20
Ächzend hob Lehr den Hund
hoch. Phoran nahm an, dass Gura um die 140 Pfund wog. Er würde den
Hund nicht den ganzen Weg ins Lager zurücktragen können. Und Kissel
war auch nicht in der Verfassung für einen so weiten Marsch.
Phoran warf einen Blick zu dem Habicht, der sie
beobachtete. Wahrscheinlich würde das Tragen des Hunds noch ihr
kleinstes Problem sein.
»Phoran, wo geht Ihr hin?«, fragte der Habicht.
»Lauft, Phoran, lauft! Es wird Euch nichts …« Etwas, das Phoran
nicht erkennen konnte, prallte gegen den Habicht und stieß ihn vom
Dach.
Eine Elster flog hinter Phoran und landete auf dem
Boden, dann verwandelte sie sich in Hinnum.
»Lauft«, sagte er, ohne den Blick von dem großen
Vogel zu wenden, der unsicher vor ihm zu Boden flatterte. »Ich kann
ihn nicht lange festhalten.«
»Los!« Phorans Stimme brach vor
Erleichterung.
»Dort entlang«, rief Lehr und führte sie an, Gura
auf den Armen.
Es war ein Albtraum. Sie gingen, statt zu laufen,
weil Kissel und der überlastete Lehr nicht schneller werden
konnten. Phoran blieb ganz hinten und bewegte sich rückwärts, damit
er sehen konnte, was sich von dort näherte.
Der Himmel, der am Morgen so hell und blau gewesen
war, wirkte nun dunkel und bedrohlich. Da Rinnie leise vor sich
hin murmelte und sich eher unsicher bewegte, ging Phoran davon
aus, dass sie etwas mit dem Wetter zu tun hatte. Er erinnerte sich
an Lehrs Bericht über die Blitze, die den Troll getroffen hatten,
und kam zu dem Schluss, dass Ielian sich geirrt hatte: Kormorane
konnten noch mehr erreichen als gutes Wetter für Bauern. Wenn
Rinnie noch ein wenig Zeit hatte, würde sie eine furchterregende
Gegnerin sein.
Aus dem Bereich, wo sie Hinnum zurückgelassen
hatten, damit er sich dem Schatten stellen konnte, erklangen nun
Geräusche, und Lichtblitze zuckten auf. Das Ganze wurde von
Vibrationen begleitet, die den Boden unter ihren Füßen beben
ließen.
Als sie den Fuß der Rampe erreichten, sagte Phoran:
»Lehr, gib mir den Hund und nimm mein Schwert. Hab ein Auge auf
Kissel. Du wirst ihn vielleicht stützen müssen.«
Er nahm den Hund und begann mit dem langen
Aufstieg. Was ihm an ihrem ersten Tag in der toten Stadt als
Meisterwerk der Baukunst erschienen war, war nun einfach nur eine
Qual.
Kissel tat, was er konnte, aber er hatte viel Blut
verloren, und sie kamen schrecklich langsam voran. Lehr schob die
Schulter unter den freien Arm, noch bevor Toarsen, Kissel und er
ein Dutzend Schritte weit gekommen waren.
»Gib mir das Schwert«, sagte Jes und erschreckte
damit alle furchtbar.
Phoran hatte ihn nicht gesehen, und wie er Lehrs
Miene entnahm, ging es den anderen ebenso.
»Mach das nicht noch mal«, sagte Lehr gereizt und
hielt das Schwert seinem Bruder hin, der plötzlich aus dem Nichts
erschienen war.
»Weiter!«, rief Phoran.
»Mutter, Papa und Hennea sind auf dem Weg«, sagte
Jes. »Hinnum hat die Magie des Schattens gespürt und ist
vorgegangen, um zu helfen, so gut er kann.«
»Wir haben ihn gesehen«, sagte Phoran keuchend,
denn bei dem steilen Aufstieg fühlte sich der Hund schwerer und
schwerer an. »Er hat Willon angegriffen, damit wir fliehen konnten.
Sie haben jede Menge Krach gemacht.«
»Das habe ich gehört«, stimmte Jes zu. Phoran
staunte immer wieder darüber, wie sehr dieser Jes sich von dem
langsam sprechenden jungen Mann unterschied, der er sonst
war.
»Ich habe nichts mehr gehört, seit wir auf der
Rampe sind«, sagte Lehr. »Ich hoffe, das bedeutet nichts
Schlechtes.«
Bei seinen Worten flatterte eine zerzauste Elster
heran und landete auf Rinnies Schulter. »Geht«, krächzte sie
schwankend. »Geht!«
Kissel taumelte und brachte Lehr und Toarsen auf
die Knie.
»Jes, nimm den Hund«, sagte Phoran und legte das
schlaffe Tier in die Arme des anderen Mannes, bevor Jes Gelegenheit
hatte zu widersprechen. Dann bückte er sich, stützte die Schulter
gegen Kissels Bauch und hoch ihn hoch.
»Toarsen, zieh dein Schwert. Lehr, nimm meins von
Jes zurück, bevor der das Schwert oder den Hund fallen lässt.
Rinnie, halte den Vogel fest, bevor er noch von dir
herunterstürzt.«
Kissel war schwerer als Phoran, aber Toarsen und
Lehr wogen noch weniger als der Kaiser. Phorans Waden schmerzten
bereits von der Klippe und dem Wachturm, und seine Rippen taten weh
von seinem Sturz, aber Jes hatte gesagt, Tier sei auf dem
Weg.
»Lasst mich ihn nehmen, Phoran«, bat Toarsen, als
die Rampe endlich zu Ende war. »Ihr seid vollkommen
erschöpft.«
Phoran schüttelte den Kopf. Toarsen war drahtig und
muskulös, aber nicht stark genug, um Kissel lange tragen zu
können.
»Blutet er immer noch?« Phoran atmete stoßweise,
was es schwierig machte zu reden.
»Ja«, antwortete Toarsen. »Er ist bewusstlos. Ich
…«
»Still«, sagte Jes, legte den Hund auf den Boden
und schaute die Rampe hinab. »Er kommt.«
Dann nahm er wieder die Gestalt der größten
schwarzen Bergkatze an, die Phoran je gesehen hatte.
»Nein«, sagte die Elster. »Nein. Sie werden alle
sechs Weisungen brauchen, Hüter. Ich werde ihn aufhalten.«
Mit einem unsicheren Flattern, das mit jedem
Flügelschlag stabiler wurde, flog er von Rinnies Schulter
auf.
»Toarsen, nimm Gura«, sagte Phoran. »Gehen
wir.«
Er war nicht sicher, wie weit sie gekommen waren.
Phorans Welt bestand bald nur noch darin, einen Fuß vor den anderen
zu setzen. Als er galoppierende Hufe hörte, kniete er sich nieder
und legte Kissel sehr vorsichtig auf dem Pflaster ab.
»Bald wird es dir besser gehen«, sagte er zu dem
jungen Gardisten. »Tier ist da.«
Scheck rutschte auf dem Kopfsteinpflaster, und
Tier war vom Pferd gesprungen und beugte sich über Kissel, bevor
der Wallach wirklich stand.
Kissels Puls, zu schnell und zu schwach, zuckte
gegen seine Finger, und Tier blickte auf und sah die anderen
an.
»Rufort und Ielian?«, fragte er.
Toarsen legte Gura vorsichtig neben Kissel. »Rufort
ist tot«, sagte er. »Kissel und ich hielten Ielian beide für einen
loyalen Mann. Wir haben versagt. Er hat Rufort umgebracht.«
Phoran, blass und schweißgebadet, hob die Hand.
»Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ielian erwähnte Rufort
gegenüber, dass der Pfad ihn bezahlt habe - das erfuhr ich gestern
Abend schon, aber ich habe ihn nicht darauf angesprochen. Meine
Verantwortung ist ebenso groß.«
»Papa, Ielian war ein Diener des Schattens«, sagte
Rinnie.
Als er die Arme ausbreitete, rannte sie zu ihm. Ihr
kleines Gesicht war zerschlagen, und sie hatte einen schwarzen,
geschwollenen Knoten am Kinn. Ihre Unterlippe war aufgerissen und
dick. Tier schaute von ihr zu Phoran.
»Auch das war überwiegend Ielian«, sagte er. »Aber
Willon ist für den Riss in der Lippe verantwortlich.«
»Sagt uns mehr«, forderte Seraph. Sie untersuchte
Gura vorsichtig, obwohl Tier sah, dass ihre Augen vor Zorn
blitzten. »Setzt Euch, Phoran. Wenn Ihr weiter so schwankt, werdet
Ihr noch umfallen. Was ist passiert, Lehr?«
»Ielian hat uns an einen bestimmten Ort gelockt -
ich nehme an, er und Willon hatten das vorher abgesprochen. Bevor
einer von uns ahnte, was los war, ließ Willon uns erstarren.«
Er holte tief Luft. »Papa, Willon verriet uns,
wieso er an diesem Abend in Taela vor Jes und mir davonlief. Er
wollte, dass wir Erfolg hatten. Er hat seine Leute geopfert, nur
damit Mutter all die Steine mit den Weisungen bekommen würde. Er
konnte selbst nicht herausfinden, was mit ihnen nicht stimmte, aber
er dachte, Mutter, Hennea und Brewydd würde etwas einfallen. Er
wusste auch, dass Volis die Landkarten hatte. Als Mutter und Hennea
mit den Steinen nicht weiterkamen, wollte er, dass sie
hierherreisten. Er griff dich an, um uns dazu zu zwingen. Hinnum
wusste, wie man die Edelsteine zum Funktionieren bringen konnte,
aber er sprach nicht mit Willon. Willon hat Mutter
hierhergeschickt, damit sie mit Hinnum reden konnte.«
»Aber was soll das helfen?«, fragte Hennea. »Wir
werden auch nicht mit ihm reden.«
»Mutter hat Menschen, die ihr wichtig sind«,
erwiderte Lehr. »Willon hat versprochen, keinem von uns etwas zu
tun, wenn Mutter sich um die Edelsteine kümmert, damit sie für ihn
funktionieren. Er nahm Rinnie als Geisel und überließ es
uns, aus seinem Bann auszubrechen und euch zu sagen, was geschehen
war.«
»Er nahm Rinnie?«, fragte Hennea und hockte sich
neben Kissel. »Warum ist sie dann hier? Hat Hinnum sie
gerettet?«
»Nein«, sagte Rinnie. »Das war Phoran. Er hat sich
aus dem Bann des Schattens losgerissen und kam, um mich zu
retten.«
»Phoran hat dich vor dem
Schatten gerettet?« Hennea klang ungläubig.
»Nicht genau«, warf Phoran ein.
Tier packte Rinnies Schulter fester; er war so
dicht daran gewesen, sie zu verlieren. »Was ist passiert?«
»Er riss sich aus dem Bann des Schattens los und
sagte uns, wie wir es ebenfalls tun können«, berichtete Toarsen mit
einem respektvollen Nicken zu seinem Kaiser.
»Es war eine Illusion«, erklärte Phoran mit
verlegenem Grinsen. »Ein Teil von mir ist nicht besonders nett,
Tier. Der Gedanke, dass ein Bürgerlicher, ein aufgeblasener
Illusionist, der sich einbildet, ein Gott zu sein, versuchte, mir,
dem Kaiser, Befehle zu erteilen, kam mir einfach falsch vor. Ich
konnte nicht glauben, dass es funktionieren würde - und das tat es
auch nicht. Die anderen hatten sich ebenfalls losgerissen, als
Rinnie und ich zurückkamen. Ich weiß nicht, wie.«
Toarsen lachte, obwohl er Tränen in den Augen
hatte. Er saß neben Kissel auf der Straße, und nun berührte er ihn
leicht. »Kissel schaffte es als Erster. Er sagte, etwas, wovon man
sich befreien könne, würde ihn nicht halten. Danach redete er den
Rest von uns frei.«
Phoran nickte nüchtern. »Ich rannte hinter Rinnie
her. Es gibt eine Treppe an der Seite der Klippe, direkt unter
diesem Wachturm da drüben.« Er zeigte auf den zweiten Turm im
Süden. »Ich bin auf Ielian gestoßen, der gerade wieder herunterkam,
als ich hinaufkletterte. Ich habe ihn von der Klippe geworfen
…«
»Schade«, murmelte Seraph.
»Er ist tot«, berichtete Phoran.
»Danke«, sagte sie. »Aber ich hätte es
schmerzhafter machen können.«
Phoran deutete eine Verbeugung an. »Den Nächsten
werde ich für Euch aufheben. Ich konnte mich nicht länger mit ihm
abgeben, weil ich wusste, dass Willon Rinnie hatte.« Er zuckte die
Achseln. »Nicht, dass ich eine große Hilfe war. Wir wechselten ein
Dutzend Worte, dann warf er mich vom Turm.«
Tier drehte sich um, um sich den fraglichen Turm
noch einmal anzusehen. »Die Klippe hinunter? Ihr seht für einen
Mann, der mindestens hundert Schritt tief gefallen ist, noch
ziemlich gut aus.«
»Danke«, erwiderte Phoran. »Es geht mir auch gut -
na ja, verhältnismäßig.« Der Kaiser legte den Kopf schief und sah
Rinnie lächelnd an. »Ich denke, es war Rinnie, die mich rettete;
wir waren bisher zu sehr mit Fliehen beschäftigt, um Geschichten
auszutauschen und Genaueres zu erfahren. Aber ich bin tatsächlich
nicht hässlich auf dem Boden aufgeprallt, sondern lag am Fuß der
Klippe und versuchte, zu Atem zu kommen, als Rinnie zu mir
stieß.«
»Das Memento hat mich nach Euch vom Wachturm
geworfen«, berichtete Rinnie.
»Was?« Phorans Augen
blitzten, und seine Hand zuckte zum Schwertgriff. »Es hat was
getan?«
Tier fühlte sich ebenfalls ziemlich
mordlustig.
Rinnie grinste erst Tier und dann den Kaiser an.
Sie sah jetzt wieder mehr wie sie selbst aus. »Es packte mich, als
ich mich auf der Treppe duckte, warf mich runter und sagte: ›Flieg,
Kormoran!‹ Ich glaube, wenn es das nicht gesagt hätte, wäre ich
einfach gefallen und auf Euch gelandet. So wusste ich nur nicht, ob
ich schnell genug für Euch sein würde. Ihr habt nicht mehr geatmet,
und ich war überzeugt, dass Ihr tot wäret.
Dann habt Ihr Euch hingesetzt, und Eure Augen quollen hervor und
wurden feucht - ich dachte schon, Ihr hättet Euch in einen dieser
umherirrenden Toten verwandelt, wie die von letzter Nacht. Aber
nein, Ihr habt wieder angefangen zu atmen und mich ohne ein Wort
des Danks gepackt und weitergezerrt.«
Alles in einem Atemzug, dachte Tier. Heiterkeit
setzte sich über den Schrecken hinweg, dass seine Tochter von einem
Turm geworfen worden war. Dass Rinnie überlebt hatte, half dabei
sehr.
Phoran verbeugte sich. »Ich danke Euch, meine Dame.
Es war falsch von mir, Euch nicht schon früher zu danken - obwohl
ich annehme, dass meine Angst um Euer Leben bei dieser Gelegenheit
Vorrang hatte.«
Rinnie wirkte erfreut und selbstzufrieden. »Ich
kann kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen und den Leuten zu
erzählen, dass ich das Leben des Kaisers gerettet habe.«
Lehr lächelte sie an. »Niemand wird dir glauben,
kleine Pest.«
»Wo ist Hinnum?«, fragte Hennea.
»Der Schatten war unterwegs«, sagte Jes, der
inzwischen von der Bergkatze zum Wolf geworden war. »Hinnum war
bereits verwundet, aber er wollte mich nicht mitkommen
lassen.«
»Da wir gerade davon reden«, warf Phoran ein.
»Sollten wir weitergehen?«
»Nein«, sagte Hennea. »Was wir versuchen wollen,
können wir hier genauso gut tun wie anderswo. Seraph, es wird Zeit
festzustellen, ob dieser Lerchenring funktioniert. Phoran, wo sind
die Namen aus dem Eulentempel?«
»Willon hat sie verbrannt«, sagte Toarsen. »Und er
wollte den Tempel versiegeln, damit niemand sonst sie finden
kann.«
»Ich erinnere mich an einen von ihnen«, sagte
Phoran.
Hennea sah ihn stirnrunzelnd an. »Ihr wisst, wie
man die Sprache von Colossae liest?«
Er lächelte. »Ich bin nicht einfach nur ein Säufer,
meine Dame. Ich bin ein gebildeter Säufer.
Ich konnte die Landkarten und die Beschriftung des Tors nicht
lesen, aber das Alphabet ist das gleiche wie das Altoslanische, was
ich beherrsche. Wenn Toarsen noch dieses Stück Holzkohle hätte,
könnte ich es aufs Pflaster schreiben.«
Toarsen suchte in seinem Beutel und reichte Phoran
das Kohlestöckchen. Phoran malte ein paar seltsame Linien auf den
Boden, die vielleicht wirklich Buchstaben waren.
»Weißt du, zu wem der Name gehört?«, fragte
Tier.
Hennea schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht
erinnern.«
»Nun ja«, erwiderte Tier. »Wahrscheinlich
funktionieren sie alle. Und was genau tun wir jetzt?«
»Wir sechs, du, Jes, Seraph, Lehr, Rinnie und ich,
halten uns an den Händen. Dann sagst du den Namen des Gottes - ich
bringe dir bei, wie er ausgesprochen wird.« Hennea seufzte
unglücklich. »Den Rest werden wir improvisieren müssen. Ich weiß
nicht, was passieren wird. Die Weisungen sind nicht die Götter von
Colossae.«
»Sollten wir warten, bis Willon näher kommt?«,
fragte Tier.
Hennea nickte.
»Gibt es denn nichts, was ich dabei tun kann?«,
fragte Toarsen. »Kissel wird es nicht schaffen.« Er hob den Kopf
seines Freundes auf den Schoß und berührte leicht Kissels Stirn.
»Er hat zu viel Blut verloren. Ich muss an dem Tod des Mannes, der
ihn umgebracht hat, beteiligt sein.«
Tier hockte sich neben den großen, kräftigen Mann
und legte ihm die Hand auf die zu kalte Wange. Er blickte zu
Seraph, die nickte.
»Gebt ihn noch nicht auf«, sagte Tier zu Toarsen.
»Kissel
hat schon Schlimmeres als das hier überlebt - und wir haben eine
Lerche, die ihm helfen kann, nicht wahr, Seraph?«
»Ich habe nicht vor, den Schatten noch mehr von uns
töten zu lassen«, erwiderte Seraph.
»Na also«, sagte Phoran. »Seraph sagt es auch -
Kissel wird nicht wagen, sich ihr zu widersetzen.«
Ein dünnes Lächeln erschien auf Kissels
Lippen.
»Siehst du, mein Junge?«, fragte Tier. »Alle Männer
müssen sich den Launen meiner Frau beugen. Du schaffst es schon.«
Er blickte zu Toarsen auf. »Ich denke, dieser Kampf geht über
Schwerter hinaus, aber ich hätte nichts dagegen, wenn ihr eure
Schwerter bereithieltet und sie einsetzt, sobald ihr Gelegenheit
findet.«
Toarsen nickte feierlich.
»Seraph«, sagte Tier. »Würdest du jetzt anfangen?
Kissel hat sich wirklich angestrengt durchzuhalten, aber er könnte
Hilfe brauchen.«
Seraph berührte den Tigeraugenring, schloss die
Augen und versuchte zu spüren, was anders war, aber sie fühlte sich
genau wie zuvor. Genau, wie sie sich gefühlt hatte, als sie vor ein
paar Minuten versucht hatte, Heilerarbeit an Gura zu leisten.
Sie blickte nach unten zu dem jungen Mann, der an
jenem Abend in Taela an ihrer Seite gegen den Pfad gekämpft hatte.
Als sie sich neben Kissel niederließ, blickte Toarsen so freundlich
zu ihr auf wie eine Hündin, die ihre Welpen vor einem Fremden
schützen will.
»Ich werde ihm nicht wehtun«, sagte sie, obwohl sie
sich nicht wirklich sicher war.
»Zu diesem Zeitpunkt gibt es nicht viel, was mir
noch wehtun könnte«, murmelte Kissel plötzlich mit diesem
verhaltenen Humor, den er an sich hatte. Er schien immer am
zufriedensten
zu sein, wenn seine Zuhörer nicht ganz sicher waren, ob er nun
versuchte komisch zu sein oder nicht.
»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Seraph, obwohl
sie nicht einmal wusste, ob er noch bei Bewusstsein war.
Sie versuchte, sich zu erinnern, was Brewydd getan
hatte, als sie Tiers Verletzungen heilte - aber sie war abgelenkt
gewesen und hatte nicht sonderlich auf die Heilerin geachtet.
»Lehr?«
Er hockte sich neben ihr auf die Fersen. »Wie kann
ich dir helfen, Mutter?«
»Hast du Brewydd jemals beim Heilen
beobachtet?«
»Sie war eine Lerche, Mutter«, sagte Lehr. »Können
Raben ebenfalls heilen?«
Seraph hob die Hand, damit er sehen konnte, welchen
Ring sie trug. »Ich bin heute auch eine Lerche. Aber ich brauche
deine Hilfe.«
»Die Lerchenringe funktionieren nicht«, wandte Jes
ein. »Du und Hennea müsst sie erst reinigen.«
Seraph drehte sich zu ihm um. »Willon hat Mehalla
umgebracht, um ihre Weisung zu stehlen, Jes. Vor vielen, vielen
Jahren. Etwas in diesem Ring erkennt mich, und ich glaube, das
bedeutet, dass die Weisung daran einmal Mehallas Weisung war.« Sie
hielt inne. »Wir brauchen mich heute als Lerche, aber selbst wenn
der Stein nichts als die Weisung enthielte, könnte ich ihn nicht
benutzen, um wirklich zur Lerche zu werden - nicht mehr, als Volis
Rabe war, wenn er einen Rabenstein trug. Ich muss herausfinden, ob
die Person, Mehalla oder nicht, die diesen Ring heimsucht, mir
helfen will, nur für heute eine Lerche zu sein.«
»Du solltest die Hand auf seine Wunde legen«, sagte
Lehr. »Wir werden den Verband abnehmen müssen.«
»Lasst mich das machen«, schlug Tier vor. »Ich habe
ein wenig Erfahrung mit Notverbänden.«
Er setzte sich neben Seraph und schnitt durch das
Tuch, das die Kompresse auf der Wunde hielt. Dann zupfte er
vorsichtig an der Kompresse.
»Sie klebt an ihm, aber nicht besonders fest, weil
er immer noch blutet. Das wäre schlimm, wenn wir keine Heilerin
hätten.« Er lächelte Seraph an. »Im Moment wird es dadurch
leichter, die Kompresse abzunehmen - aber du musst gleich die Hände
auf die Wunde legen. Lerche oder nicht, der Junge muss ein wenig
Blut in sich behalten, wenn er überleben soll. Fertig?«
»Ja.«
Er nahm die Kompresse ab, und wie er gesagt hatte,
fing die Wunde wieder an zu bluten. Seraph legte die Hand darauf
und verschloss sie mit der Handfläche.
Alle warteten, selbst Seraph, aber nichts
geschah.
»Versuche, dir die Heilung vorzustellen«, schlug
Hennea vor. »Denk an Kissel, wie er wieder gesund ist.«
Sie versuchte es und spürte, wie sich ihre Magie
rührte, aber Magie konnte nicht heilen. Sie hätte sie benutzen
können, um die Wunde zu verbinden, und würde das auch tun, wenn sie
ihn nicht heilen konnte - aber er war so blass und hatte zu viel
Blut verloren. Wenn er statt mit einer Heilung mit Magie auskommen
musste, würde er wohl sterben.
»Hennea hat teilweise recht«, sagte Lehr. »Aber
hier geht es nicht um Magie. Ich habe dich und Hennea beobachtet
und nehme an, dass man viel denken muss, wenn man Rabe ist. Die
Jagd hingegen ist für mich beinahe etwas Instinktives. Ich schaue
hin, und dann kann ich die Spur sehen. Ich muss nicht viel darüber
nachdenken. Jes regt sich auf, und die Temperatur rings um ihn
herum fällt. Papa fängt an zu singen, und die Leute hören mit allem
auf, was sie gerade tun, um ihm zuzuhören. Lass einfach deinen
Körper die Arbeit tun.«
Seraph schloss die Augen und versuchte, sich zu
entspannen, aber je mehr sie sich bemühte, nicht zu denken, desto
mehr dachte sie.
Tier stand auf, aber sie blickte nicht zu ihm hin,
um zu sehen, was er tat. Einen Moment später war er wieder da und
fing an, Laute zu spielen. Er wählte eins ihrer Lieblingslieder,
ein Abendlied, mit dem er ihre Kinder in den Schlaf gesungen hatte,
wenn sie zahnten oder krank waren. Die leisen Töne spülten über sie
hinweg und nahmen ihr die Anspannung in Hals und Schultern. Sie
ließ sich von seiner Stimme weglocken von Blut und Gefahr, zurück
in ihr Heim und zu den Abenden, an denen die Arbeit des Tages getan
war und sie und Tier auf der rückwärtigen Veranda saßen. Guras
drahtiges Fell kitzelte an Seraphs nackten Füßen, während die
untergehende Sonne die Berge rötlich färbte.
Als sie sich entspannte, rührte sich etwas an ihren
Fingerspitzen, das zunächst nicht mehr als ein Flüstern war. Sie
lockte es mit einem Hauch von Interesse heraus, genau, wie sie
einen widerstrebenden Funken anpustete, wenn sie versuchte, auf die
Solsenti-Art ein Feuer anzuzünden.
»Er hat aufgehört zu atmen.«
Das war Toarsens Stimme, belegt von Trauer.
Aber als sie mehr auf ihn achten wollte, brachte
Tiers Lied sie zurück zu diesem kleinen Funken von … Heilen.
Hör zu, drängte sie liebevoll und leitete
ihn zu der Haut unter ihren Fingern, ich habe
etwas für dich zu tun.
Feuer schoss so unerwartet durch ihre Schultern,
dass sie keuchend zusammenzuckte, aber jemandes Hände umschlossen
ihre Handgelenke und hielten ihre Hände auf Kissel fest. Sie
öffnete die Augen und wusste, welchen Schaden Ielians Messer
angerichtet hatte, obwohl das unter ihren Händen und unter Kissels
Haut verborgen lag.
Die Macht der Lerche drang durch Seraphs Hände und
in
Kissels Körper, reparierte erst den Schaden am Gewebe und bewegte
sich dann zu kleineren Dingen. Sein Herz hatte aufgehört zu
schlagen, aber als Seraphs Macht es traf, konnte es sich ihr nicht
widersetzen und fing wieder an zu arbeiten.
Er hat nicht genug Blut,
Mutter. Er wird ohne mehr Blut nicht leben können.
»Wer hat das gesagt?«, fragte Jes.
»Was gesagt?«, flüsterte Lehr. »Still, Jes, du
lenkst sie nur ab.«
Mehalla?, fragte Seraph,
unsicher, ob diese leise Stimme echt oder nur ein Ergebnis ihrer
Fantasie gewesen war. Sie erhielt keine Antwort.
Wer immer es gewesen war, hatte jedoch recht
gehabt. Kissel brauchte Blut, das die Lerche ihm nicht geben
konnte.
Aber Seraph war keine Lerche, oder zumindest nicht
nur eine Lerche. Sie ließ die rechte Hand,
die mit dem Lerchenring, auf dem geschlossenen Loch in Kissels
Brust liegen, dann hob sie die linke, die mit Kissels Blut bedeckt
war, an die Lippen und berührte sie mit der Zunge.
Sie rief ihre Magie zu dieser Hand. Finde es, befahl sie ihr und zeigte ihr Kissels
Blut. Ihre Magie nahm das getrocknete Blut aus dem Verband, von
ihren Händen, von Kissels blutiger Kleidung. Noch einmal berührte
Seraph ihre Zunge. Mach es so. Das
trockene, tote Blut wurde sauber und wieder lebendig. Dorthin. Der Teil von ihr, der Lerche war, fand die
zerstörten Blutgefäße und zeigte der Magie, wohin sie sich bewegen
musste.
Seraph holte schaudernd Luft. »Lass los«, sagte sie
zu Lehr, der ihre Handgelenke immer noch so fest hielt, dass man
die Spuren dieser Berührung noch tagelang sehen würde. »Er braucht
mich nicht mehr.«
Lehr ließ sie los, und sie zog die Hände weg.
Kissels Brust sah aus, als wäre die Wunde schon Wochen alt. Seraph
fand es ein wenig enttäuschend, dass überhaupt noch etwas zu sehen
war, aber dann erinnerte sie sich daran, wie Brewydd darauf
bestanden hatte, dass Tiers Knie den letzten Rest der Heilung
allein vollzogen, also nahm sie an, dass es wahrscheinlich in
Ordnung war.
Kissel schlug die Augen auf. »Ich glaube nicht,
dass ich heute aufstehen und kämpfen werde«, sagte er zu Seraph.
»Aber morgen vielleicht.« Er versuchte sich hinzusetzen, schaffte
es aber nicht ganz. Toarsen fing seinen Kopf auf, bevor er auf den
Boden schlug. »Andererseits«, fuhr Kissel schwächlich fort, »könnte
es auch noch bis nächste oder übernächste Woche dauern.«
»Ihr werdet schon wieder«, sagte Tier, der
aufgehört hatte zu singen.
»Danke«, flüsterte Toarsen, und er hatte Tränen in
den Augen.
»Ich habe Euch doch gesagt, ich würde niemanden
mehr an diesen Mistkerl verlieren.«
»Wo ist das ganze Blut hingegangen?«, fragte
Rinnie.
Seraph tätschelte Kissels nackte Schulter. »Es ist
wieder dort, wo es hingehört«, sagte sie. »Versuchen wir
Gura.«
Gura zu heilen war gleichzeitig leichter und so
viel schwieriger - leichter, weil Seraph nun wusste, wie sie den
Ring einsetzen musste, und schwieriger, weil sie müde wurde und der
Hund noch schwerer verletzt war. Ielian hatte Guras Rippen
gebrochen und einen Muskel an seiner Schulter vollkommen
durchtrennt.
Sie war tief in die letzten Bindungen versunken,
von denen die Lerche wusste, dass sie dem Hund erlauben würden,
ebenso gut zu laufen wie vor der Verwundung, als jemand sie
ansprach.
»Seraph?«
Sie brauchte einen Augenblick, um sich dem Heilen
weit genug zu entziehen, dass sie erkennen konnte, wer es
war.
»Seraph, Hinnum ist wieder da.« Tier sprach leise,
aber eindringlich. »Kannst du ihm helfen?«
Seraph blickte auf und sah Hennea auf den Knien.
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie den schlaffen
schwarz-weißen Vogel in den Händen hielt. »Seraph?«, fragte
sie.
Seraph kam taumelnd auf die Beine, und Tier legte
den Arm um sie, bis sie wieder sicherer stehen konnte. Sie kniete
sich neben Hennea und legte die Hände auf die Elster.
Sie spürte, wie die Macht der Lerche über den Vogel
hinwegging, aber so, wie Öl Wasser abstößt, konnte die heilende
Kraft ihn nicht berühren. Seraph versuchte es noch einmal.
Diesmal erkannte sie den Unterschied zwischen
Hinnum und Kissel. Alter und Magie umgaben den Körper des Zauberers
und verhinderten, dass sie ihn heilte. Sie sah, dass die
Veränderung, welche die Magie ohne den Filter einer Rabenweisung am
Körper eines Magiers vornahm, es sehr schwierig machte, einen
Solsenti-Zauberer zu heilen. Sie verstand
nun, dass ein starker Solsenti-Magier eine
normale Lebensspanne weit übertreffen konnte, weil seine Magie
Fleisch, Sehnen und Knochen verstärkte.
»Er ist zu alt, und Magie ist zu tief in ihn
eingesunken, um eine Heilung zu erlauben«, sagte Seraph
erschüttert. »Ich kann nichts tun.«
Hennea strich das Gefieder der Elster glatt und
sprach leise und liebevoll auf Hinnum ein. Blitzende Vogelaugen
wurden matt, und Seraph konnte den Augenblick, als sein Herz
aufhörte zu schlagen, genau spüren.
Dunkelheit kam näher, und Seraph blickte
erschrocken auf, aber es war nur ihr Sohn. Der Hüter hockte sich
neben Hennea und nahm die weinende Frau in die Arme.
»Jes könnte nicht hier sein«, sagte er. »Aber ich
kann es.«
Die Elsterngestalt fiel von dem Zauberer ab, und in
Henneas Schoß lag ein Kind, das nicht älter aussah als vier.
»Ach, mein armer Hinnum«, flüsterte Hennea. »Wie
grausam das war! Du hast so viel für deine Magie bezahlt, mein
Freund.« Sie blickte auf zu Seraph. »Als er dreihundert Jahre alt
war, hörte er auf zu altern und fing an, jünger zu werden. Das war
kein Problem, bis er schließlich zu jung wurde. Als ich ihn zum
letzten Mal sah, hätte er in Rinnies Alter sein können - er fand
das demütigend.« Sie betrachtete das Kind in ihren Armen. »Er hätte
es gehasst, dass wir ihn so sehen.«
»Er war ein großer Zauberer, und die Welt erleidet
durch seinen Tod einen gewaltigen Verlust«, sagte Seraph.
»Er war der größte Magier, den es je gab.« Henneas
Stimme war belegt von Trauer. »Ich war der Rabe, und ich hätte mir
nie träumen lassen, welche Macht ein Illusionist haben konnte. Er
vermochte auch auf andere Art Magie zu wirken, aber Illusion war
seine Grundlage. Er übernahm bei dem Bann, der Colossae opferte,
die Führung, weil ich nicht mehr die Macht hatte, es zu tun.
Fünfzig Raben würden seiner Macht nicht gleichkommen.«
»Wenn wir das hier hinter uns haben«, sagte Tier,
»solltest du mir seine Geschichte erzählen, und ich werde ein Lied
über ihn dichten und singen, sodass sein Ruhm niemals vergeht. Er
starb, als er meine Kinder schützte, er starb bei dem Versuch, den
Schatten zu besiegen. Solch ein Mann hat es verdient, dass man sich
an ihn erinnert.«
»Ich erinnere mich an ihn«, murmelte Hennea. »Ich
werde ihn nie vergessen.«
»Der Schatten wird bald hier sein«, warf Lehr
ein.
»Wenn er Hinnum so viel antun konnte«, sagte
Hennea, »haben wir keine Aussichten mehr.«
»Er könnte uns töten, ohne dass wir ihn auch nur
sehen«, ergänzte Phoran. »Er hat den Atem in meinem Körper
aufgehalten. Wenn Rinnie ihn nicht erschreckt hätte, wäre ich
tot.«
»Er hat noch nicht bekommen, was er will«, sagte
Tier.
»Die Edelsteine?« Seraph schüttelte den Kopf. »Ohne
Hinnum, der die Bibliothek bewacht, muss er nur alle Bücher
durchlesen. Er wird schon entdecken, was er braucht.«
»Ihr seid Raben.« Tier stand auf. »Ihr braucht
nicht zu studieren, wie es ein Zauberer tun muss, der neue Magie
lernt. Der Willon, den ich kenne, nimmt alles sehr genau. Er wird
nicht einfach in etwas Neues hineinspringen und es versuchen. Er
ist ein Kaufmann, und zwar ein erfolgreicher. Er wird eher daran
denken, um etwas zu feilschen, bevor er es selbst versucht. Er ist
immer noch im Vorteil, auch wenn es ihm vieles erleichtert hätte,
wenn Rinnie noch bei ihm wäre. Aber er kann nach wie vor mit uns
handeln.«
Er ging hinüber zu den Pferden und sattelte Scheck
ab. Dann nahm er die Satteldecke, schüttelte sie vorsichtig aus und
brachte sie zu Hennea.
»Das hier ist bedeckt von Haar und Schweiß eines
treuen und demütigen Dieners. Es ist nicht die Seide, die Hinnum
verdient hat, aber ich denke, es ist trotzdem nicht ganz
unpassend.«
Wer außer Tier konnte eine alte Pferdedecke als
angemessenes Leichentuch für Hinnum aus Colossae anbieten? Seraph
blinzelte gegen ihre Tränen an. Sie hatte Hinnum nicht lange
gekannt, aber sie hatte ihr Leben lang von ihm gewusst. Ein Tropfen
traf ihr Gesicht, und als sie aufblickte, sah sie, dass der Himmel
dunkel von Regenwolken war, als betrauere auch er den Tod des alten
Magiers.
Tier legte die Decke auf die Pflastersteine und
nahm Hinnums Leiche aus Henneas Armen. Er legte die kleine Gestalt
in die Mitte der bunten Decke und wickelte sie darin ein. Dann trug
er das Bündel zur Straßenseite. Es gab dort ein Haus mit einem
kleinen Garten, in dem ein Busch stand. Tier versteckte die Leiche
dahinter.
»So ist er nicht gleich zu sehen«, sagte er. »Soll
sich Willon doch fragen, ob er zurückkommen wird, um uns noch
einmal
zu helfen. Hennea, ich denke, Lehr hat recht. Willon hat sich ein
wenig ausgeruht, aber es wird nicht lange dauern, bis er kommt. Du
musst mir beibringen, wie man den Namen des Alten Gottes
ausspricht.«
»Wir müssen uns beeilen.« Seraph stand auf.
»Hennea, Hinnum hat sein Leben gegeben, damit wir diese Gelegenheit
haben.«
Sie wartete, bis der andere Rabe tatsächlich Tier
die Aussprache beibrachte, eine Silbe nach der anderen, um nicht zu
früh die Aufmerksamkeit des Gottes zu wecken. Dann ging sie zu
Phoran. Er saß bei Toarsen und Kissel und lehnte sich gegen eins
der Gebäude an dieser engen, gewundenen Straße. Rinnie hockte wie
immer neben ihm. Sie wirkten alle, als schliefen sie beinahe.
Lehr saß neben Phoran und unterhielt sich leise mit
dem Kaiser. Er hielt inne, sobald er hörte, dass Seraph näher
kam.
»Auch Ihr könnt gegen uns verwendet werden«, sagte
sie zu Phoran. »Und Ihr könnt Euch gegen einen Schatten nicht
verteidigen. Ich will, dass Ihr bleibt, wo Ihr seid. Erregt keine
Aufmerksamkeit, wenn das irgendwie möglich ist. Ich weiß nicht, ob
wir Euch schützen können - und ich würde es lieber nicht
herausfinden müssen.«
Phoran schüttelte den Kopf. »Willon kennt Euch
nicht.«
Sie hatte Widerspruch erwartet - nach ihrer
Erfahrung gefiel es Männern nicht, wenn man ihnen mitteilte, sie
seien hilflos. Phorans Worte schienen in keinem Zusammenhang mit
dem zu stehen, was sie gesagt hatte.
»Selbstverständlich tut er das«, antwortete sie.
»Wir haben zwanzig Jahre im selben Dorf gelebt.«
Phoran lächelte - dieses liebenswerte Lächeln, mit
dem er zweifellos mehr Ärger abgewehrt hatte als zehn andere
Kinder. »Ja, aber er kennt Euch nicht wirklich. Er kennt eine
leise,
kalte Frau, herrisch und stark, die sich für nichts anderes
interessiert als für Tier und ihre Familie.«
»Und?«
»Die Frau, die er zu kennen glaubt, würde ihre
Familie nie in Gefahr bringen. Nicht für einen Kaiser, und ganz
bestimmt nicht für seine Gardisten.« Sein Lächeln wurde
strahlender, und seine müden Augen begannen zu leuchten. »Und er
hätte recht - nur, dass Ihr uns nicht als Kaiser und Gardisten
seht. Ich sah Euer Gesicht, als wir Euch erzählten, dass Rufort tot
ist - aber Willon sah es nicht. Er könnte nicht verstehen, dass Ihr
uns gern habt, weil er niemanden liebt. Er wird nicht versuchen,
uns als Geiseln zu nehmen.«
Dann tat er etwas vollkommen Unerwartetes. Er stand
auf, wischte sich die Hosenbeine ab, ging zwei Schritte auf Seraph
zu, beugte sich vor, bis sein Kopf auf gleicher Höhe war wie ihr
Gesicht, und küsste sie auf beide Wangen. »Er glaubt, Tier wäre
weich, und hält Euch für hart - und er irrt sich in beidem.«
Sie konnte spüren, wie Hitze in ihre Wangen
stieg.
»Wir wissen das«, sagte Phoran. »Aber er
nicht.«
»Nun ja«, sagte sie verlegen und war beinahe
dankbar für Jes’ leise grollende Warnung.
»Er kommt«, sagte Lehr und stand auf. »Ich spüre es
ebenfalls, Jes. Er versucht nicht, sich vor uns zu
verstecken.«
»Haltet Euch bedeckt«, sagte Seraph zu Phoran und
seinen Männern. Dann streckte sie die Hand zu Rinnie aus. »Wir
brauchen dich bei uns«, sagte sie. »Komm, Lehr.«
Auf Henneas Anweisung stellten sie sich im
Halbkreis auf, Tier stand in der Mitte. Als Willon in Sicht kam,
packte Seraph Rinnies und Lehrs Hände fester. Sie sah, wie Jes
Henneas Hand nahm, und schließlich griff Hennea nach Tiers Hand.
Sobald sie das taten, spürte Seraph, wie es geschah. Genau, wie
Hennea es vorhergesehen hatte, entstand schlagartig eine
Verbindung zwischen ihr und den anderen fünf Weisungsträgern, die
vor dem Schatten standen. Also erlaubte der Lerchenring ihr
tatsächlich, die fehlende Weisung zu vertreten.
»Ich will Euch nichts tun«, sagte Willon und blieb
einige Schritte vor ihnen stehen. Er war jung, sah Seraph, und
hatte wieder dunkles Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug.
An der Stirn hatte er einen blauen Fleck, und er bewegte sich eher
steif: Seraph freute sich zu wissen, dass er aus seinem Kampf mit
Hinnum nicht ohne Wunden hervorgegangen war.
»Tier«, sagte er. »Ihr seid ein Barde, Ihr wisst,
dass ich die Wahrheit sage. Ich wollte Euch nie etwas Schlechtes.
Ich brauche nur Eure Frau, damit sie die Steine mit den Weisungen
so bearbeitet, dass sie für mich funktionieren werden - oder noch
besser, gebt mir die Steine und zeigt mir, wie es geht. Ich lasse
Euch in Frieden bis ans Ende der Tage Eurer Kindeskinder - darauf
gebe ich mein Wort.«
»Wir sind Reisende«, erwiderte Lehr mit einem
Grollen, das klang, als hätte es aus dem Mund seines Bruders kommen
sollen. »Wir können den Schatten nicht davonkommen lassen.«
Willon riss die Hände hoch. »Der Schatten, der
Schatten! Der Schatten ist vor fünfhundert Jahren gestorben, ein
Narr, der lediglich versuchte, am Leben zu bleiben, und so entzog
er allen anderen ihr Leben. Er tötete alle, die ihm wichtig waren,
um etwas zu bewahren, was sich ohne sie als wertlos erwies. So bin
ich nicht. Tier, Ihr kennt mich, ich würde so etwas nicht tun. Ich
genieße eine Herausforderung, Tier, und ein Lied am Abend. Ich bin
nicht der Schattenkönig.«
»Vielleicht noch nicht«, sagte Hennea. »Aber auch
er war nicht immer der namenlose König. Er war einmal ein guter
Mann, der für sein Volk arbeitete. Zunächst sah er nur eine
Möglichkeit, für den Wohlstand seines Königreichs zu sorgen.«
»Er tötete sie«, sagte Willon. »Er vernichtete sein
Königreich. Ich würde niemals jemandem wehtun.«
»Das solltet Ihr Rufort sagen«, fauchte
Rinnie.
Seraph drückte fest ihre Hand. Sie wollte nicht,
dass der erste Angriff gegen ihre Tochter erfolgte.
»Ielian hat den Gardisten und den Hund getötet. Ich
habe ihren Tod nicht befohlen.«
»Colbern«, sagte Jes so leise und tief, dass es für
Seraphs Ohren wie entferntes Donnergrollen klang. »Eine ganze Stadt
ist gestorben, um Euch zu nähren.«
»Sie waren nichts«, sagte er. »Niemand, den ich
kannte. Niemand, den Ihr kanntet.«
Seraph spürte, wie Lehr nach Luft schnappte, und
diesmal erhielt er einen warnenden Druck
der Hand.
»Und was ist mit Mehalla?«, fragte Seraph. »Meiner
Tochter, die Ihr getötet habt?«
Die Liebenswürdigkeit fiel von Willons Gesicht ab,
als wäre sie mit einem Tuch abgewischt worden. Einen Augenblick war
seine Miene vollkommen ausdruckslos. Er setzte dazu an, etwas zu
sagen - eine Lüge, denn er unterbrach sich mit einem Blick zu Tier.
»Mehalla war ein Fehler«, sagte er.
»Das glaube ich nicht.« Seraph klang weiterhin
bewusst leise und freundlich. »Ich denke, Ihr habt meine Tochter
umgebracht, Ihr habt beinahe ein Jahr lang bei ihrem Sterben
zugesehen, und dann seid Ihr in unser Heim gekommen und habt
verkündet, wie leid Euch ihr Tod tue.«
»Und ihr Tod wird Euch leidtun«, sagte Tier. »Ihr
Tod und all die Tode, die Ihr bewirkt habt, seit Ihr zum Schatten
geworden seid. Wenn man die Macht des Pirschgängers nimmt, Willon,
wird man böse.«
»Nein«, erwiderte Willon. »Man wird mächtig. Ihr
versteht nicht, wie viel Gutes ich tun kann, Tier. Wenn ich die
Edelsteine habe, kann ich alle Weisungen darin benutzen. Ich kann
heilen, ich kann aufbauen, ich kann ganze Städte oder gar
Kaiserreiche errichten.«
»Ja, das könntet Ihr«, sagte Seraph. »Aber würdet
Ihr es wirklich tun? Der Tod folgt Euch wie die Maden der
Fäulnis.«
»Tier«, fuhr Willon fort, »warum überlasst Ihr
Eurer Frau das Reden? Man sollte den Frauen
beibringen zu schweigen, wenn Männer über Geschäfte reden.«
»So etwas würde ich niemals sagen. Ich würde nicht
einmal wagen, es zu denken«, sagte Tier. »Es würde Seraph wütend
machen. Wenn ich es sagte. Auf Euch wird
sie nicht so reagieren, weil ihr egal ist, was Ihr denkt. Ohne den
Pirschgänger seid Ihr nichts.«
Seraph spürte die Macht, die Tier in seine Worte
ergoss, und sah, wie Willon einen Schritt zurückwich. Sie fühlte
auch, dass sie ihre instinktive hitzige Reaktion auf Willons Worte
jetzt besser beherrschen konnte.
»Ihr habt meine Tochter getötet.« Tier klang
unversöhnlicher und kälter, als Seraph je gehört hatte. »Ich werde
nicht mit Euch feilschen.«
»Ich wollte es nicht«, sagte Willon. »Sie hätte
nicht sterben sollen.«
»Nein«, stimmte Hennea zu. »Sie hätte hier bei uns
stehen sollen, damit wir vernichten können, was aus Euch geworden
ist.«
»Sie steht dennoch hier«, warf Seraph leise ein.
»Um Euch sterben zu sehen. Sila-evra-kilin-faurath!« Sie sprach die Worte aus,
die den Troll getötet hatten, und hörte, wie sie auf den Straßen
von Colossae widerhallten.
Willon taumelte rückwärts, aber er war kein an
seine natürliche Immunität gegen Magie gewöhnter Troll, dass er
sich angesichts dieses Worts der Macht nicht mehr gerührt hätte,
und Seraph verfügte nicht über so viel Magie, wie sie zu Hause
aus dem Schutzzauber bezogen hatte. Sie tat ihm weh, aber er starb
nicht.
Willon leckte sich das Blut von der Lippe. »Dummes
Reisendenmiststück«, sagte er, und Speichel sprühte aus seinem
Mund. »Halt den Mund! Halt einfach den Mund. Wenn du still wärest,
könnten wir uns um alles kümmern. Deine Familie würde in Sicherheit
sein. Warum hältst du nicht einfach den Mund?«
»Weil Ihr es nicht wert seid, angehört zu werden?«,
fragte Phoran lakonisch und viel zu nahe. Seraph konnte den Blick
nicht von Willon abwenden, um hinzusehen, aber der Kaiser hatte
seinen sicheren Platz bei den Häusern aufgegeben, und wenn er
aufgestanden war, würden auch Toarsen und Kissel nicht weit sein.
Sie hätte ihm ein Versprechen abnehmen sollen, statt sich von ihm
ablenken zu lassen.
»Ihr konntet nicht einmal Rinnie und mich halten,
als Ihr uns vor Euch hattet. Was ist das für ein Zauberer, der
nicht einmal ein Kind und einen ehemaligen Säufer wie mich halten
kann?«, fragte Phoran.
Wenn Seraph ihren Schild nicht bereitgehabt hätte,
hätte Phoran vielleicht nicht einmal lange genug gelebt, um seine
Worte zu bedauern. Die Magie, die Willon nach ihm schleuderte, war
stark, und Seraph spürte, wie ihre schnell umgeleiteten Schilde
begannen nachzugeben. Dann fügte Hennea ihre Magie hinzu, und sie
konnten Willons Angriff abwenden.
»Jetzt, Tier«, hörte Seraph Hennea sagen.
»Lynwythe«, sagte
Tier.
»Lynwythe«, sagte er und
hoffte, dass etwas passieren würde.
Es war kein bisschen so, wie er erwartet hatte.
Sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren, verschwanden
Rinnies und Henneas Hände ebenso wie Willon. Auch das vertraute
Gewicht seiner Laute war weg. Tier war allein.
Er stand in einem lang gezogenen, großen Raum,
dessen Wände, Decke und Fußboden alle taubengrau und seltsam
eigenschaftslos waren, als handele es sich eher um ein Zimmer, das
sich jemand vage vorgestellt hatte, als um ein echtes.
Sein Instinkt drängte ihn, zu seiner Familie
zurückzukehren - aber Hennea und Hinnum hatten beide geglaubt,
diesen Namen auszusprechen sei die einzige Möglichkeit, den
Schatten zu besiegen. Also riss er sich zusammen, sah sich um und
ging geradeaus.
Seine festen Stiefel hinterließen Spuren auf dem
eigenschaftslosen Boden; keine richtigen Fußabdrücke, nur eine
leichte Spur an der Oberfläche, wo er seine festen Absätze in den
Boden drückte. Einen Moment schämte er sich, es war ihm peinlich,
dass er, ein Bauer, es überhaupt wagte, diese heiligen Hallen zu
betreten, gar nicht zu reden davon, dass er Spuren auf dem Fußboden
hinterließ.
Er blieb stehen und holte tief Luft. »Ich gehöre
nicht hierher«, sagte er freundlicher, als ihm zumute war. »Das
weiß ich ebenso gut wie du. Aber ich bezweifle, dass ein paar
Spuren am Boden dich sonderlich stören werden. Ich bin ein Barde,
Herr. Ich weiß, wie man Menschen beeinflusst - und ich merke es,
wenn man mich beeinflussen will. Ich wäre dir dankbar, wenn du
damit aufhören würdest.«
Niemand antwortete, aber das Gefühl, dass er sich
verlegen winden und wegen seiner gewaltigen Fehler nur noch auf
allen vieren bewegen sollte, verschwand. Er wusste, dass seine
Familie sich in großer Gefahr befand, also ging er schnell weiter.
Obwohl dem Raum nichts weiter anzusehen war, spürte er, dass er die
richtige Richtung eingeschlagen hatte.
»Warum hast du meinen Namen ausgesprochen, Barde?«
Die Stimme war tief und voll.
Tier blieb stehen und drehte sich zu dem Gott um,
der lautlos neben ihm erschienen war und ihn in dieser satten
Bassstimme
gefragt hatte. Ein Teil von Tier hätte diese Stimme nur zu gern
singen gehört, und sei es nur ein einziges Mal.
Davon einmal abgesehen hatte der Gott nichts
Beeindruckendes an sich. Er schien ein wenig kleiner zu sein als
der Durchschnitt und von schlanker Statur. Sein Haar und seine
Augen waren ebenso dunkel wie die von Tier.
»Warum zögerst du, Barde?«, fragte er mit einem
Lächeln, das Tier einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Das
hier war nicht der Weber. »Hattest du vor, mir mit Lügen zu
schmeicheln?«
»Nein«, antwortete Tier wahrheitsgemäß. »Mir ist
nur gerade aufgefallen, dass ich nicht sicher bin, worin die
wirkliche Wahrheit besteht. Die schlichte Antwort lautet, dass wir
nur diesen einen Namen hatten.«
»Also hast du meinen Namen ausgesprochen, weil du
den meines Bruders nicht kanntest? Gibt es noch eine andere
Antwort?«
Tier verließ sich auf seine Instinkte. »Ich denke,
der Schleier, den der Weber geschaffen hat, schränkt seine
Fähigkeit ein, in unserer Welt zu arbeiten. Ich denke, er hat
bereits alles beeinflusst, was er beeinflussen konnte. Wenn wir
beide Namen gehabt hätten, hätten wir uns an den Weber gewandt.« Er
holte tief Luft. »Und das wäre ein Fehler gewesen. Der Weber kann
nichts mehr tun, um uns zu helfen.«
Der Pirschgänger hob die Hände. »Und du glaubst,
ich werde es tun? Jetzt, nachdem mein Diener, mein Sklave, die
Fesseln gelockert hat, die mich binden? Er wird nicht mehr viele
Weisungen nehmen müssen, bis ich tun kann, was immer mir
gefällt.«
»Er ist nicht dein Diener und nicht dein Sklave«,
widersprach Tier. »Er ist ein Dieb, der sich in dein Gefängnis
geschlichen und deine Macht gestohlen hat.«
»Nur weil du meinen Namen ausgesprochen hast,
Barde,
muss ich folgen, wie ein Hund dem Ruf seines Herrn folgt.« Die
Worte waren bitter und zornig, aber diese Gefühle spiegelten sich
nicht auf den Zügen oder in der Stimme des Gottes.
»Während wir uns hier unterhalten, steht meine
Familie allein dem Schatten gegenüber«, sagte Tier und holte tief
Luft. Das kannst du doch besser, dachte er.
»Ich kann mich nur für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Dich
gegen uns aufzubringen ist das Letzte, was ich erreichen möchte.
Wir brauchen deine Hilfe gegen den Schatten.«
»Tatsächlich«, sagte der Gott. »Was wirst du mir
für diese Hilfe geben? Wen wirst du opfern? Deine Frau? Oder eins
deiner Kinder? Vielleicht den Kaiser?«
»Ich werde keinen von ihnen opfern«, sagte Tier,
dessen Blut zu Eis wurde. »Aber ich gebe dir mich selbst.«
»Ach ja?«, fragte der Gott leise. Er hob die Hände
und berührte Tiers Kinn.
Schmerz zuckte durch Tiers Wirbelsäule, und er
hörte sich schreien. Nichts, nicht einmal Telleridges Keule, die
auf seine Knie niederkrachte, hatte so wehgetan. Er fiel zu Boden,
und der Gott kniete sich neben ihn und hielt die leichte Berührung
aufrecht, die ohne eine körperliche Wunde an ihm riss.
»Du brauchst nur den Kopf zurückzuziehen, Barde«,
sagte der Pirschgänger. »Weiche zurück, und der Schmerz wird
aufhören.«
Tier schloss die Augen gegen die Stimme. Wenn er
zurückwich, würde er damit jede Aussicht auf einen Sieg aufgeben.
Das konnte, das wollte er nicht tun.
Am Ende ließ der Gott ihn los und stand wieder auf.
»Wenn ich etwas gegen Diebe tun könnte, die meine Macht stehlen,
hätte ich das schon lange getan. Aber es geht nicht.«
»Ich bin ein Barde«, flüsterte Tier, der sich
schwitzend auf dem sauberen, kalten Boden zusammengerollt hatte.
»Ich weiß, wann du lügst.«
Zum ersten Mal sah Tier ein ehrliches Gefühl auf
den Zügen des Pirschgängers: Zorn. »Du nimmst dir zu viel heraus,
Barde. Ich bin der Herr des Todes, und du befindest dich in meiner
Gewalt.«
»Die Weisungen an die Edelsteine zu binden, hat
nicht geholfen, den Schleier zu lösen, der dich gefangen hält«,
sagte Tier eher hoffnungslos. Aber es schien die Wahrheit zu sein,
und nachdem er sie ausgesprochen hatte, fand er auch die Gründe
dafür: »Ich denke, wenn er sich gelöst hätte, hättest du Willon
selbst vernichtet. Hinnum sagt, dass du nicht böse bist. Was der
Schatten mit deiner Macht tut, ärgert dich doch sicher.«
Irgendwoher nahm er die Kraft, sich aufzusetzen,
obwohl seine Muskeln immer noch zuckten und auf mehr Schmerzen
warteten.
»Wenn deine Frau die Edelsteine zerstört, ohne die
Weisungen zu befreien, wird das die Barriere lockern«, sagte der
Pirschgänger.
»Willon will, dass meine Frau die Edelsteine vom
Geist der Weisungsträger reinigt, damit er sie alle benutzen kann«,
sagte Tier. »Er weiß von der Weisung des Hüters. Wenn meine Frau es
ihm nicht zeigt, wird er es irgendwann selbst lernen. Er hat alle
Zeit der Welt, weil der Tod ihn nicht packen kann. Irgendwann wird
er die Edelsteine nehmen und sich ihre Macht einverleiben - die
Macht, die dir und dem Weber gehört. Dann wird er euch beide
zerstören.«
Er hatte Willons Absicht erkannt, sobald ihm klar
geworden war, was es bedeutete, dass Willon nicht nur nach sechs
vom Geist gereinigten Edelsteinen suchte, sondern alle Edelsteine
gereinigt haben wollte.
Der Pirschgänger wandte sich ab und riss den Blick
von Tier los, als hätte der Barde tatsächlich Einfluss auf
ihn.
»Du hast ihm verraten, wie man die Weisungen an die
Edelsteine binden kann«, fuhr Tier fort. Er war nicht sicher, ob er
aufstehen konnte, also tat er es nicht. »Wenn du das nicht getan
hättest, wären die Reisenden irgendwann mit ihm fertig geworden.
Das ist die Aufgabe, die sie wegen ihres unvollständigen Opfers
erfüllen müssen. Ihre Gier nach Wissen, nach den Bibliotheken und
Hinnums Mermori hat die Möglichkeit offen
gelassen, dass es einen Schatten geben kann. Seit dem Sturz von
Colossae sind die Reisenden ihrer Aufgabe gefolgt. Aber dank Willon
gibt es nur noch wenige von ihnen. Wenn du ihm nicht gesagt
hättest, wie man die Weisungen bindet, würde er dich jetzt nicht
bedrohen.«
»Du hast es selbst bereits ausgesprochen, Barde«,
erwiderte der Pirschgänger verbittert. »Der Tod hat keine Macht
über ihn. Ich bin ihm keine Gefahr, solange er meine Macht
besitzt.«
»Was kann ich also tun?«, fragte Tier. »Wie können
wir ihn für dich aufhalten?«
Der Gott seufzte. »Ich kann helfen«, erklärte er
schließlich. »Ich werde mit dir singen, und dadurch können wir
Willon meine Macht für einige Zeit entziehen. Du hast mir bewiesen,
dass du gegen den Schmerz meines Liedes in dir ankommen kannst.
Während wir Willon meine Macht abnehmen, muss er getötet
werden.«
»Lehr?«, fragte Tier.
»Nur der Kriegsgott kann einen Unsterblichen
töten«, sagte der Pirschgänger bedauernd. »Es wird Opfer geben,
bevor der Pirschgänger stirbt, Tier.«
»Der Hüter glaubt, wenn er jemanden tötet, wird das
Jes zerstören«, sagte Tier.
»Der Hüter hat recht«, stimmte der Pirschgänger zu.
»Hennea ist ebenso sehr mein Kind wie das meines Bruders und wie
Jes dein Kind ist. Ich würde ihr keinen weiteren Schmerz zufügen,
wenn ich etwas dagegen tun könnte.«
»Lynwythe«, hörte sich
Tier das Wort beenden und erkannte, dass während seines Gesprächs
mit dem Gott keine Zeit verstrichen war.
Alle hielten inne und warteten darauf, dass etwas
geschah. Tier ließ erst Rinnies Hand los und dann die von Hennea.
Er zog die Laute, die wieder auf seinem Rücken hing, über die
Schulter und begann, eine Melodie zu spielen.
Der Pirschgänger hatte ihm gesagt, es sei egal, für
welches Lied er sich entschied, aber Tier wählte ein Soldatenlied,
eins von diesen Stücken mit acht Zeilen Kehrreim auf zwei Zeilen
Strophe, und die Anzahl der Strophen war nur eingeschränkt durch
sein Gedächtnis für schlüpfrige Wortspiele. Er würde es singen
können, bis die Sonne unterging.
Er senkte den Kopf, um eine Saite zu stimmen, und
sagte sehr leise: »Jes, wenn ich mit der zweiten Strophe beginne,
wird der Hüter imstande sein, Willon zu töten.«
»Es hat nicht funktioniert«, stellte Willon fest.
»Der Pirschgänger hat Euch nicht geantwortet.«
»Glaubtet Ihr denn wirklich, er würde das tun?«,
fragte Tier. Selbstverständlich kannte Willon den wirklichen Namen
des Gottes. Er würde beider Götter Namen kennen müssen, wenn er
ihre Macht stehlen wollte. »Wieso sollte er mir antworten?«
»Ich kann es tun«, bot Lehr an, der Tiers Worte
ebenfalls gehört hatte.
Tier schüttelte den Kopf und fing an zu
singen.
»Was macht Ihr denn da?«, fragte Willon, aber Tier
sah, dass Seraph das Gleiche fragen wollte.
Er konnte auf keine dieser Fragen antworten, weil
die Macht des Gottes in seinem Hals wie Feuer brannte. Er verstand,
warum der Pirschgänger ihn mit Schmerzen geprüft hatte, denn dieses
Lied tat weh. Die Macht des Pirschgängers war für ihn nicht
leichter zu ertragen als für den Schatten -
und Tier würde nicht das Leben eines anderen Menschen nehmen, um
es sich einfacher zu machen.
»Was macht Ihr da?«, fragte Willon noch einmal, und
diesmal war er wütend. Offenbar ging er davon aus, dass Tier sich
mit seinem Gesang über ihn lustig machte - ein albernes Lied über
einen Soldaten, der in ein fremdes Dorf ging, um eine Frau zu
finden, die mit ihm ins Bett gehen würde.
»Er ist ein Barde«, sagte Seraph plötzlich. »Musik
ist sein Talent, Willon.«
Aus dem Augenwinkel sah Tier, wie Jes Hennea
losließ und dann verschwand.
Willon hatte es ebenfalls bemerkt.
»Zweihundertzwölf Jahre«, sagte Willon, »und ich
habe erst jetzt erfahren, dass es eine sechste Weisung gibt. Ich
dachte, Volis meinte den Pirschgänger, wenn er vom Adler sprach.
Wenn Ielian nicht gewesen wäre, hätte ich nie erfahren, dass mir
einer fehlte. Wohin ist er gegangen?«
»Er ist immer noch hier«, sagte Seraph. »Könnt Ihr
das Eis seines Atems nicht in Eurem Nacken spüren?«
Gesegnet soll sie sein,
dachte Tier und zwang seine schmerzenden Finger, den angemessenen
Druck auf den Hals der Laute auszuüben. Seraph wusste nicht, was er
tat, aber sie wusste, dass etwas im Gange war. Je länger sie Willon
ablenkte, umso besser.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund
halten, Frau«, sagte Willon in einem
giftigen Ton, der die aalglatte Kaufmannshaltung von ihm abriss und
für die Sinne des Barden wahr und klar klang. Der Schatten machte
eine Geste zu Seraph.
Nichts passierte. Tier war kein Magier, aber er
konnte Magie mindestens so gut wahrnehmen wie alle anderen Rederni,
und es kam ihm nicht so vor, als wäre von Willon etwas
ausgegangen.
»Miststück!«, fauchte Willon, der offenbar Seraph
die Schuld an seinem Versagen gab. Er holte tief Luft und setzte
die Kaufmannsmaske wieder auf. »Aber ich bin nicht nur ein Avatar
des Pirschgängers. Ich bin ein Zauberer, der die Rabenweisung
hat.«
Er riss den Halsausschnitt seiner Tunika auf, und
Tier sah, dass er einen Halsschmuck trug, der mit Edelsteinen
besetzt war. Hennea gab ein leises Geräusch von sich, also konnte
Tier nur annehmen, dass jeder Stein eine Weisung enthielt.
»Ich kann es nicht«, sagte der Hüter in Papas
Ohr. »Ich kann Jes nicht dieser Gefahr aussetzen.« Jes spürte die
kalte Angst des Hüters, bevor sie unter einer Lawine von
beschützerischem Zorn begraben wurde. Ein Hüter verteidigte
diejenigen, die er für die Seinen hielt - und Jes gehörte
ihm.
»Nur du kannst es tun«, sagte Papa rasch zwischen
den Strophen. »Der Pirschgänger sagte, nur der Hüter könne den
Schatten umbringen.«
Jes verstand. Irgendwie hatte der Gott, dessen
Namen sein Vater ausgesprochen hatte, Papas Musik die Macht
gegeben, den Schatten aufzuhalten. Aber das kam Tier teuer zu
stehen, und die schimmernden Wellen quälender Schmerzen, die über
Jes hinwegrauschten, waren nur ein Bruchteil dessen, was sein Vater
empfand.
Der Hüter konnte Tiers Leid nicht so wahrnehmen,
wie Jes es konnte, aber er sah den Schweiß, der die Tunika ihres
Vaters verfärbte, und die Schmerzensfalten um seinen Mund. Und all
dieser Schmerz hatte nur den einen Zweck, dem Hüter eine
Möglichkeit zu geben, den Schatten zu töten.
Wir dürfen ihn nicht umsonst
leiden lassen, sagte Jes. Wir müssen den
Schatten töten, solange wir es noch können. Es ist egal, ob ich
sterbe, solange wir den Schatten mitnehmen.
»Nein.« Jes konnte die
absolute Weigerung des Hüters spüren, und unter ihr die Echos von
Erinnerungen an die anderen Weisungsträger, die von den Taten des
Hüters in den Wahnsinn getrieben worden waren. Der Hüter konnte es
nicht ertragen, auch noch Jes auf diese Weise zu verlieren.
Jes war hilflos, gefangen von der Weigerung des
Hüters, ihn in Gefahr zu bringen.
Sieh doch, sagte er mit
zunehmender Enttäuschung, sieh dir Papas
Schmerzen an.
»Wir sind Raben«, erklärte seine Mutter Willon mit
von Verachtung triefender Stimme, und sie wies mit dem Kinn auf die
Weisungssteine, die der Schatten trug. »Ihr
seid nichts!«
Sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Schattens auf
sich zu lenken, damit Jes tun konnte, worum Papa ihn gebeten hatte.
Und sie benutzte dazu die Waffe, die der Aufgabe am besten
angemessen war - ihre Zunge.
»Ihr seid ein Solsenti«,
sagte sie in dem Tonfall, von dem Papa immer behauptete, er könne
einen Mann schneller erfrieren lassen als jeder Schneesturm.
»Nichts als ein Illusionist, der nur nachäffen kann, was größere
Magier leisten, nachdem er Magie gestohlen hat, die ihm nicht
gehört.«
Jes spürte die Wucht dieser Worte und die Wut, die
der Hohn seiner Mutter bei dem Schatten auslöste. Wieder versuchte
er, den Hüter zu veranlassen, etwas zu unternehmen, aber der
Schatten war schneller.
Der Solsenti-Zauberer
machte eine Geste, und Seraph fiel rückwärts auf die Straße. Sie
prallte einmal auf und blieb dann reglos liegen.
Mit einem lautlosen Fauchen eilte der Hüter an ihre
Seite, immer noch vor dem Blick des Schattens verborgen. Die
Erleichterung darüber, dass sich der Brustkorb seiner Mutter hob
und senkte, erschütterte die Entschlossenheit des Hüters. Er musste
auch Mutter schützen.
»Ihr seid nichts als ein dreckiger kleiner Dieb«,
sagte Hennea, die zwischen den Schatten und die anderen getreten
war.
Willon, immer noch schäumend vor Wut, schrie eine
Ansammlung unverständlicher Silben heraus, von denen sowohl Jes als
auch der Hüter wussten, dass sie zu einem Solsenti-Zauber gehörten. Der Hüter, der wusste,
dass Willons Zauberermacht nicht funktionieren würde, beobachtete,
wie Hennea die Hand hob.
Nichts stieß ihr zu.
»Ein dreckiger kleiner Dieb«, wiederholte sie und
wischte sich die Hände ab.
Regen fiel aus den Wolken, die Rinnie gesammelt
hatte. Als die kalten Tropfen das Gesicht seiner Mutter trafen,
öffnete sie die Augen. Einen Moment später setzte sie sich
vorsichtig auf. Der Hüter wollte sie berühren, aber seine
Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als Willon plötzlich taumelte und
zu Boden fiel.
Einen Moment glaubte Jes, das sei auf etwas
zurückzuführen, was Hennea getan hatte, aber dann sah er ein Messer
am Boden. Lehr hatte es mit solcher Kraft geworfen, dass es den
Schatten umstieß. Die Klinge hatte Willon jedoch nicht verletzt,
sondern nur das Tuch seiner Tunika aufgeschnitten, und darunter
konnte man ein Kettenhemd sehen.
Phoran eilte vor, Toarsen einen halben Schritt
hinter sich, aber es war zu spät - Willon hatte sich schon von
seiner Überraschung erholt.
Hennea schrie auf, ein wortloses Geräusch, und Jes
konnte ihren Wunsch spüren, die anderen zu schützen, aber Willons
Magie ließ alle drei Männer rückwärts taumeln. Hennea schwankte,
und er wusste, dass der scharfe Schmerz, den sie verspürte, ein
Rückschlag des unvollkommen abgelenkten Banns des Pirschgängers
war.
Mutter versuchte aufzustehen, und der Hüter half
ihr auf die Beine.
»Papa will, dass ich den Schatten töte«, sagte er
erschüttert, als er sie stützte. »Aber das wird Jes umbringen oder
ihn in den Wahnsinn treiben. Ein Empath kann niemanden töten -
nicht ein so starker Empath wie Jes.«
Sie schauderte, als wäre ihr kalt, und der Eisnebel
ihres Atems zeigte ihr, wie verzweifelt der Hüter sein musste.
Sehen konnte sie ihn nicht, da sie nicht durch den Schutzzauber
brechen konnte, der ihn umgab. »Du unterschätzt Jes«, sagte sie.
»Er ist stärker, als du denkst.«
Ja, bestätigte Jes.
Papa trat zwischen Willon und den Kaiser, ohne mit
Singen aufzuhören, und baute sich vor Willon auf. Er hinkte, und
Jes wusste, dass Tiers linkes Knie von der alten Verletzung wehtat.
Aber das Knie war nichts gegen die Qual, die die Musik des
Pirschgängers ihm verursachte. Er drückte die Laute gegen den
Körper, um sie so gut wie möglich gegen den Regen zu
schützen.
Willon hob die Hände abermals, und Rinnie rannte
zwischen sie und schrie: »Nein!«
Das war zu viel für den Hüter. Für Rinnie, für Papa
und für seine Familie waren sowohl er als auch Jes bereit zu
sterben.
Ein Blitz traf Willon mit ohrenbetäubendem Krachen.
Er stolperte und schluchzte, und seine Haut qualmte in der Kälte
von Rinnies Unwetter. Wieder traf ihn ein Blitz, aber er fiel immer
noch nicht um. Er stürzte auf Rinnie zu.
Der Hüter war vor ihm da. Sein Angriff hatte nichts
Raffiniertes an sich, aber das war auch nicht nötig. Willon konnte
ihn erst sehen, als der Hüter ihn zum ersten Mal traf. Als die
Fäuste des Hüters zuschlugen, erwachte sein Kampfesfieber, und der
Zauberer, halb betäubt von Rinnies Blitzen, stellte keine große
Herausforderung mehr dar - nicht, solange Papa
weiterspielte, damit Willon sich nicht der Macht des Pirschgängers
bedienen konnte.
»Warte«, sagte Phorans Memento, packte das
Handgelenk des Hüters und hielt seinen Schlag auf.
Sobald der Hüter sich nicht mehr rührte, ließ das
Memento ihn los. »Halte ihn für mich fest«, sagte es.
Beim Klang der Stimme des Mementos wich der
Schatten einen Schritt zurück. Der Hüter nahm ihn in einen
Ringergriff und drückte den um sich schlagenden Magier auf den
Boden.
Das Memento hockte sich neben sie und nahm Willons
Kopf in beide Hände. Der Zauberer riss die Augen weit auf, und eine
gewaltige Flut von Angst ging von ihm aus. Das Memento beugte sich
über ihn.
Willon schrie auf, und Jes zog den Hüter um sich
und ließ sich von ihm gegen den größten Teil von Willons
Empfindungen abschirmen. Der feste, muskulöse Körper unter dem
Hüter begann zu schrumpfen, die weiche Haut verwandelte sich in
etwas Trockenes, Hartes. Als das Etwas, das der Hüter festhielt,
schließlich aufhörte, sich zu wehren, und das Memento sich von ihm
löste, hatte der Schatten keine Ähnlichkeit mehr mit Willon, dem
Kaufmann aus Redern.
Von dem dichten schwarzen Haar waren nur noch ein
paar dünne weiße Strähnen übrig geblieben. Er sah aus, als hätte
jemand alle Feuchtigkeit aus seinem Körper gesogen. Seine Haut
hatte die Farbe von geöltem Holz und die Struktur alten
Hirschleders. Seine Lippen waren ebenso geschrumpft wie der Rest
von ihm, was seine Zähne entblößte. Er sah aus wie eine in der
Sonne vertrocknete Leiche, aber Jes wusste, dass er immer noch sehr
lebendig war.
Der Hüter ließ los, bevor das Entsetzen des
Schattens Jes wirklich schaden konnte.
»Ich kann ihn nicht umbringen«, erklärte das
Memento. »Diese Aufgabe fällt dir zu, Hüter.«
»Ich werde es tun«, sagte Lehr.
Der Hüter lächelte seinen Bruder an und schaute
dann kurz zu Hennea.
»Nein«, sagte er. »Tod ist meine Begabung.« Und
dann brach er das Genick des Mannes.
Jes schrie auf, aus dem sicheren Kokon gerissen,
mit dem der Hüter versucht hatte, ihn zu umhüllen. Der Schmerz ging
über alles hinaus, was er je erlebt hatte, aber das war nicht das
Schlimmste.
Etwas stieg von Willon auf, als dieser starb, und
packte Jes, wickelte sich um ihn. Als es ihn berührte, fühlte es
sich an, als hätte ihm jemand die Haut abgerissen und ihn in den
Mann hineingedrückt, der Willon gewesen war. Niemand sollte je
einen anderen so kennen, wie Jes Willon in diesem Augenblick
kannte. Er konnte sich nicht verbergen, konnte sich nicht vom
Schatten unterscheiden.
Kalte Hände berührten sein Gesicht, und er spürte,
wie Willon sich zurückzog, als wünschte sein Geist nicht, in
Kontakt mit diesen Händen zu geraten.
»Sein Tod gehört mir«, sagte das Memento. »Gib ihn
mir.«
»Ja«, stimmte der Hüter zu und machte Jes
Platz.
Kalte Lippen berührten die von Jes, und er öffnete
den Mund, wobei er gleichzeitig gegen den Griff des Memento
ankämpfte - nicht, weil er das wollte, sondern ganz unwillkürlich.
Er hätte die Empfindungen nicht beschreiben können, als Willon aus
ihm herausgezogen wurde wie ein Schwert aus seiner Scheide.
Erst als Jes leer war, ließ das Memento ihn wieder
los. Jes starrte es an, unfähig, den Blick anzuwenden. Das Memento
war zu einer solch festen Dunkelheit geworden, dass Jes kaum
ertragen konnte, es anzusehen. Regen glitzerte auf ihm wie nasse
Tinte.
»Ich bin gerächt«, verkündete es und
verschwand.
Papa hörte mitten im Wort auf zu singen. Er kam zu
Jes und legte ihm eine Hand auf die Schulter. So wund, wie sein
Sohn war, tat selbst dieser Kontakt weh, aber er brauchte den Trost
mehr als Freiheit von Schmerz, also lehnte er sich einen Moment an
seinen Vater.
Als er sich von ihm löste, war Hennea da, schob die
Hand in seine Ellbogenbeuge und lehnte die Wange an seine Schulter.
Ihre kühlende Gegenwart umfing ihn und salbte die wunden Stellen,
die Willons Tod hinterlassen hatte. Er seufzte erleichtert.
Mutter sah ihn forschend an. »Das wird schon
wieder«, sagte sie dann.
Er lächelte sie müde an, oder vielleicht war es
auch der Hüter, der lächelte.
»Und so«, sagte Papa mit heiserer Stimme und
undurchschaubarer Miene, »und so starb der Schatten, der einmal
Willon gewesen war, Kaufmann aus Redern.«
Mutter nahm Papas Hand und hob sie an die Lippen.
»Gut gemacht, Liebster.«