte und brachte Lehr und Toarsen auf die Knie.
»Jes, nimm den Hund«, sagte Phoran und legte das schlaffe Tier in die Arme des anderen Mannes, bevor Jes Gelegenheit hatte zu widersprechen. Dann bückte er sich, stützte die Schulter gegen Kissels Bauch und hoch ihn hoch.
»Toarsen, zieh dein Schwert. Lehr, nimm meins von Jes zurück, bevor der das Schwert oder den Hund fallen lässt. Rinnie, halte den Vogel fest, bevor er noch von dir herunterstürzt.«
Kissel war schwerer als Phoran, aber Toarsen und Lehr wogen noch weniger als der Kaiser. Phorans Waden schmerzten bereits von der Klippe und dem Wachturm, und seine Rippen taten weh von seinem Sturz, aber Jes hatte gesagt, Tier sei auf dem Weg.
»Lasst mich ihn nehmen, Phoran«, bat Toarsen, als die Rampe endlich zu Ende war. »Ihr seid vollkommen erschöpft.«
Phoran schüttelte den Kopf. Toarsen war drahtig und muskulös, aber nicht stark genug, um Kissel lange tragen zu können.
»Blutet er immer noch?« Phoran atmete stoßweise, was es schwierig machte zu reden.
»Ja«, antwortete Toarsen. »Er ist bewusstlos. Ich …«
»Still«, sagte Jes, legte den Hund auf den Boden und schaute die Rampe hinab. »Er kommt.«
Dann nahm er wieder die Gestalt der größten schwarzen Bergkatze an, die Phoran je gesehen hatte.
»Nein«, sagte die Elster. »Nein. Sie werden alle sechs Weisungen brauchen, Hüter. Ich werde ihn aufhalten.«
Mit einem unsicheren Flattern, das mit jedem Flügelschlag stabiler wurde, flog er von Rinnies Schulter auf.
»Toarsen, nimm Gura«, sagte Phoran. »Gehen wir.«
Er war nicht sicher, wie weit sie gekommen waren. Phorans Welt bestand bald nur noch darin, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als er galoppierende Hufe hörte, kniete er sich nieder und legte Kissel sehr vorsichtig auf dem Pflaster ab.
»Bald wird es dir besser gehen«, sagte er zu dem jungen Gardisten. »Tier ist da.«
 
Scheck rutschte auf dem Kopfsteinpflaster, und Tier war vom Pferd gesprungen und beugte sich über Kissel, bevor der Wallach wirklich stand.
Kissels Puls, zu schnell und zu schwach, zuckte gegen seine Finger, und Tier blickte auf und sah die anderen an.
»Rufort und Ielian?«, fragte er.
Toarsen legte Gura vorsichtig neben Kissel. »Rufort ist tot«, sagte er. »Kissel und ich hielten Ielian beide für einen loyalen Mann. Wir haben versagt. Er hat Rufort umgebracht.«
Phoran, blass und schweißgebadet, hob die Hand. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ielian erwähnte Rufort gegenüber, dass der Pfad ihn bezahlt habe - das erfuhr ich gestern Abend schon, aber ich habe ihn nicht darauf angesprochen. Meine Verantwortung ist ebenso groß.«
»Papa, Ielian war ein Diener des Schattens«, sagte Rinnie.
Als er die Arme ausbreitete, rannte sie zu ihm. Ihr kleines Gesicht war zerschlagen, und sie hatte einen schwarzen, geschwollenen Knoten am Kinn. Ihre Unterlippe war aufgerissen und dick. Tier schaute von ihr zu Phoran.
»Auch das war überwiegend Ielian«, sagte er. »Aber Willon ist für den Riss in der Lippe verantwortlich.«
»Sagt uns mehr«, forderte Seraph. Sie untersuchte Gura vorsichtig, obwohl Tier sah, dass ihre Augen vor Zorn blitzten. »Setzt Euch, Phoran. Wenn Ihr weiter so schwankt, werdet Ihr noch umfallen. Was ist passiert, Lehr?«
»Ielian hat uns an einen bestimmten Ort gelockt - ich nehme an, er und Willon hatten das vorher abgesprochen. Bevor einer von uns ahnte, was los war, ließ Willon uns erstarren.«
Er holte tief Luft. »Papa, Willon verriet uns, wieso er an diesem Abend in Taela vor Jes und mir davonlief. Er wollte, dass wir Erfolg hatten. Er hat seine Leute geopfert, nur damit Mutter all die Steine mit den Weisungen bekommen würde. Er konnte selbst nicht herausfinden, was mit ihnen nicht stimmte, aber er dachte, Mutter, Hennea und Brewydd würde etwas einfallen. Er wusste auch, dass Volis die Landkarten hatte. Als Mutter und Hennea mit den Steinen nicht weiterkamen, wollte er, dass sie hierherreisten. Er griff dich an, um uns dazu zu zwingen. Hinnum wusste, wie man die Edelsteine zum Funktionieren bringen konnte, aber er sprach nicht mit Willon. Willon hat Mutter hierhergeschickt, damit sie mit Hinnum reden konnte.«
»Aber was soll das helfen?«, fragte Hennea. »Wir werden auch nicht mit ihm reden.«
»Mutter hat Menschen, die ihr wichtig sind«, erwiderte Lehr. »Willon hat versprochen, keinem von uns etwas zu tun, wenn Mutter sich um die Edelsteine kümmert, damit sie für ihn funktionieren. Er nahm Rinnie als Geisel und überließ es uns, aus seinem Bann auszubrechen und euch zu sagen, was geschehen war.«
»Er nahm Rinnie?«, fragte Hennea und hockte sich neben Kissel. »Warum ist sie dann hier? Hat Hinnum sie gerettet?«
»Nein«, sagte Rinnie. »Das war Phoran. Er hat sich aus dem Bann des Schattens losgerissen und kam, um mich zu retten.«
»Phoran hat dich vor dem Schatten gerettet?« Hennea klang ungläubig.
»Nicht genau«, warf Phoran ein.
Tier packte Rinnies Schulter fester; er war so dicht daran gewesen, sie zu verlieren. »Was ist passiert?«
»Er riss sich aus dem Bann des Schattens los und sagte uns, wie wir es ebenfalls tun können«, berichtete Toarsen mit einem respektvollen Nicken zu seinem Kaiser.
»Es war eine Illusion«, erklärte Phoran mit verlegenem Grinsen. »Ein Teil von mir ist nicht besonders nett, Tier. Der Gedanke, dass ein Bürgerlicher, ein aufgeblasener Illusionist, der sich einbildet, ein Gott zu sein, versuchte, mir, dem Kaiser, Befehle zu erteilen, kam mir einfach falsch vor. Ich konnte nicht glauben, dass es funktionieren würde - und das tat es auch nicht. Die anderen hatten sich ebenfalls losgerissen, als Rinnie und ich zurückkamen. Ich weiß nicht, wie.«
Toarsen lachte, obwohl er Tränen in den Augen hatte. Er saß neben Kissel auf der Straße, und nun berührte er ihn leicht. »Kissel schaffte es als Erster. Er sagte, etwas, wovon man sich befreien könne, würde ihn nicht halten. Danach redete er den Rest von uns frei.«
Phoran nickte nüchtern. »Ich rannte hinter Rinnie her. Es gibt eine Treppe an der Seite der Klippe, direkt unter diesem Wachturm da drüben.« Er zeigte auf den zweiten Turm im Süden. »Ich bin auf Ielian gestoßen, der gerade wieder herunterkam, als ich hinaufkletterte. Ich habe ihn von der Klippe geworfen …«
»Schade«, murmelte Seraph.
»Er ist tot«, berichtete Phoran.
»Danke«, sagte sie. »Aber ich hätte es schmerzhafter machen können.«
Phoran deutete eine Verbeugung an. »Den Nächsten werde ich für Euch aufheben. Ich konnte mich nicht länger mit ihm abgeben, weil ich wusste, dass Willon Rinnie hatte.« Er zuckte die Achseln. »Nicht, dass ich eine große Hilfe war. Wir wechselten ein Dutzend Worte, dann warf er mich vom Turm.«
Tier drehte sich um, um sich den fraglichen Turm noch einmal anzusehen. »Die Klippe hinunter? Ihr seht für einen Mann, der mindestens hundert Schritt tief gefallen ist, noch ziemlich gut aus.«
»Danke«, erwiderte Phoran. »Es geht mir auch gut - na ja, verhältnismäßig.« Der Kaiser legte den Kopf schief und sah Rinnie lächelnd an. »Ich denke, es war Rinnie, die mich rettete; wir waren bisher zu sehr mit Fliehen beschäftigt, um Geschichten auszutauschen und Genaueres zu erfahren. Aber ich bin tatsächlich nicht hässlich auf dem Boden aufgeprallt, sondern lag am Fuß der Klippe und versuchte, zu Atem zu kommen, als Rinnie zu mir stieß.«
»Das Memento hat mich nach Euch vom Wachturm geworfen«, berichtete Rinnie.
»Was?« Phorans Augen blitzten, und seine Hand zuckte zum Schwertgriff. »Es hat was getan?«
Tier fühlte sich ebenfalls ziemlich mordlustig.
Rinnie grinste erst Tier und dann den Kaiser an. Sie sah jetzt wieder mehr wie sie selbst aus. »Es packte mich, als ich mich auf der Treppe duckte, warf mich runter und sagte: ›Flieg, Kormoran!‹ Ich glaube, wenn es das nicht gesagt hätte, wäre ich einfach gefallen und auf Euch gelandet. So wusste ich nur nicht, ob ich schnell genug für Euch sein würde. Ihr habt nicht mehr geatmet, und ich war überzeugt, dass Ihr tot wäret. Dann habt Ihr Euch hingesetzt, und Eure Augen quollen hervor und wurden feucht - ich dachte schon, Ihr hättet Euch in einen dieser umherirrenden Toten verwandelt, wie die von letzter Nacht. Aber nein, Ihr habt wieder angefangen zu atmen und mich ohne ein Wort des Danks gepackt und weitergezerrt.«
Alles in einem Atemzug, dachte Tier. Heiterkeit setzte sich über den Schrecken hinweg, dass seine Tochter von einem Turm geworfen worden war. Dass Rinnie überlebt hatte, half dabei sehr.
Phoran verbeugte sich. »Ich danke Euch, meine Dame. Es war falsch von mir, Euch nicht schon früher zu danken - obwohl ich annehme, dass meine Angst um Euer Leben bei dieser Gelegenheit Vorrang hatte.«
Rinnie wirkte erfreut und selbstzufrieden. »Ich kann kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen und den Leuten zu erzählen, dass ich das Leben des Kaisers gerettet habe.«
Lehr lächelte sie an. »Niemand wird dir glauben, kleine Pest.«
»Wo ist Hinnum?«, fragte Hennea.
»Der Schatten war unterwegs«, sagte Jes, der inzwischen von der Bergkatze zum Wolf geworden war. »Hinnum war bereits verwundet, aber er wollte mich nicht mitkommen lassen.«
»Da wir gerade davon reden«, warf Phoran ein. »Sollten wir weitergehen?«
»Nein«, sagte Hennea. »Was wir versuchen wollen, können wir hier genauso gut tun wie anderswo. Seraph, es wird Zeit festzustellen, ob dieser Lerchenring funktioniert. Phoran, wo sind die Namen aus dem Eulentempel?«
»Willon hat sie verbrannt«, sagte Toarsen. »Und er wollte den Tempel versiegeln, damit niemand sonst sie finden kann.«
»Ich erinnere mich an einen von ihnen«, sagte Phoran.
Hennea sah ihn stirnrunzelnd an. »Ihr wisst, wie man die Sprache von Colossae liest?«
Er lächelte. »Ich bin nicht einfach nur ein Säufer, meine Dame. Ich bin ein gebildeter Säufer. Ich konnte die Landkarten und die Beschriftung des Tors nicht lesen, aber das Alphabet ist das gleiche wie das Altoslanische, was ich beherrsche. Wenn Toarsen noch dieses Stück Holzkohle hätte, könnte ich es aufs Pflaster schreiben.«
Toarsen suchte in seinem Beutel und reichte Phoran das Kohlestöckchen. Phoran malte ein paar seltsame Linien auf den Boden, die vielleicht wirklich Buchstaben waren.
»Weißt du, zu wem der Name gehört?«, fragte Tier.
Hennea schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Nun ja«, erwiderte Tier. »Wahrscheinlich funktionieren sie alle. Und was genau tun wir jetzt?«
»Wir sechs, du, Jes, Seraph, Lehr, Rinnie und ich, halten uns an den Händen. Dann sagst du den Namen des Gottes - ich bringe dir bei, wie er ausgesprochen wird.« Hennea seufzte unglücklich. »Den Rest werden wir improvisieren müssen. Ich weiß nicht, was passieren wird. Die Weisungen sind nicht die Götter von Colossae.«
»Sollten wir warten, bis Willon näher kommt?«, fragte Tier.
Hennea nickte.
»Gibt es denn nichts, was ich dabei tun kann?«, fragte Toarsen. »Kissel wird es nicht schaffen.« Er hob den Kopf seines Freundes auf den Schoß und berührte leicht Kissels Stirn. »Er hat zu viel Blut verloren. Ich muss an dem Tod des Mannes, der ihn umgebracht hat, beteiligt sein.«
Tier hockte sich neben den großen, kräftigen Mann und legte ihm die Hand auf die zu kalte Wange. Er blickte zu Seraph, die nickte.
»Gebt ihn noch nicht auf«, sagte Tier zu Toarsen. »Kissel hat schon Schlimmeres als das hier überlebt - und wir haben eine Lerche, die ihm helfen kann, nicht wahr, Seraph?«
»Ich habe nicht vor, den Schatten noch mehr von uns töten zu lassen«, erwiderte Seraph.
»Na also«, sagte Phoran. »Seraph sagt es auch - Kissel wird nicht wagen, sich ihr zu widersetzen.«
Ein dünnes Lächeln erschien auf Kissels Lippen.
»Siehst du, mein Junge?«, fragte Tier. »Alle Männer müssen sich den Launen meiner Frau beugen. Du schaffst es schon.« Er blickte zu Toarsen auf. »Ich denke, dieser Kampf geht über Schwerter hinaus, aber ich hätte nichts dagegen, wenn ihr eure Schwerter bereithieltet und sie einsetzt, sobald ihr Gelegenheit findet.«
Toarsen nickte feierlich.
»Seraph«, sagte Tier. »Würdest du jetzt anfangen? Kissel hat sich wirklich angestrengt durchzuhalten, aber er könnte Hilfe brauchen.«
 
Seraph berührte den Tigeraugenring, schloss die Augen und versuchte zu spüren, was anders war, aber sie fühlte sich genau wie zuvor. Genau, wie sie sich gefühlt hatte, als sie vor ein paar Minuten versucht hatte, Heilerarbeit an Gura zu leisten.
Sie blickte nach unten zu dem jungen Mann, der an jenem Abend in Taela an ihrer Seite gegen den Pfad gekämpft hatte. Als sie sich neben Kissel niederließ, blickte Toarsen so freundlich zu ihr auf wie eine Hündin, die ihre Welpen vor einem Fremden schützen will.
»Ich werde ihm nicht wehtun«, sagte sie, obwohl sie sich nicht wirklich sicher war.
»Zu diesem Zeitpunkt gibt es nicht viel, was mir noch wehtun könnte«, murmelte Kissel plötzlich mit diesem verhaltenen Humor, den er an sich hatte. Er schien immer am zufriedensten zu sein, wenn seine Zuhörer nicht ganz sicher waren, ob er nun versuchte komisch zu sein oder nicht.
»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Seraph, obwohl sie nicht einmal wusste, ob er noch bei Bewusstsein war.
Sie versuchte, sich zu erinnern, was Brewydd getan hatte, als sie Tiers Verletzungen heilte - aber sie war abgelenkt gewesen und hatte nicht sonderlich auf die Heilerin geachtet.
»Lehr?«
Er hockte sich neben ihr auf die Fersen. »Wie kann ich dir helfen, Mutter?«
»Hast du Brewydd jemals beim Heilen beobachtet?«
»Sie war eine Lerche, Mutter«, sagte Lehr. »Können Raben ebenfalls heilen?«
Seraph hob die Hand, damit er sehen konnte, welchen Ring sie trug. »Ich bin heute auch eine Lerche. Aber ich brauche deine Hilfe.«
»Die Lerchenringe funktionieren nicht«, wandte Jes ein. »Du und Hennea müsst sie erst reinigen.«
Seraph drehte sich zu ihm um. »Willon hat Mehalla umgebracht, um ihre Weisung zu stehlen, Jes. Vor vielen, vielen Jahren. Etwas in diesem Ring erkennt mich, und ich glaube, das bedeutet, dass die Weisung daran einmal Mehallas Weisung war.« Sie hielt inne. »Wir brauchen mich heute als Lerche, aber selbst wenn der Stein nichts als die Weisung enthielte, könnte ich ihn nicht benutzen, um wirklich zur Lerche zu werden - nicht mehr, als Volis Rabe war, wenn er einen Rabenstein trug. Ich muss herausfinden, ob die Person, Mehalla oder nicht, die diesen Ring heimsucht, mir helfen will, nur für heute eine Lerche zu sein.«
»Du solltest die Hand auf seine Wunde legen«, sagte Lehr. »Wir werden den Verband abnehmen müssen.«
»Lasst mich das machen«, schlug Tier vor. »Ich habe ein wenig Erfahrung mit Notverbänden.«
Er setzte sich neben Seraph und schnitt durch das Tuch, das die Kompresse auf der Wunde hielt. Dann zupfte er vorsichtig an der Kompresse.
»Sie klebt an ihm, aber nicht besonders fest, weil er immer noch blutet. Das wäre schlimm, wenn wir keine Heilerin hätten.« Er lächelte Seraph an. »Im Moment wird es dadurch leichter, die Kompresse abzunehmen - aber du musst gleich die Hände auf die Wunde legen. Lerche oder nicht, der Junge muss ein wenig Blut in sich behalten, wenn er überleben soll. Fertig?«
»Ja.«
Er nahm die Kompresse ab, und wie er gesagt hatte, fing die Wunde wieder an zu bluten. Seraph legte die Hand darauf und verschloss sie mit der Handfläche.
Alle warteten, selbst Seraph, aber nichts geschah.
»Versuche, dir die Heilung vorzustellen«, schlug Hennea vor. »Denk an Kissel, wie er wieder gesund ist.«
Sie versuchte es und spürte, wie sich ihre Magie rührte, aber Magie konnte nicht heilen. Sie hätte sie benutzen können, um die Wunde zu verbinden, und würde das auch tun, wenn sie ihn nicht heilen konnte - aber er war so blass und hatte zu viel Blut verloren. Wenn er statt mit einer Heilung mit Magie auskommen musste, würde er wohl sterben.
»Hennea hat teilweise recht«, sagte Lehr. »Aber hier geht es nicht um Magie. Ich habe dich und Hennea beobachtet und nehme an, dass man viel denken muss, wenn man Rabe ist. Die Jagd hingegen ist für mich beinahe etwas Instinktives. Ich schaue hin, und dann kann ich die Spur sehen. Ich muss nicht viel darüber nachdenken. Jes regt sich auf, und die Temperatur rings um ihn herum fällt. Papa fängt an zu singen, und die Leute hören mit allem auf, was sie gerade tun, um ihm zuzuhören. Lass einfach deinen Körper die Arbeit tun.«
Seraph schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, aber je mehr sie sich bemühte, nicht zu denken, desto mehr dachte sie.
Tier stand auf, aber sie blickte nicht zu ihm hin, um zu sehen, was er tat. Einen Moment später war er wieder da und fing an, Laute zu spielen. Er wählte eins ihrer Lieblingslieder, ein Abendlied, mit dem er ihre Kinder in den Schlaf gesungen hatte, wenn sie zahnten oder krank waren. Die leisen Töne spülten über sie hinweg und nahmen ihr die Anspannung in Hals und Schultern. Sie ließ sich von seiner Stimme weglocken von Blut und Gefahr, zurück in ihr Heim und zu den Abenden, an denen die Arbeit des Tages getan war und sie und Tier auf der rückwärtigen Veranda saßen. Guras drahtiges Fell kitzelte an Seraphs nackten Füßen, während die untergehende Sonne die Berge rötlich färbte.
Als sie sich entspannte, rührte sich etwas an ihren Fingerspitzen, das zunächst nicht mehr als ein Flüstern war. Sie lockte es mit einem Hauch von Interesse heraus, genau, wie sie einen widerstrebenden Funken anpustete, wenn sie versuchte, auf die Solsenti-Art ein Feuer anzuzünden.
»Er hat aufgehört zu atmen.«
Das war Toarsens Stimme, belegt von Trauer.
Aber als sie mehr auf ihn achten wollte, brachte Tiers Lied sie zurück zu diesem kleinen Funken von … Heilen. Hör zu, drängte sie liebevoll und leitete ihn zu der Haut unter ihren Fingern, ich habe etwas für dich zu tun.
Feuer schoss so unerwartet durch ihre Schultern, dass sie keuchend zusammenzuckte, aber jemandes Hände umschlossen ihre Handgelenke und hielten ihre Hände auf Kissel fest. Sie öffnete die Augen und wusste, welchen Schaden Ielians Messer angerichtet hatte, obwohl das unter ihren Händen und unter Kissels Haut verborgen lag.
Die Macht der Lerche drang durch Seraphs Hände und in Kissels Körper, reparierte erst den Schaden am Gewebe und bewegte sich dann zu kleineren Dingen. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, aber als Seraphs Macht es traf, konnte es sich ihr nicht widersetzen und fing wieder an zu arbeiten.
Er hat nicht genug Blut, Mutter. Er wird ohne mehr Blut nicht leben können.
»Wer hat das gesagt?«, fragte Jes.
»Was gesagt?«, flüsterte Lehr. »Still, Jes, du lenkst sie nur ab.«
Mehalla?, fragte Seraph, unsicher, ob diese leise Stimme echt oder nur ein Ergebnis ihrer Fantasie gewesen war. Sie erhielt keine Antwort.
Wer immer es gewesen war, hatte jedoch recht gehabt. Kissel brauchte Blut, das die Lerche ihm nicht geben konnte.
Aber Seraph war keine Lerche, oder zumindest nicht nur eine Lerche. Sie ließ die rechte Hand, die mit dem Lerchenring, auf dem geschlossenen Loch in Kissels Brust liegen, dann hob sie die linke, die mit Kissels Blut bedeckt war, an die Lippen und berührte sie mit der Zunge.
Sie rief ihre Magie zu dieser Hand. Finde es, befahl sie ihr und zeigte ihr Kissels Blut. Ihre Magie nahm das getrocknete Blut aus dem Verband, von ihren Händen, von Kissels blutiger Kleidung. Noch einmal berührte Seraph ihre Zunge. Mach es so. Das trockene, tote Blut wurde sauber und wieder lebendig. Dorthin. Der Teil von ihr, der Lerche war, fand die zerstörten Blutgefäße und zeigte der Magie, wohin sie sich bewegen musste.
Seraph holte schaudernd Luft. »Lass los«, sagte sie zu Lehr, der ihre Handgelenke immer noch so fest hielt, dass man die Spuren dieser Berührung noch tagelang sehen würde. »Er braucht mich nicht mehr.«
Lehr ließ sie los, und sie zog die Hände weg. Kissels Brust sah aus, als wäre die Wunde schon Wochen alt. Seraph fand es ein wenig enttäuschend, dass überhaupt noch etwas zu sehen war, aber dann erinnerte sie sich daran, wie Brewydd darauf bestanden hatte, dass Tiers Knie den letzten Rest der Heilung allein vollzogen, also nahm sie an, dass es wahrscheinlich in Ordnung war.
Kissel schlug die Augen auf. »Ich glaube nicht, dass ich heute aufstehen und kämpfen werde«, sagte er zu Seraph. »Aber morgen vielleicht.« Er versuchte sich hinzusetzen, schaffte es aber nicht ganz. Toarsen fing seinen Kopf auf, bevor er auf den Boden schlug. »Andererseits«, fuhr Kissel schwächlich fort, »könnte es auch noch bis nächste oder übernächste Woche dauern.«
»Ihr werdet schon wieder«, sagte Tier, der aufgehört hatte zu singen.
»Danke«, flüsterte Toarsen, und er hatte Tränen in den Augen.
»Ich habe Euch doch gesagt, ich würde niemanden mehr an diesen Mistkerl verlieren.«
»Wo ist das ganze Blut hingegangen?«, fragte Rinnie.
Seraph tätschelte Kissels nackte Schulter. »Es ist wieder dort, wo es hingehört«, sagte sie. »Versuchen wir Gura.«
Gura zu heilen war gleichzeitig leichter und so viel schwieriger - leichter, weil Seraph nun wusste, wie sie den Ring einsetzen musste, und schwieriger, weil sie müde wurde und der Hund noch schwerer verletzt war. Ielian hatte Guras Rippen gebrochen und einen Muskel an seiner Schulter vollkommen durchtrennt.
Sie war tief in die letzten Bindungen versunken, von denen die Lerche wusste, dass sie dem Hund erlauben würden, ebenso gut zu laufen wie vor der Verwundung, als jemand sie ansprach.
»Seraph?«
Sie brauchte einen Augenblick, um sich dem Heilen weit genug zu entziehen, dass sie erkennen konnte, wer es war.
»Seraph, Hinnum ist wieder da.« Tier sprach leise, aber eindringlich. »Kannst du ihm helfen?«
Seraph blickte auf und sah Hennea auf den Knien. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie den schlaffen schwarz-weißen Vogel in den Händen hielt. »Seraph?«, fragte sie.
Seraph kam taumelnd auf die Beine, und Tier legte den Arm um sie, bis sie wieder sicherer stehen konnte. Sie kniete sich neben Hennea und legte die Hände auf die Elster.
Sie spürte, wie die Macht der Lerche über den Vogel hinwegging, aber so, wie Öl Wasser abstößt, konnte die heilende Kraft ihn nicht berühren. Seraph versuchte es noch einmal.
Diesmal erkannte sie den Unterschied zwischen Hinnum und Kissel. Alter und Magie umgaben den Körper des Zauberers und verhinderten, dass sie ihn heilte. Sie sah, dass die Veränderung, welche die Magie ohne den Filter einer Rabenweisung am Körper eines Magiers vornahm, es sehr schwierig machte, einen Solsenti-Zauberer zu heilen. Sie verstand nun, dass ein starker Solsenti-Magier eine normale Lebensspanne weit übertreffen konnte, weil seine Magie Fleisch, Sehnen und Knochen verstärkte.
»Er ist zu alt, und Magie ist zu tief in ihn eingesunken, um eine Heilung zu erlauben«, sagte Seraph erschüttert. »Ich kann nichts tun.«
Hennea strich das Gefieder der Elster glatt und sprach leise und liebevoll auf Hinnum ein. Blitzende Vogelaugen wurden matt, und Seraph konnte den Augenblick, als sein Herz aufhörte zu schlagen, genau spüren.
Dunkelheit kam näher, und Seraph blickte erschrocken auf, aber es war nur ihr Sohn. Der Hüter hockte sich neben Hennea und nahm die weinende Frau in die Arme.
»Jes könnte nicht hier sein«, sagte er. »Aber ich kann es.«
Die Elsterngestalt fiel von dem Zauberer ab, und in Henneas Schoß lag ein Kind, das nicht älter aussah als vier.
»Ach, mein armer Hinnum«, flüsterte Hennea. »Wie grausam das war! Du hast so viel für deine Magie bezahlt, mein Freund.« Sie blickte auf zu Seraph. »Als er dreihundert Jahre alt war, hörte er auf zu altern und fing an, jünger zu werden. Das war kein Problem, bis er schließlich zu jung wurde. Als ich ihn zum letzten Mal sah, hätte er in Rinnies Alter sein können - er fand das demütigend.« Sie betrachtete das Kind in ihren Armen. »Er hätte es gehasst, dass wir ihn so sehen.«
»Er war ein großer Zauberer, und die Welt erleidet durch seinen Tod einen gewaltigen Verlust«, sagte Seraph.
»Er war der größte Magier, den es je gab.« Henneas Stimme war belegt von Trauer. »Ich war der Rabe, und ich hätte mir nie träumen lassen, welche Macht ein Illusionist haben konnte. Er vermochte auch auf andere Art Magie zu wirken, aber Illusion war seine Grundlage. Er übernahm bei dem Bann, der Colossae opferte, die Führung, weil ich nicht mehr die Macht hatte, es zu tun. Fünfzig Raben würden seiner Macht nicht gleichkommen.«
»Wenn wir das hier hinter uns haben«, sagte Tier, »solltest du mir seine Geschichte erzählen, und ich werde ein Lied über ihn dichten und singen, sodass sein Ruhm niemals vergeht. Er starb, als er meine Kinder schützte, er starb bei dem Versuch, den Schatten zu besiegen. Solch ein Mann hat es verdient, dass man sich an ihn erinnert.«
»Ich erinnere mich an ihn«, murmelte Hennea. »Ich werde ihn nie vergessen.«
»Der Schatten wird bald hier sein«, warf Lehr ein.
»Wenn er Hinnum so viel antun konnte«, sagte Hennea, »haben wir keine Aussichten mehr.«
»Er könnte uns töten, ohne dass wir ihn auch nur sehen«, ergänzte Phoran. »Er hat den Atem in meinem Körper aufgehalten. Wenn Rinnie ihn nicht erschreckt hätte, wäre ich tot.«
»Er hat noch nicht bekommen, was er will«, sagte Tier.
»Die Edelsteine?« Seraph schüttelte den Kopf. »Ohne Hinnum, der die Bibliothek bewacht, muss er nur alle Bücher durchlesen. Er wird schon entdecken, was er braucht.«
»Ihr seid Raben.« Tier stand auf. »Ihr braucht nicht zu studieren, wie es ein Zauberer tun muss, der neue Magie lernt. Der Willon, den ich kenne, nimmt alles sehr genau. Er wird nicht einfach in etwas Neues hineinspringen und es versuchen. Er ist ein Kaufmann, und zwar ein erfolgreicher. Er wird eher daran denken, um etwas zu feilschen, bevor er es selbst versucht. Er ist immer noch im Vorteil, auch wenn es ihm vieles erleichtert hätte, wenn Rinnie noch bei ihm wäre. Aber er kann nach wie vor mit uns handeln.«
Er ging hinüber zu den Pferden und sattelte Scheck ab. Dann nahm er die Satteldecke, schüttelte sie vorsichtig aus und brachte sie zu Hennea.
»Das hier ist bedeckt von Haar und Schweiß eines treuen und demütigen Dieners. Es ist nicht die Seide, die Hinnum verdient hat, aber ich denke, es ist trotzdem nicht ganz unpassend.«
Wer außer Tier konnte eine alte Pferdedecke als angemessenes Leichentuch für Hinnum aus Colossae anbieten? Seraph blinzelte gegen ihre Tränen an. Sie hatte Hinnum nicht lange gekannt, aber sie hatte ihr Leben lang von ihm gewusst. Ein Tropfen traf ihr Gesicht, und als sie aufblickte, sah sie, dass der Himmel dunkel von Regenwolken war, als betrauere auch er den Tod des alten Magiers.
Tier legte die Decke auf die Pflastersteine und nahm Hinnums Leiche aus Henneas Armen. Er legte die kleine Gestalt in die Mitte der bunten Decke und wickelte sie darin ein. Dann trug er das Bündel zur Straßenseite. Es gab dort ein Haus mit einem kleinen Garten, in dem ein Busch stand. Tier versteckte die Leiche dahinter.
»So ist er nicht gleich zu sehen«, sagte er. »Soll sich Willon doch fragen, ob er zurückkommen wird, um uns noch einmal zu helfen. Hennea, ich denke, Lehr hat recht. Willon hat sich ein wenig ausgeruht, aber es wird nicht lange dauern, bis er kommt. Du musst mir beibringen, wie man den Namen des Alten Gottes ausspricht.«
»Wir müssen uns beeilen.« Seraph stand auf. »Hennea, Hinnum hat sein Leben gegeben, damit wir diese Gelegenheit haben.«
Sie wartete, bis der andere Rabe tatsächlich Tier die Aussprache beibrachte, eine Silbe nach der anderen, um nicht zu früh die Aufmerksamkeit des Gottes zu wecken. Dann ging sie zu Phoran. Er saß bei Toarsen und Kissel und lehnte sich gegen eins der Gebäude an dieser engen, gewundenen Straße. Rinnie hockte wie immer neben ihm. Sie wirkten alle, als schliefen sie beinahe.
Lehr saß neben Phoran und unterhielt sich leise mit dem Kaiser. Er hielt inne, sobald er hörte, dass Seraph näher kam.
»Auch Ihr könnt gegen uns verwendet werden«, sagte sie zu Phoran. »Und Ihr könnt Euch gegen einen Schatten nicht verteidigen. Ich will, dass Ihr bleibt, wo Ihr seid. Erregt keine Aufmerksamkeit, wenn das irgendwie möglich ist. Ich weiß nicht, ob wir Euch schützen können - und ich würde es lieber nicht herausfinden müssen.«
Phoran schüttelte den Kopf. »Willon kennt Euch nicht.«
Sie hatte Widerspruch erwartet - nach ihrer Erfahrung gefiel es Männern nicht, wenn man ihnen mitteilte, sie seien hilflos. Phorans Worte schienen in keinem Zusammenhang mit dem zu stehen, was sie gesagt hatte.
»Selbstverständlich tut er das«, antwortete sie. »Wir haben zwanzig Jahre im selben Dorf gelebt.«
Phoran lächelte - dieses liebenswerte Lächeln, mit dem er zweifellos mehr Ärger abgewehrt hatte als zehn andere Kinder. »Ja, aber er kennt Euch nicht wirklich. Er kennt eine leise, kalte Frau, herrisch und stark, die sich für nichts anderes interessiert als für Tier und ihre Familie.«
»Und?«
»Die Frau, die er zu kennen glaubt, würde ihre Familie nie in Gefahr bringen. Nicht für einen Kaiser, und ganz bestimmt nicht für seine Gardisten.« Sein Lächeln wurde strahlender, und seine müden Augen begannen zu leuchten. »Und er hätte recht - nur, dass Ihr uns nicht als Kaiser und Gardisten seht. Ich sah Euer Gesicht, als wir Euch erzählten, dass Rufort tot ist - aber Willon sah es nicht. Er könnte nicht verstehen, dass Ihr uns gern habt, weil er niemanden liebt. Er wird nicht versuchen, uns als Geiseln zu nehmen.«
Dann tat er etwas vollkommen Unerwartetes. Er stand auf, wischte sich die Hosenbeine ab, ging zwei Schritte auf Seraph zu, beugte sich vor, bis sein Kopf auf gleicher Höhe war wie ihr Gesicht, und küsste sie auf beide Wangen. »Er glaubt, Tier wäre weich, und hält Euch für hart - und er irrt sich in beidem.«
Sie konnte spüren, wie Hitze in ihre Wangen stieg.
»Wir wissen das«, sagte Phoran. »Aber er nicht.«
»Nun ja«, sagte sie verlegen und war beinahe dankbar für Jes’ leise grollende Warnung.
»Er kommt«, sagte Lehr und stand auf. »Ich spüre es ebenfalls, Jes. Er versucht nicht, sich vor uns zu verstecken.«
»Haltet Euch bedeckt«, sagte Seraph zu Phoran und seinen Männern. Dann streckte sie die Hand zu Rinnie aus. »Wir brauchen dich bei uns«, sagte sie. »Komm, Lehr.«
Auf Henneas Anweisung stellten sie sich im Halbkreis auf, Tier stand in der Mitte. Als Willon in Sicht kam, packte Seraph Rinnies und Lehrs Hände fester. Sie sah, wie Jes Henneas Hand nahm, und schließlich griff Hennea nach Tiers Hand. Sobald sie das taten, spürte Seraph, wie es geschah. Genau, wie Hennea es vorhergesehen hatte, entstand schlagartig eine Verbindung zwischen ihr und den anderen fünf Weisungsträgern, die vor dem Schatten standen. Also erlaubte der Lerchenring ihr tatsächlich, die fehlende Weisung zu vertreten.
»Ich will Euch nichts tun«, sagte Willon und blieb einige Schritte vor ihnen stehen. Er war jung, sah Seraph, und hatte wieder dunkles Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug. An der Stirn hatte er einen blauen Fleck, und er bewegte sich eher steif: Seraph freute sich zu wissen, dass er aus seinem Kampf mit Hinnum nicht ohne Wunden hervorgegangen war.
»Tier«, sagte er. »Ihr seid ein Barde, Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage. Ich wollte Euch nie etwas Schlechtes. Ich brauche nur Eure Frau, damit sie die Steine mit den Weisungen so bearbeitet, dass sie für mich funktionieren werden - oder noch besser, gebt mir die Steine und zeigt mir, wie es geht. Ich lasse Euch in Frieden bis ans Ende der Tage Eurer Kindeskinder - darauf gebe ich mein Wort.«
»Wir sind Reisende«, erwiderte Lehr mit einem Grollen, das klang, als hätte es aus dem Mund seines Bruders kommen sollen. »Wir können den Schatten nicht davonkommen lassen.«
Willon riss die Hände hoch. »Der Schatten, der Schatten! Der Schatten ist vor fünfhundert Jahren gestorben, ein Narr, der lediglich versuchte, am Leben zu bleiben, und so entzog er allen anderen ihr Leben. Er tötete alle, die ihm wichtig waren, um etwas zu bewahren, was sich ohne sie als wertlos erwies. So bin ich nicht. Tier, Ihr kennt mich, ich würde so etwas nicht tun. Ich genieße eine Herausforderung, Tier, und ein Lied am Abend. Ich bin nicht der Schattenkönig.«
»Vielleicht noch nicht«, sagte Hennea. »Aber auch er war nicht immer der namenlose König. Er war einmal ein guter Mann, der für sein Volk arbeitete. Zunächst sah er nur eine Möglichkeit, für den Wohlstand seines Königreichs zu sorgen.«
»Er tötete sie«, sagte Willon. »Er vernichtete sein Königreich. Ich würde niemals jemandem wehtun.«
»Das solltet Ihr Rufort sagen«, fauchte Rinnie.
Seraph drückte fest ihre Hand. Sie wollte nicht, dass der erste Angriff gegen ihre Tochter erfolgte.
»Ielian hat den Gardisten und den Hund getötet. Ich habe ihren Tod nicht befohlen.«
»Colbern«, sagte Jes so leise und tief, dass es für Seraphs Ohren wie entferntes Donnergrollen klang. »Eine ganze Stadt ist gestorben, um Euch zu nähren.«
»Sie waren nichts«, sagte er. »Niemand, den ich kannte. Niemand, den Ihr kanntet.«
Seraph spürte, wie Lehr nach Luft schnappte, und diesmal erhielt er einen warnenden Druck der Hand.
»Und was ist mit Mehalla?«, fragte Seraph. »Meiner Tochter, die Ihr getötet habt?«
Die Liebenswürdigkeit fiel von Willons Gesicht ab, als wäre sie mit einem Tuch abgewischt worden. Einen Augenblick war seine Miene vollkommen ausdruckslos. Er setzte dazu an, etwas zu sagen - eine Lüge, denn er unterbrach sich mit einem Blick zu Tier. »Mehalla war ein Fehler«, sagte er.
»Das glaube ich nicht.« Seraph klang weiterhin bewusst leise und freundlich. »Ich denke, Ihr habt meine Tochter umgebracht, Ihr habt beinahe ein Jahr lang bei ihrem Sterben zugesehen, und dann seid Ihr in unser Heim gekommen und habt verkündet, wie leid Euch ihr Tod tue.«
»Und ihr Tod wird Euch leidtun«, sagte Tier. »Ihr Tod und all die Tode, die Ihr bewirkt habt, seit Ihr zum Schatten geworden seid. Wenn man die Macht des Pirschgängers nimmt, Willon, wird man böse.«
»Nein«, erwiderte Willon. »Man wird mächtig. Ihr versteht nicht, wie viel Gutes ich tun kann, Tier. Wenn ich die Edelsteine habe, kann ich alle Weisungen darin benutzen. Ich kann heilen, ich kann aufbauen, ich kann ganze Städte oder gar Kaiserreiche errichten.«
»Ja, das könntet Ihr«, sagte Seraph. »Aber würdet Ihr es wirklich tun? Der Tod folgt Euch wie die Maden der Fäulnis.«
»Tier«, fuhr Willon fort, »warum überlasst Ihr Eurer Frau das Reden? Man sollte den Frauen beibringen zu schweigen, wenn Männer über Geschäfte reden.«
»So etwas würde ich niemals sagen. Ich würde nicht einmal wagen, es zu denken«, sagte Tier. »Es würde Seraph wütend machen. Wenn ich es sagte. Auf Euch wird sie nicht so reagieren, weil ihr egal ist, was Ihr denkt. Ohne den Pirschgänger seid Ihr nichts.«
Seraph spürte die Macht, die Tier in seine Worte ergoss, und sah, wie Willon einen Schritt zurückwich. Sie fühlte auch, dass sie ihre instinktive hitzige Reaktion auf Willons Worte jetzt besser beherrschen konnte.
»Ihr habt meine Tochter getötet.« Tier klang unversöhnlicher und kälter, als Seraph je gehört hatte. »Ich werde nicht mit Euch feilschen.«
»Ich wollte es nicht«, sagte Willon. »Sie hätte nicht sterben sollen.«
»Nein«, stimmte Hennea zu. »Sie hätte hier bei uns stehen sollen, damit wir vernichten können, was aus Euch geworden ist.«
»Sie steht dennoch hier«, warf Seraph leise ein. »Um Euch sterben zu sehen. Sila-evra-kilin-faurath!« Sie sprach die Worte aus, die den Troll getötet hatten, und hörte, wie sie auf den Straßen von Colossae widerhallten.
Willon taumelte rückwärts, aber er war kein an seine natürliche Immunität gegen Magie gewöhnter Troll, dass er sich angesichts dieses Worts der Macht nicht mehr gerührt hätte, und Seraph verfügte nicht über so viel Magie, wie sie zu Hause aus dem Schutzzauber bezogen hatte. Sie tat ihm weh, aber er starb nicht.
Willon leckte sich das Blut von der Lippe. »Dummes Reisendenmiststück«, sagte er, und Speichel sprühte aus seinem Mund. »Halt den Mund! Halt einfach den Mund. Wenn du still wärest, könnten wir uns um alles kümmern. Deine Familie würde in Sicherheit sein. Warum hältst du nicht einfach den Mund?«
»Weil Ihr es nicht wert seid, angehört zu werden?«, fragte Phoran lakonisch und viel zu nahe. Seraph konnte den Blick nicht von Willon abwenden, um hinzusehen, aber der Kaiser hatte seinen sicheren Platz bei den Häusern aufgegeben, und wenn er aufgestanden war, würden auch Toarsen und Kissel nicht weit sein. Sie hätte ihm ein Versprechen abnehmen sollen, statt sich von ihm ablenken zu lassen.
»Ihr konntet nicht einmal Rinnie und mich halten, als Ihr uns vor Euch hattet. Was ist das für ein Zauberer, der nicht einmal ein Kind und einen ehemaligen Säufer wie mich halten kann?«, fragte Phoran.
Wenn Seraph ihren Schild nicht bereitgehabt hätte, hätte Phoran vielleicht nicht einmal lange genug gelebt, um seine Worte zu bedauern. Die Magie, die Willon nach ihm schleuderte, war stark, und Seraph spürte, wie ihre schnell umgeleiteten Schilde begannen nachzugeben. Dann fügte Hennea ihre Magie hinzu, und sie konnten Willons Angriff abwenden.
»Jetzt, Tier«, hörte Seraph Hennea sagen.
»Lynwythe«, sagte Tier.
 
»Lynwythe«, sagte er und hoffte, dass etwas passieren würde.
Es war kein bisschen so, wie er erwartet hatte. Sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren, verschwanden Rinnies und Henneas Hände ebenso wie Willon. Auch das vertraute Gewicht seiner Laute war weg. Tier war allein.
Er stand in einem lang gezogenen, großen Raum, dessen Wände, Decke und Fußboden alle taubengrau und seltsam eigenschaftslos waren, als handele es sich eher um ein Zimmer, das sich jemand vage vorgestellt hatte, als um ein echtes.
Sein Instinkt drängte ihn, zu seiner Familie zurückzukehren - aber Hennea und Hinnum hatten beide geglaubt, diesen Namen auszusprechen sei die einzige Möglichkeit, den Schatten zu besiegen. Also riss er sich zusammen, sah sich um und ging geradeaus.
Seine festen Stiefel hinterließen Spuren auf dem eigenschaftslosen Boden; keine richtigen Fußabdrücke, nur eine leichte Spur an der Oberfläche, wo er seine festen Absätze in den Boden drückte. Einen Moment schämte er sich, es war ihm peinlich, dass er, ein Bauer, es überhaupt wagte, diese heiligen Hallen zu betreten, gar nicht zu reden davon, dass er Spuren auf dem Fußboden hinterließ.
Er blieb stehen und holte tief Luft. »Ich gehöre nicht hierher«, sagte er freundlicher, als ihm zumute war. »Das weiß ich ebenso gut wie du. Aber ich bezweifle, dass ein paar Spuren am Boden dich sonderlich stören werden. Ich bin ein Barde, Herr. Ich weiß, wie man Menschen beeinflusst - und ich merke es, wenn man mich beeinflussen will. Ich wäre dir dankbar, wenn du damit aufhören würdest.«
Niemand antwortete, aber das Gefühl, dass er sich verlegen winden und wegen seiner gewaltigen Fehler nur noch auf allen vieren bewegen sollte, verschwand. Er wusste, dass seine Familie sich in großer Gefahr befand, also ging er schnell weiter. Obwohl dem Raum nichts weiter anzusehen war, spürte er, dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
»Warum hast du meinen Namen ausgesprochen, Barde?« Die Stimme war tief und voll.
Tier blieb stehen und drehte sich zu dem Gott um, der lautlos neben ihm erschienen war und ihn in dieser satten Bassstimme gefragt hatte. Ein Teil von Tier hätte diese Stimme nur zu gern singen gehört, und sei es nur ein einziges Mal.
Davon einmal abgesehen hatte der Gott nichts Beeindruckendes an sich. Er schien ein wenig kleiner zu sein als der Durchschnitt und von schlanker Statur. Sein Haar und seine Augen waren ebenso dunkel wie die von Tier.
»Warum zögerst du, Barde?«, fragte er mit einem Lächeln, das Tier einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Das hier war nicht der Weber. »Hattest du vor, mir mit Lügen zu schmeicheln?«
»Nein«, antwortete Tier wahrheitsgemäß. »Mir ist nur gerade aufgefallen, dass ich nicht sicher bin, worin die wirkliche Wahrheit besteht. Die schlichte Antwort lautet, dass wir nur diesen einen Namen hatten.«
»Also hast du meinen Namen ausgesprochen, weil du den meines Bruders nicht kanntest? Gibt es noch eine andere Antwort?«
Tier verließ sich auf seine Instinkte. »Ich denke, der Schleier, den der Weber geschaffen hat, schränkt seine Fähigkeit ein, in unserer Welt zu arbeiten. Ich denke, er hat bereits alles beeinflusst, was er beeinflussen konnte. Wenn wir beide Namen gehabt hätten, hätten wir uns an den Weber gewandt.« Er holte tief Luft. »Und das wäre ein Fehler gewesen. Der Weber kann nichts mehr tun, um uns zu helfen.«
Der Pirschgänger hob die Hände. »Und du glaubst, ich werde es tun? Jetzt, nachdem mein Diener, mein Sklave, die Fesseln gelockert hat, die mich binden? Er wird nicht mehr viele Weisungen nehmen müssen, bis ich tun kann, was immer mir gefällt.«
»Er ist nicht dein Diener und nicht dein Sklave«, widersprach Tier. »Er ist ein Dieb, der sich in dein Gefängnis geschlichen und deine Macht gestohlen hat.«
»Nur weil du meinen Namen ausgesprochen hast, Barde, muss ich folgen, wie ein Hund dem Ruf seines Herrn folgt.« Die Worte waren bitter und zornig, aber diese Gefühle spiegelten sich nicht auf den Zügen oder in der Stimme des Gottes.
»Während wir uns hier unterhalten, steht meine Familie allein dem Schatten gegenüber«, sagte Tier und holte tief Luft. Das kannst du doch besser, dachte er. »Ich kann mich nur für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Dich gegen uns aufzubringen ist das Letzte, was ich erreichen möchte. Wir brauchen deine Hilfe gegen den Schatten.«
»Tatsächlich«, sagte der Gott. »Was wirst du mir für diese Hilfe geben? Wen wirst du opfern? Deine Frau? Oder eins deiner Kinder? Vielleicht den Kaiser?«
»Ich werde keinen von ihnen opfern«, sagte Tier, dessen Blut zu Eis wurde. »Aber ich gebe dir mich selbst.«
»Ach ja?«, fragte der Gott leise. Er hob die Hände und berührte Tiers Kinn.
Schmerz zuckte durch Tiers Wirbelsäule, und er hörte sich schreien. Nichts, nicht einmal Telleridges Keule, die auf seine Knie niederkrachte, hatte so wehgetan. Er fiel zu Boden, und der Gott kniete sich neben ihn und hielt die leichte Berührung aufrecht, die ohne eine körperliche Wunde an ihm riss.
»Du brauchst nur den Kopf zurückzuziehen, Barde«, sagte der Pirschgänger. »Weiche zurück, und der Schmerz wird aufhören.«
Tier schloss die Augen gegen die Stimme. Wenn er zurückwich, würde er damit jede Aussicht auf einen Sieg aufgeben. Das konnte, das wollte er nicht tun.
Am Ende ließ der Gott ihn los und stand wieder auf. »Wenn ich etwas gegen Diebe tun könnte, die meine Macht stehlen, hätte ich das schon lange getan. Aber es geht nicht.«
»Ich bin ein Barde«, flüsterte Tier, der sich schwitzend auf dem sauberen, kalten Boden zusammengerollt hatte. »Ich weiß, wann du lügst.«
Zum ersten Mal sah Tier ein ehrliches Gefühl auf den Zügen des Pirschgängers: Zorn. »Du nimmst dir zu viel heraus, Barde. Ich bin der Herr des Todes, und du befindest dich in meiner Gewalt.«
»Die Weisungen an die Edelsteine zu binden, hat nicht geholfen, den Schleier zu lösen, der dich gefangen hält«, sagte Tier eher hoffnungslos. Aber es schien die Wahrheit zu sein, und nachdem er sie ausgesprochen hatte, fand er auch die Gründe dafür: »Ich denke, wenn er sich gelöst hätte, hättest du Willon selbst vernichtet. Hinnum sagt, dass du nicht böse bist. Was der Schatten mit deiner Macht tut, ärgert dich doch sicher.«
Irgendwoher nahm er die Kraft, sich aufzusetzen, obwohl seine Muskeln immer noch zuckten und auf mehr Schmerzen warteten.
»Wenn deine Frau die Edelsteine zerstört, ohne die Weisungen zu befreien, wird das die Barriere lockern«, sagte der Pirschgänger.
»Willon will, dass meine Frau die Edelsteine vom Geist der Weisungsträger reinigt, damit er sie alle benutzen kann«, sagte Tier. »Er weiß von der Weisung des Hüters. Wenn meine Frau es ihm nicht zeigt, wird er es irgendwann selbst lernen. Er hat alle Zeit der Welt, weil der Tod ihn nicht packen kann. Irgendwann wird er die Edelsteine nehmen und sich ihre Macht einverleiben - die Macht, die dir und dem Weber gehört. Dann wird er euch beide zerstören.«
Er hatte Willons Absicht erkannt, sobald ihm klar geworden war, was es bedeutete, dass Willon nicht nur nach sechs vom Geist gereinigten Edelsteinen suchte, sondern alle Edelsteine gereinigt haben wollte.
Der Pirschgänger wandte sich ab und riss den Blick von Tier los, als hätte der Barde tatsächlich Einfluss auf ihn.
»Du hast ihm verraten, wie man die Weisungen an die Edelsteine binden kann«, fuhr Tier fort. Er war nicht sicher, ob er aufstehen konnte, also tat er es nicht. »Wenn du das nicht getan hättest, wären die Reisenden irgendwann mit ihm fertig geworden. Das ist die Aufgabe, die sie wegen ihres unvollständigen Opfers erfüllen müssen. Ihre Gier nach Wissen, nach den Bibliotheken und Hinnums Mermori hat die Möglichkeit offen gelassen, dass es einen Schatten geben kann. Seit dem Sturz von Colossae sind die Reisenden ihrer Aufgabe gefolgt. Aber dank Willon gibt es nur noch wenige von ihnen. Wenn du ihm nicht gesagt hättest, wie man die Weisungen bindet, würde er dich jetzt nicht bedrohen.«
»Du hast es selbst bereits ausgesprochen, Barde«, erwiderte der Pirschgänger verbittert. »Der Tod hat keine Macht über ihn. Ich bin ihm keine Gefahr, solange er meine Macht besitzt.«
»Was kann ich also tun?«, fragte Tier. »Wie können wir ihn für dich aufhalten?«
Der Gott seufzte. »Ich kann helfen«, erklärte er schließlich. »Ich werde mit dir singen, und dadurch können wir Willon meine Macht für einige Zeit entziehen. Du hast mir bewiesen, dass du gegen den Schmerz meines Liedes in dir ankommen kannst. Während wir Willon meine Macht abnehmen, muss er getötet werden.«
»Lehr?«, fragte Tier.
»Nur der Kriegsgott kann einen Unsterblichen töten«, sagte der Pirschgänger bedauernd. »Es wird Opfer geben, bevor der Pirschgänger stirbt, Tier.«
»Der Hüter glaubt, wenn er jemanden tötet, wird das Jes zerstören«, sagte Tier.
»Der Hüter hat recht«, stimmte der Pirschgänger zu. »Hennea ist ebenso sehr mein Kind wie das meines Bruders und wie Jes dein Kind ist. Ich würde ihr keinen weiteren Schmerz zufügen, wenn ich etwas dagegen tun könnte.«
»Lynwythe«, hörte sich Tier das Wort beenden und erkannte, dass während seines Gesprächs mit dem Gott keine Zeit verstrichen war.
Alle hielten inne und warteten darauf, dass etwas geschah. Tier ließ erst Rinnies Hand los und dann die von Hennea. Er zog die Laute, die wieder auf seinem Rücken hing, über die Schulter und begann, eine Melodie zu spielen.
Der Pirschgänger hatte ihm gesagt, es sei egal, für welches Lied er sich entschied, aber Tier wählte ein Soldatenlied, eins von diesen Stücken mit acht Zeilen Kehrreim auf zwei Zeilen Strophe, und die Anzahl der Strophen war nur eingeschränkt durch sein Gedächtnis für schlüpfrige Wortspiele. Er würde es singen können, bis die Sonne unterging.
Er senkte den Kopf, um eine Saite zu stimmen, und sagte sehr leise: »Jes, wenn ich mit der zweiten Strophe beginne, wird der Hüter imstande sein, Willon zu töten.«
»Es hat nicht funktioniert«, stellte Willon fest. »Der Pirschgänger hat Euch nicht geantwortet.«
»Glaubtet Ihr denn wirklich, er würde das tun?«, fragte Tier. Selbstverständlich kannte Willon den wirklichen Namen des Gottes. Er würde beider Götter Namen kennen müssen, wenn er ihre Macht stehlen wollte. »Wieso sollte er mir antworten?«
»Ich kann es tun«, bot Lehr an, der Tiers Worte ebenfalls gehört hatte.
Tier schüttelte den Kopf und fing an zu singen.
»Was macht Ihr denn da?«, fragte Willon, aber Tier sah, dass Seraph das Gleiche fragen wollte.
Er konnte auf keine dieser Fragen antworten, weil die Macht des Gottes in seinem Hals wie Feuer brannte. Er verstand, warum der Pirschgänger ihn mit Schmerzen geprüft hatte, denn dieses Lied tat weh. Die Macht des Pirschgängers war für ihn nicht leichter zu ertragen als für den Schatten - und Tier würde nicht das Leben eines anderen Menschen nehmen, um es sich einfacher zu machen.
»Was macht Ihr da?«, fragte Willon noch einmal, und diesmal war er wütend. Offenbar ging er davon aus, dass Tier sich mit seinem Gesang über ihn lustig machte - ein albernes Lied über einen Soldaten, der in ein fremdes Dorf ging, um eine Frau zu finden, die mit ihm ins Bett gehen würde.
»Er ist ein Barde«, sagte Seraph plötzlich. »Musik ist sein Talent, Willon.«
Aus dem Augenwinkel sah Tier, wie Jes Hennea losließ und dann verschwand.
Willon hatte es ebenfalls bemerkt.
»Zweihundertzwölf Jahre«, sagte Willon, »und ich habe erst jetzt erfahren, dass es eine sechste Weisung gibt. Ich dachte, Volis meinte den Pirschgänger, wenn er vom Adler sprach. Wenn Ielian nicht gewesen wäre, hätte ich nie erfahren, dass mir einer fehlte. Wohin ist er gegangen?«
»Er ist immer noch hier«, sagte Seraph. »Könnt Ihr das Eis seines Atems nicht in Eurem Nacken spüren?«
Gesegnet soll sie sein, dachte Tier und zwang seine schmerzenden Finger, den angemessenen Druck auf den Hals der Laute auszuüben. Seraph wusste nicht, was er tat, aber sie wusste, dass etwas im Gange war. Je länger sie Willon ablenkte, umso besser.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund halten, Frau«, sagte Willon in einem giftigen Ton, der die aalglatte Kaufmannshaltung von ihm abriss und für die Sinne des Barden wahr und klar klang. Der Schatten machte eine Geste zu Seraph.
Nichts passierte. Tier war kein Magier, aber er konnte Magie mindestens so gut wahrnehmen wie alle anderen Rederni, und es kam ihm nicht so vor, als wäre von Willon etwas ausgegangen.
»Miststück!«, fauchte Willon, der offenbar Seraph die Schuld an seinem Versagen gab. Er holte tief Luft und setzte die Kaufmannsmaske wieder auf. »Aber ich bin nicht nur ein Avatar des Pirschgängers. Ich bin ein Zauberer, der die Rabenweisung hat.«
Er riss den Halsausschnitt seiner Tunika auf, und Tier sah, dass er einen Halsschmuck trug, der mit Edelsteinen besetzt war. Hennea gab ein leises Geräusch von sich, also konnte Tier nur annehmen, dass jeder Stein eine Weisung enthielt.
 
»Ich kann es nicht«, sagte der Hüter in Papas Ohr. »Ich kann Jes nicht dieser Gefahr aussetzen.« Jes spürte die kalte Angst des Hüters, bevor sie unter einer Lawine von beschützerischem Zorn begraben wurde. Ein Hüter verteidigte diejenigen, die er für die Seinen hielt - und Jes gehörte ihm.
»Nur du kannst es tun«, sagte Papa rasch zwischen den Strophen. »Der Pirschgänger sagte, nur der Hüter könne den Schatten umbringen.«
Jes verstand. Irgendwie hatte der Gott, dessen Namen sein Vater ausgesprochen hatte, Papas Musik die Macht gegeben, den Schatten aufzuhalten. Aber das kam Tier teuer zu stehen, und die schimmernden Wellen quälender Schmerzen, die über Jes hinwegrauschten, waren nur ein Bruchteil dessen, was sein Vater empfand.
Der Hüter konnte Tiers Leid nicht so wahrnehmen, wie Jes es konnte, aber er sah den Schweiß, der die Tunika ihres Vaters verfärbte, und die Schmerzensfalten um seinen Mund. Und all dieser Schmerz hatte nur den einen Zweck, dem Hüter eine Möglichkeit zu geben, den Schatten zu töten.
Wir dürfen ihn nicht umsonst leiden lassen, sagte Jes. Wir müssen den Schatten töten, solange wir es noch können. Es ist egal, ob ich sterbe, solange wir den Schatten mitnehmen.
»Nein.« Jes konnte die absolute Weigerung des Hüters spüren, und unter ihr die Echos von Erinnerungen an die anderen Weisungsträger, die von den Taten des Hüters in den Wahnsinn getrieben worden waren. Der Hüter konnte es nicht ertragen, auch noch Jes auf diese Weise zu verlieren.
Jes war hilflos, gefangen von der Weigerung des Hüters, ihn in Gefahr zu bringen.
Sieh doch, sagte er mit zunehmender Enttäuschung, sieh dir Papas Schmerzen an.
»Wir sind Raben«, erklärte seine Mutter Willon mit von Verachtung triefender Stimme, und sie wies mit dem Kinn auf die Weisungssteine, die der Schatten trug. »Ihr seid nichts!«
Sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Schattens auf sich zu lenken, damit Jes tun konnte, worum Papa ihn gebeten hatte. Und sie benutzte dazu die Waffe, die der Aufgabe am besten angemessen war - ihre Zunge.
»Ihr seid ein Solsenti«, sagte sie in dem Tonfall, von dem Papa immer behauptete, er könne einen Mann schneller erfrieren lassen als jeder Schneesturm. »Nichts als ein Illusionist, der nur nachäffen kann, was größere Magier leisten, nachdem er Magie gestohlen hat, die ihm nicht gehört.«
Jes spürte die Wucht dieser Worte und die Wut, die der Hohn seiner Mutter bei dem Schatten auslöste. Wieder versuchte er, den Hüter zu veranlassen, etwas zu unternehmen, aber der Schatten war schneller.
Der Solsenti-Zauberer machte eine Geste, und Seraph fiel rückwärts auf die Straße. Sie prallte einmal auf und blieb dann reglos liegen.
Mit einem lautlosen Fauchen eilte der Hüter an ihre Seite, immer noch vor dem Blick des Schattens verborgen. Die Erleichterung darüber, dass sich der Brustkorb seiner Mutter hob und senkte, erschütterte die Entschlossenheit des Hüters. Er musste auch Mutter schützen.
»Ihr seid nichts als ein dreckiger kleiner Dieb«, sagte Hennea, die zwischen den Schatten und die anderen getreten war.
Willon, immer noch schäumend vor Wut, schrie eine Ansammlung unverständlicher Silben heraus, von denen sowohl Jes als auch der Hüter wussten, dass sie zu einem Solsenti-Zauber gehörten. Der Hüter, der wusste, dass Willons Zauberermacht nicht funktionieren würde, beobachtete, wie Hennea die Hand hob.
Nichts stieß ihr zu.
»Ein dreckiger kleiner Dieb«, wiederholte sie und wischte sich die Hände ab.
Regen fiel aus den Wolken, die Rinnie gesammelt hatte. Als die kalten Tropfen das Gesicht seiner Mutter trafen, öffnete sie die Augen. Einen Moment später setzte sie sich vorsichtig auf. Der Hüter wollte sie berühren, aber seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als Willon plötzlich taumelte und zu Boden fiel.
Einen Moment glaubte Jes, das sei auf etwas zurückzuführen, was Hennea getan hatte, aber dann sah er ein Messer am Boden. Lehr hatte es mit solcher Kraft geworfen, dass es den Schatten umstieß. Die Klinge hatte Willon jedoch nicht verletzt, sondern nur das Tuch seiner Tunika aufgeschnitten, und darunter konnte man ein Kettenhemd sehen.
Phoran eilte vor, Toarsen einen halben Schritt hinter sich, aber es war zu spät - Willon hatte sich schon von seiner Überraschung erholt.
Hennea schrie auf, ein wortloses Geräusch, und Jes konnte ihren Wunsch spüren, die anderen zu schützen, aber Willons Magie ließ alle drei Männer rückwärts taumeln. Hennea schwankte, und er wusste, dass der scharfe Schmerz, den sie verspürte, ein Rückschlag des unvollkommen abgelenkten Banns des Pirschgängers war.
Mutter versuchte aufzustehen, und der Hüter half ihr auf die Beine.
»Papa will, dass ich den Schatten töte«, sagte er erschüttert, als er sie stützte. »Aber das wird Jes umbringen oder ihn in den Wahnsinn treiben. Ein Empath kann niemanden töten - nicht ein so starker Empath wie Jes.«
Sie schauderte, als wäre ihr kalt, und der Eisnebel ihres Atems zeigte ihr, wie verzweifelt der Hüter sein musste. Sehen konnte sie ihn nicht, da sie nicht durch den Schutzzauber brechen konnte, der ihn umgab. »Du unterschätzt Jes«, sagte sie. »Er ist stärker, als du denkst.«
Ja, bestätigte Jes.
Papa trat zwischen Willon und den Kaiser, ohne mit Singen aufzuhören, und baute sich vor Willon auf. Er hinkte, und Jes wusste, dass Tiers linkes Knie von der alten Verletzung wehtat. Aber das Knie war nichts gegen die Qual, die die Musik des Pirschgängers ihm verursachte. Er drückte die Laute gegen den Körper, um sie so gut wie möglich gegen den Regen zu schützen.
Willon hob die Hände abermals, und Rinnie rannte zwischen sie und schrie: »Nein!«
Das war zu viel für den Hüter. Für Rinnie, für Papa und für seine Familie waren sowohl er als auch Jes bereit zu sterben.
Ein Blitz traf Willon mit ohrenbetäubendem Krachen. Er stolperte und schluchzte, und seine Haut qualmte in der Kälte von Rinnies Unwetter. Wieder traf ihn ein Blitz, aber er fiel immer noch nicht um. Er stürzte auf Rinnie zu.
Der Hüter war vor ihm da. Sein Angriff hatte nichts Raffiniertes an sich, aber das war auch nicht nötig. Willon konnte ihn erst sehen, als der Hüter ihn zum ersten Mal traf. Als die Fäuste des Hüters zuschlugen, erwachte sein Kampfesfieber, und der Zauberer, halb betäubt von Rinnies Blitzen, stellte keine große Herausforderung mehr dar - nicht, solange Papa weiterspielte, damit Willon sich nicht der Macht des Pirschgängers bedienen konnte.
»Warte«, sagte Phorans Memento, packte das Handgelenk des Hüters und hielt seinen Schlag auf.
Sobald der Hüter sich nicht mehr rührte, ließ das Memento ihn los. »Halte ihn für mich fest«, sagte es.
Beim Klang der Stimme des Mementos wich der Schatten einen Schritt zurück. Der Hüter nahm ihn in einen Ringergriff und drückte den um sich schlagenden Magier auf den Boden.
Das Memento hockte sich neben sie und nahm Willons Kopf in beide Hände. Der Zauberer riss die Augen weit auf, und eine gewaltige Flut von Angst ging von ihm aus. Das Memento beugte sich über ihn.
Willon schrie auf, und Jes zog den Hüter um sich und ließ sich von ihm gegen den größten Teil von Willons Empfindungen abschirmen. Der feste, muskulöse Körper unter dem Hüter begann zu schrumpfen, die weiche Haut verwandelte sich in etwas Trockenes, Hartes. Als das Etwas, das der Hüter festhielt, schließlich aufhörte, sich zu wehren, und das Memento sich von ihm löste, hatte der Schatten keine Ähnlichkeit mehr mit Willon, dem Kaufmann aus Redern.
Von dem dichten schwarzen Haar waren nur noch ein paar dünne weiße Strähnen übrig geblieben. Er sah aus, als hätte jemand alle Feuchtigkeit aus seinem Körper gesogen. Seine Haut hatte die Farbe von geöltem Holz und die Struktur alten Hirschleders. Seine Lippen waren ebenso geschrumpft wie der Rest von ihm, was seine Zähne entblößte. Er sah aus wie eine in der Sonne vertrocknete Leiche, aber Jes wusste, dass er immer noch sehr lebendig war.
Der Hüter ließ los, bevor das Entsetzen des Schattens Jes wirklich schaden konnte.
»Ich kann ihn nicht umbringen«, erklärte das Memento. »Diese Aufgabe fällt dir zu, Hüter.«
»Ich werde es tun«, sagte Lehr.
Der Hüter lächelte seinen Bruder an und schaute dann kurz zu Hennea.
»Nein«, sagte er. »Tod ist meine Begabung.« Und dann brach er das Genick des Mannes.
Jes schrie auf, aus dem sicheren Kokon gerissen, mit dem der Hüter versucht hatte, ihn zu umhüllen. Der Schmerz ging über alles hinaus, was er je erlebt hatte, aber das war nicht das Schlimmste.
Etwas stieg von Willon auf, als dieser starb, und packte Jes, wickelte sich um ihn. Als es ihn berührte, fühlte es sich an, als hätte ihm jemand die Haut abgerissen und ihn in den Mann hineingedrückt, der Willon gewesen war. Niemand sollte je einen anderen so kennen, wie Jes Willon in diesem Augenblick kannte. Er konnte sich nicht verbergen, konnte sich nicht vom Schatten unterscheiden.
Kalte Hände berührten sein Gesicht, und er spürte, wie Willon sich zurückzog, als wünschte sein Geist nicht, in Kontakt mit diesen Händen zu geraten.
»Sein Tod gehört mir«, sagte das Memento. »Gib ihn mir.«
»Ja«, stimmte der Hüter zu und machte Jes Platz.
Kalte Lippen berührten die von Jes, und er öffnete den Mund, wobei er gleichzeitig gegen den Griff des Memento ankämpfte - nicht, weil er das wollte, sondern ganz unwillkürlich. Er hätte die Empfindungen nicht beschreiben können, als Willon aus ihm herausgezogen wurde wie ein Schwert aus seiner Scheide.
Erst als Jes leer war, ließ das Memento ihn wieder los. Jes starrte es an, unfähig, den Blick anzuwenden. Das Memento war zu einer solch festen Dunkelheit geworden, dass Jes kaum ertragen konnte, es anzusehen. Regen glitzerte auf ihm wie nasse Tinte.
»Ich bin gerächt«, verkündete es und verschwand.
Papa hörte mitten im Wort auf zu singen. Er kam zu Jes und legte ihm eine Hand auf die Schulter. So wund, wie sein Sohn war, tat selbst dieser Kontakt weh, aber er brauchte den Trost mehr als Freiheit von Schmerz, also lehnte er sich einen Moment an seinen Vater.
Als er sich von ihm löste, war Hennea da, schob die Hand in seine Ellbogenbeuge und lehnte die Wange an seine Schulter. Ihre kühlende Gegenwart umfing ihn und salbte die wunden Stellen, die Willons Tod hinterlassen hatte. Er seufzte erleichtert.
Mutter sah ihn forschend an. »Das wird schon wieder«, sagte sie dann.
Er lächelte sie müde an, oder vielleicht war es auch der Hüter, der lächelte.
»Und so«, sagte Papa mit heiserer Stimme und undurchschaubarer Miene, »und so starb der Schatten, der einmal Willon gewesen war, Kaufmann aus Redern.«
Mutter nahm Papas Hand und hob sie an die Lippen. »Gut gemacht, Liebster.«
Rabenzauber
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