5
Der makellose Vorraum, den
Seraph gekannt hatte, existierte nicht mehr. Der Tempelboden war
bedeckt mit Dreck, der durch die offene Tür hereingeweht worden
war. Die Vorhänge, an die Seraph sich erinnerte, waren
verschwunden.
Erst als sie und Jes den großen Kuppelraum mit den
Vogelfresken betraten, die im Kreis an einem falschen Himmel
flogen, stimmten Erinnerung und Wirklichkeit für sie wieder
überein, bis hin zu den magischen Lichtern, die die Wände
beleuchteten. Sie fragte sich, wie lange die Lichter wohl brennen
würden, wenn kein Zauberer mehr da war, um sie zu nähren.
Jes blieb stehen und betrachtete den Adler, der den
Himmel beherrschte. »Er glaubte, der Adler sei der Pirschgänger,
oder?«
»Ja«, sagte Seraph und ging rasch weiter auf eine
Tür auf der anderen Seite des Raums zu. »Er wusste überhaupt nichts
über den Pirschgänger, nur, dass er gefangen saß. Und über den
Adler wusste er noch weniger. Du weißt, dass die Reisenden nicht
über den Adler reden, weil deine Weisung ohnehin schon genug zu
ertragen hat, und die Clans versuchen, die Hüter zu schützen, so
gut sie können. Volis hörte geflüsterte Worte über den Pirschgänger
und den Adler, setzte sie mit einer Handvoll Stroh zusammen, und
das Ergebnis war vollkommen unsinnig.«
Dank Jes fand sie die Bibliothek und die anderen
schnell, denn er folgte ihren Stimmen durch den Irrgarten von
schmalen Fluren, die in den Fels des Berges gegraben worden
waren.
Die Bibliothek war ein großer Raum, aber nur karg
möbliert, als hätte Volis gerade erst begonnen, sie einzurichten.
An einer Wand gab es Regale, die halb mit Büchern gefüllt waren,
und auf der anderen Seite des Raums eine Bank, eine Truhe und
mehrere Schränke. Lehr und Rinnie standen vor einem Regal und
blätterten Bücher durch, und Hennea tat das Gleiche vor einem
anderen.
Hennea blickte auf, als sie hereinkamen. Sie warf
einen Blick zu Jes, der vergnügt vor sich hin summte, und sah
Seraph dann fragend an.
Seraph konnte sich ein selbstzufriedenes Lächeln
nicht verkneifen. »Raben mögen Geheimnisse.«
»Sagt Papa«, stimmte Jes fröhlich zu.
Er ging zu Rinnie, die auf dem Boden saß und ein
Buch zu einer bunten Zeichnung eines Reisendenlagers geöffnet
hatte, hockte sich hinter sie und blickte ihr über die
Schulter.
»Das da ist ein Karis«,
sagte er und zeigte auf ein Bild eines der kleinen Wagen. »Die
Lerche Brewydd hatte einen, in dem sie fuhr, weil sie sehr alt
war.« Er sah zu Hennea auf. »Sehr alt«, wiederholte er und
zwinkerte.
Hennea versteifte sich sichtlich. Dann drehte sie
sich auf dem Absatz um, packte Seraph am Arm und zog sie aus dem
Zimmer in den Flur hinaus.
»Was hast du ihm gesagt?«, wollte sie wissen. Ihre
übliche Ruhe war von ihr abgefallen, als hätte sie nie
existiert.
Im Gegensatz dazu kam Seraph sich recht gelassen
vor - ein ungewöhnlicher Zustand für sie. Es gefiel ihr.
»Er kann ziemlich gut hören«, erinnerte sie Hennea.
»Obwohl er so getan hat, als hätte er unser Gespräch nicht
belauscht, weil er sehr gut erzogen wurde.«
Sie warf einen spitzen Blick auf Henneas Hand.
Hennea ließ Seraphs Arm los, als wäre dieser
glühend heiß geworden.
»Warum tust du das? Warum ermutigst du ihn?«,
fragte Hennea im Flüsterton. »Du weißt, dass es gefährlich
ist.«
»Mein Sohn versteckt sich nicht vor dem Leben.«
Seraph versuchte nicht, ihre Worte vor den Personen im nächsten
Zimmer zu verbergen, die wahrscheinlich inzwischen den Atem
anhielten, damit sie besser hören konnten. »Du solltest ihm
vielleicht zugestehen, dass er selbst weiß, was er aushalten kann
und was nicht. Er ist nicht dumm.«
Hennea starrte sie ungläubig an. »Du ermutigst ihn
tatsächlich.«
»Ich habe ihm nichts anderes gesagt als die
Wahrheit, wie ich sie kenne«, erwiderte Seraph. »Was er mit diesem
Wissen anfängt, ist seine Sache - und vielleicht auch die deine.«
Sie sah den anderen Raben an, seufzte und schluckte ihre
klammheimliche Heiterkeit herunter. »Das Leben ist manchmal so
schwer, Hennea, dass man leicht vergisst, wie wunderbar es sein
kann. Wirf die Geschenke nicht weg, die du erhältst.«
Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie schon mehr
als genug gute Ratschläge gegeben hatte, ließ Hennea stehen, kehrte
in die Bibliothek zurück und holte irgendein Buch aus dem
Regal.
»Hennea hat dieses Regal schon durchkämmt«,
murmelte Lehr. »Es wäre vielleicht am besten, wenn du das andere
Regal übernimmst. Wir legen alle Bücher beiseite, in denen es um
Reisende geht, und wir haben auch einen großen Stapel für solche,
die in Sprachen verfasst sind, die wir nicht lesen können.«
»Danke«, sagte sie und berührte seine Schulter.
Statt sich ein Regal vorzunehmen, setzte sie sich auf den Boden und
begann, den Bücherstapel zu durchforsten, bis sie etwas fand, was
sie übersetzen konnte.
Für jemanden, der daran gewöhnt war, die Mermori-Bibliotheken zur Verfügung zu haben, war
diese Bibliothek enttäuschend. Illusionäre Bücher waren beinahe so
nützlich wie
echte, und man brauchte nicht zu befürchten, die Seiten zu
zerreißen. Die Zauberer von Colossae waren wohlhabend gewesen, und
da es sich - wie die Geschichten berichteten - um Zauberer im
Solsenti-Stil gehandelt hatte, hatten sie
einen großen Teil ihres Wohlstands für Bücher ausgegeben. Selbst
Isoldas Bibliothek umfasste mehr Bände als diese hier - und Isolda
war einer der geringeren Zauberer gewesen.
Seraph blätterte ein Buch über die Reisenden durch,
das angeblich von jemandem verfasst worden war, der ein Jahr bei
ihnen gelebt hatte. Es war so voll von unwahrscheinlichen
Ereignissen und Unsinn, dass Seraph davon ausging, der Autor sei
niemals auch nur einem einzigen Reisenden begegnet, oder wenn, dann
müsse es ein sehr kurzes Treffen gewesen sein, das ihm erlaubte,
die Kleidung zu beschreiben. Die Sätze über die Kleidung waren das
Einzige, was sie finden konnte, das den Tatsachen entsprach.
Hennea kam zurück ins Zimmer, während Seraph immer
noch das erste Buch durchblätterte.
»Bist du zu einem Schluss gekommen, wonach wir
suchen sollen?«, fragte Seraph Hennea, als hätte das Gespräch im
Flur nicht stattgefunden.
Hennea, die sich wieder in ihren üblichen Mantel
der Ausgeglichenheit gehüllt hatte, sagte: »Ich denke, wir sollten
die Bücher über Reisende mitnehmen, damit wir sie uns in Ruhe
ansehen können. Die Bücher über Zauberei, die nichts mit uns zu tun
hat … ich weiß nicht, was wir damit anfangen sollen. Das meiste,
was darin steht, ist nicht besonders nützlich für uns. Es kommt mir
falsch vor, sie einfach zu vernichten, aber sie sind zu gefährlich,
um sie in die falschen Hände geraten zu lassen. Es gibt vielleicht
noch ein paar Briefe - obwohl Volis die meisten verbrannte, nachdem
er sie gelesen hatte. Ihr solltet einfach auf alles achten, das uns
einen Hinweis darauf geben könnte, wer der Schatten ist.«
»Was, wenn wir nichts über den Schatten finden?«,
fragte Lehr.
»Wir werden ihn früher oder später finden - oder er
findet uns«, sagte Seraph. »Ein Schatten lebt vom Tod anderer
Menschen. Wo immer er wandelt, hinterlässt er Leichen. Er wird sich
nicht ewig verbergen können, nicht, nachdem wir wissen, dass es
wieder einen Schatten gibt.«
»Wenn die Bücher den Zauberern vom Geheimen Pfad
gehörten«, schlug Rinnie ein Thema an, bei dem sie mitreden konnte,
»und die Leute vom Geheimen Pfad alle Verräter waren, gehören die
Bücher dann nicht dem Kaiser?«
Seraph versuchte sich vorzustellen, wie sie eine
ganze Ladung von Zauberbüchern zum Kaiser schafften - der sie nicht
besser gebrauchen konnte als sie.
»Vielleicht hat dein Vater eine Idee«, sagte sie.
»Und nur für den Fall, dass Hennea dir das noch nicht gesagt hat,
wenn du etwas findest, dass sich falsch
anfühlt, bring das Buch zu Hennea oder zu mir, bevor du es auch nur
öffnest.«
Lehr schloss sich der Suche wieder an, aber Jes,
der ein paar Bücher aufgehoben und wieder zurückgelegt hatte, lief
unruhig auf und ab. Er konnte lesen, dafür hatte Tier gesorgt, aber
es interessierte ihn nicht.
»Geh und sieh dich um«, sagte Seraph zu ihm.
»Kann ich das auch tun?«, fragte Rinnie und legte
das Buch, das sie durchgeblättert hatte, zur Seite.
Seraph schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will, dass
du hier bei mir bleibst.«
Jes, der innegehalten hatte, um Seraphs Antwort
abzuwarten, winkte den anderen zu und ging.
Rinnie biss die Zähne zusammen, ganz, wie ihr
älterer Bruder das vor einiger Zeit getan hatte. »Ich wünschte, ich
wäre ein Hüter oder ein Rabe oder ein Jäger. Kormoran zu sein ist
langweilig.«
Seraph konnte nicht noch mehr Drama verkraften.
»Rinnie, du bist zu alt, um zu schmollen. Hör auf damit.«
»Ich will mir aber keine langweiligen alten Bücher
ansehen!«
Seraph holte tief Luft, doch Lehr kam ihr zuvor.
»Warum siehst du dir nicht die Sachen auf der anderen Seite des
Raumes an und guckst in die Schränke? Dort könnte es etwas
Interessantes für dich geben.«
Rinnie seufzte gequält, aber dann ging sie
tatsächlich zur anderen Zimmerseite und öffnete die Schranktüren.
Seraph machte sich wieder daran, Bücher durchzublättern, behielt
Rinnie aber ebenfalls im Auge. Sie machte sich nicht wirklich
Gedanken, sie war nur vorsichtig. Sie und Hennea hatten den Tempel
immerhin schon einmal durchsucht, um sich zu überzeugen, dass
nichts mehr hier Schaden anrichten konnte.
Nur, dass der Schatten danach hier gewesen war und
seine Rune gezeichnet hatte.
»Sei vorsichtig, Rinnie«, sagte sie.
»Es gibt hier nichts, womit man vorsichtig sein
muss, Mutter.« Rinnie klang angewidert. »Wirklich nicht. Oh, warte
mal.« Sie kroch tiefer in einen Schrank und kam verstaubt und mit
einer Ledertasche im Arm wieder heraus. »Das hier ist
magisch.«
»Lass es sofort los!« Seraph ließ das Buch, das sie
in der Hand gehalten hatte, auf den Boden fallen und eilte zu ihrer
Tochter. »Vorsichtig sein bedeutet, etwas nicht anzufassen,
Rinnie.«
»Es ist nicht besonders magisch«, murmelte Rinnie,
aber sie stellte die Tasche dennoch auf den Boden.
Seraph kniete sich neben Rinnies Fund und bewegte
die Hand darüber. Die Muster des Banns kamen ihr bekannt vor, aber
es gab ein paar Variationen, denn wer immer diesen Bann gewirkt
hatte, war ein Zauberer gewesen und kein Rabe. »Ein
Konservierungszauber. Du hast recht, Rinnie, das kann nichts
schaden. Also öffne die Tasche, damit wir sehen, was sich darin
befindet.« Sie reichte ihrer Tochter die Tasche zurück.
Rinnie öffnete die Schnallen und sah nach - sie
hielt die Klappe der Tasche absichtlich hoch, damit Lehr, der
herübergekommen war, als sie ihre Entdeckung ankündigt hatte, nicht
hineinsehen konnte. »Schriftrollen«, sagte sie.
Sie nahm eine heraus und entrollte sie.
»Es ist eine Landkarte.« Lehr blickte über Rinnies
Schulter. »Ich kann allerdings keinen der Ortsnamen entziffern.
Kannst du das, Mutter?« Er ging aus dem Weg und überließ Seraph
seinen Platz.
Seraph schüttelte den Kopf. »Obwohl mir etwas an
dieser Sprache bekannt vorkommt. Erkennst du sie, Hennea?«
Hennea legte ein großes Buch mit rotem Umschlag auf
den Stapel mit den Solsenti-Zauberbüchern
und kam herüber, um es sich anzusehen.
Ihr erstes Überfliegen der Karte dauerte nur einen
Herzschlag. Dann kniete sie sich auf den Boden und begann, die
Markierungen mit der Fingerspitze zu verfolgen.
»Ja, ich kann es lesen«, sagte sie mit seltsamer
Stimme.
Wie Seraph ließ auch sie sich einen Moment Zeit, um
die Form des Banns, der auf der Tasche lag, zu ertasten. Dann
kippte sie die ganze Tasche einfach um, sodass acht Schriftrollen
auf den Boden fielen, und ignorierte Rinnies unwillkürlichen
Protest dagegen, dass ihr der Fund so einfach abgenommen
wurde.
Die Karte, die sie als Erstes entrollte, war ein
Stadtplan. »Kaufmannsviertel«, sagte sie mit zitternder Stimme, als
sie mit den Fingern über die krakeligen Buchstaben fuhr.
»Kunsthandwerkerviertel. Altstadt. Oberstadt. Kaufmannstor.
Niedriges Tor. Universitätstor.«
Seraph starrte den für sie auf dem Kopf stehenden
Stadtplan an. Sie versuchte, in der dargestellten Stadt einen der
Orte wiederzuerkennen, die sie schon einmal gesehen hatte.
»Universität? Es gibt im Kaiserreich nur drei Universitäten, aber
dieser Plan passt zu keiner der zugehörigen Städte.«
Hennea drehte die Landkarte herum und deutete auf
die großen Buchstaben unten auf der Rolle. »Kannst du das
lesen?«
Seraph runzelte die Stirn. Die Buchstaben wirkten
sehr vertraut, dachte sie. Es war der Schreibstil, der sie
verwirrte. Sie fuhr mit den Fingern über die dickeren Linien. »Der
erste Buchstabe ist ein C, und der zweite …« Dann wurde ihr das
Muster klar, und sie verstummte.
»Was ist denn?«, fragte Lehr.
Seraph berührte den Stadtplan noch einmal mit den
Fingern. »Colossae«, sagte sie ehrfürchtig. »Als dieser Stadtplan
gezeichnet wurde, war es eine lebendige Stadt - noch vor der
Entstehung des Kaiserreichs, vor der Herrschaft des Schattens, und
bevor die Füße der ersten Reisenden eine Straße berührten, wurde
dieser Stadtplan gezeichnet.«
»Er könnte eine Kopie sein«, wandte Lehr leise
ein.
»Mag sein.« Hennea streifte den Stadtplan wieder
mit der Hand. »Oder er ist eine Fälschung - woher sollen wir das
wissen?«
»Ich kann es vielleicht herausfinden«, sagte Seraph
nachdenklich.
»Wie denn?«, fragte Hennea.
»Ich werde seine Vergangenheit lesen.« Sie griff
nach unten, um den Stadtplan zu berühren, aber Hennea riss ihn
weg.
»Wenn er wirklich so alt ist, ist das zu
gefährlich.«
»Wie meinst du das, gefährlich?«, fragte
Lehr.
Seraph schnaubte gereizt. »Es ist eine Landkarte,
Hennea. Ich kann froh sein, wenn jemand sie lange genug
festgehalten hat, um auch nur den geringsten Eindruck an ihr zu
hinterlassen. Kannst du die Vergangenheit von Gegenständen
sehen?«
»Nein.«
»Also dann.« Seraph griff wieder nach dem Stadtplan
und legte ihn vor sich auf den Boden. »Falls ich kreischend
umfallen sollte, kannst du ihn mir gerne wieder abnehmen.«
»Mutter? Bist du sicher, dass du das tun
solltest?«
Sie warf Lehr einen Seitenblick zu. »Bitte sei so
freundlich, mir zuzugestehen, dass ich weiß, wo meine Grenzen
liegen. Solange diese Rolle kein Gegenstand der Anbetung war oder
jemand sie benutzte, um einen anderen damit umzubringen, wird mir
nichts zustoßen.«
Bevor noch jemand widersprechen konnte, entsandte
Seraph Ranken von Magie zu dem Pergament.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, als die
Vergangenheit des Stadtplans in geflüsterten Fetzen zu ihr kam und
nicht in einer überwältigenden Welle.
Abgesehen von ein paar verschwommenen Bildern
erschien die neueste Geschichte, die dem Gegenstand anhaftete, für
gewöhnlich zuerst, obwohl das nicht immer so war. Seraph spürte
Henneas Hände und die intensive Ruhe, die ihr auf jeden Fall gesagt
hätte, dass ein Rabe den Stadtplan berührt hatte, selbst wenn sie
Hennea nicht gekannt hätte.
»Volis hatte ihn in der Hand.« Sie konnte den
kalten Schweiß seiner Handflächen spüren, und seine Angst, dass
jemand ihn sehen würde. »Er hat ihn gestohlen.« Dann kam ein neues
Bild, das ihr mehr sagte als der Diebstahl, und sie wusste, dass er
tatsächlich nicht imstande gewesen war, die Landkarten und Pläne zu
entziffern. »Er glaubte, etwas, was so gut versteckt war, müsse
wichtig sein, aber er konnte an einem Haufen alter Landkarten
nichts Nützliches erkennen.«
Der Stadtplan war lange Zeit nicht betrachtet
worden. »Er war versteckt, damit er geheim blieb. Ein Zauberer
hatte ihn in der Hand, ein Solsenti-Zauberer - aber er verstand, was er vor
sich hatte, denn er beherrschte viele Sprachen. Eine Begabung, die
ihm bei seiner Suche nach Macht sehr geholfen hat, bei seiner
Suche nach …« Sie hörte auf zu sprechen, denn sie wollte die
anderen nicht verwirren, als ihre Deutung sie von der jüngeren
Vergangenheit in die länger zurückliegende und dann wieder beinahe
in die Gegenwart führte. Die Jahre waren so unklar; manchmal fiel
es ihr schwer, einen Überblick zu behalten.
»Mutter?«
Seraph blinzelte und sah Lehrs vertrautes
Gesicht.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Dieser Stadtplan wurde von einem
Lehrling hergestellt.« Das Wort schien nicht so recht zu passen,
aber es traf den Sachverhalt zumindest ungefähr. »Oder vielleicht
von einem Schüler. Er war enttäuscht, weil sein Lehrer ihn streng
kritisierte und ihn einen Teil davon noch einmal anfertigen ließ.«
Sie berührte einen Bereich rechts oben, wo er das Pergament hatte
abkratzen und neu zeichnen müssen.
»Wie alt ist dieser Stadtplan, Mutter?«, hauchte
Rinnie. »Stammt er wirklich aus Colossae?«
»Er ist alt genug.« Seraphs Hände fühlten sich nach
der Deutung kalt und schwer an. »Nachdem der junge Mann, der ihn
gezeichnet hatte, ihn weitergegeben hatte, kam es zu einer ganzen
Reihe von Besitzern. Ihnen gehörte der Stadtplan immer nur für
kurze Zeit, und das ist so lange her und sie interessierten sich so
wenig dafür, dass ich nicht mehr als einen flüchtigen Eindruck von
vielen Menschen erhalte.«
Sie blickte zu Hennea auf und lächelte ihr zu. »Es
sind Gefühle, die Spuren an Gegenständen hinterlassen, und ein
Stadtplan ruft kaum große Leidenschaften hervor. Ich weiß, wie alt
er ist, aber ich werde lange nicht mehr als das sagen können. Er
war versteckt oder verloren.«
Seraph berührte die Tasche, in der sich die
Schriftrolle befunden hatte, leicht mit der Fingerspitze und einer
Spur Magie. »Und zwar in dieser Tasche, die beinahe ebenso alt ist
wie der Plan selbst.«
Rinnie betrachtete ihren Fund respektvoll. »Sie
sieht nicht so alt aus.«
»Der Konservierungsbann«, murmelte Hennea. »Dinge
können mit einem guten Konservierungsbann lange halten, und die
Zauberer von Colossae waren sehr gut.«
»Sie lagen im Verborgenen, die Karten und die
Tasche, für Hunderte von Jahren. Dann hatte eine Frau, eine
Solsenti-Zauberin, sie in der Hand und
wunderte sich darüber - ich glaube, sie hatte gehofft, einen Schatz
zu finden. Als sie sie zum ersten Mal in der Hand hielt, war sie
noch jung, aber ihre letzte Berührung erfolgte mit einer trockenen,
alten Hand. Sie hielt Tasche und Karten lange versteckt, und sie
konnte nie herausfinden, was sie da besaß, obwohl sie wusste, dass
die Sachen alt waren. Vor etwa zwei Jahrhunderten gerieten sie in
den Besitz eines anderen Zauberers.«
Sie schluckte und blickte zu den anderen
Schriftrollen, die auf dem Boden lagen, berührte sie, suchte nach
weiteren Antworten. Als sie alle in Händen gehabt hatte, sagte sie:
»Er war begabt dafür, Sprachen zu erlernen. Ich sah ihn vor den
Toren von Colossae stehen, wo er etwas suchte, was er sich sehr
intensiv wünschte - Macht? Nicht ganz, aber nahe dran.« Wieder
berührte sie die erste Schriftrolle. »Als er den Stadtplan das
nächste Mal entrollte, war er schon von der Macht des Pirschgängers
berührt worden - er war der Schatten. Er versteckte die Landkarten
an einem geheimen Ort; er brauchte sie nicht mehr. Volis fand sie
und nahm sie an sich, aber er konnte nichts damit anfangen.«
»Kannst du ihn sehen?«, flüsterte Hennea
eindringlich. »Bei der Lerche, ich hoffe, du kannst sehen, wer er
ist!«
Seraph schüttelte frustriert den Kopf. »Nein. Ich
habe wirre Eindrücke und kann kurz das Gesicht eines jungen Mannes
sehen, aber nicht gut genug, um ihn zu identifizieren. Er hat
einfach nicht genug von sich zurückgelassen. Ich kann euch
nur sagen, dass er schon vor beinahe zweihundert Jahren zum Kind
des Pirschgängers wurde.«
Hennea ließ ihren Aufruhr wieder hinter der
üblichen kühlen Fassade verschwinden, aber sie war blasser als
sonst. »Wir hatten seit dem namenlosen König keinen mehr, der so
alt wurde.«
»Es hat mehr als einen gegeben?«, fragte
Lehr.
Seraph nickte. »Ich weiß von dreien … vier, wenn
man den neuesten mit einschließt. Der namenlose König war der
zweite. Die erste verließ Colossae mit den Zauberern, die zu den
Reisenden wurden.«
»Dieser hier ist der sechste«, sagte Hennea.
»Jedenfalls der sechste, von dem ich weiß. Nach dem namenlosen
König wussten wir, nach welchen Anzeichen wir Ausschau halten
sollten. Tod folgt dem Schatten auf dem Fuß. Ich verstehe nicht,
wie sich der neueste so lange vor uns verbergen konnte. Bist du
sicher, was die Zeit angeht, Seraph?«
»Ich irre mich vielleicht um zehn oder fünfzehn
Jahre, aber nicht mehr.« Sie teilte Henneas Befürchtungen. Der
Schatten gewann wie jene, die er besudelte, im Lauf der Zeit mehr
Macht. »Es gab vor ein paar Jahrzehnten eine Seuche - sie tötete
zum Beispiel Isoldas Clan bis auf meinen Bruder und mich. Es gab
andere Clans, die ebenfalls viele Mitglieder verloren.« Sie
zögerte. »Um die gleiche Zeit begann der Pfad, Reisende wegen ihrer
Weisungen umzubringen.«
»Das ist kein Zufall«, stimmte Hennea zu.
»Vielleicht sind wir in diesen letzten Generationen ja so wenige
geworden, dass keinem mehr das Muster des Todes auffiel.«
»Mutter«, sagte Lehr plötzlich. »Könntest du es
feststellen, wenn der Schatten hier andere Dinge berührt
hätte?«
Hennea antwortete an Seraphs Stelle. »Die Meister
des Pfads, die Zauberer, die kamen und Tier mitnahmen, gingen
wieder, bevor der Tempel fertig war. Wenn der Schatten sich
unter ihnen befand, blieb er nicht hier. Nur Volis nutzte die
Zimmer hinter dem großen Kuppelraum …« Sie räusperte sich. »Nur
Volis und ich. Ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas finden
werden, an dem der Schatten einen Eindruck hinterlassen hat, den
Seraph wahrnehmen könnte.«
»Wenn wir Volis nicht getötet hätten, hätte er uns
sagen können, woher er die Tasche mit den Schriftrollen hatte«,
sagte Seraph nachdenklich.
»Ich habe mich bereits dafür entschuldigt«, sagte
Hennea.
Seraph sah sie überrascht an. »Ich mag es nicht,
wenn man mich betrügt, Hennea. Aber ich habe auch nie gesagt, dass
er nicht getötet werden müsste.«
Sie wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Problem
zu, den Schatten zu finden. »Wie auch immer, ich denke, der
Schatten konnte einige Zeit vor Jes und Lehr verbergen, was er war,
und wenn in zwei Jahrhunderten kein Reisender seine Existenz
bemerkte, hat er wirklich gelernt, zu verstecken, was er ist. Sein
Bild, das dieser Stadtplan mir vermittelt, stammt aus einer Zeit,
als er gerade erst vom Pirschgänger berührt worden war.«
»Er ging nach Colossae?«, fragte Lehr. »Ich dachte,
Colossae sei zerstört worden.«
»Geopfert«, verbesserte Hennea. »Aber die Steine
wurden versiegelt, um die Bindungen zu besiegeln.«
Davon hatte Seraph noch nichts gehört. »Was genau
bedeutet das?«
Hennea lächelte plötzlich. »Ich weiß es nicht. Was
konntest du sonst noch an den Landkarten erkennen?«
»Der Schatten sah Colossae«, sagte Seraph. »Also
muss es die Stadt noch geben.«
»Gehen alle Schatten nach Colossae, um zu werden,
was sie sind?«, fragte Rinnie.
»Das weiß ich nicht«, meinte Seraph und sah Hennea
an.
»Davon habe ich nie etwas gehört«, sagte Hennea.
»Ich weiß nicht einmal, wie viele Solsenti
jemals von einer Stadt namens Colossae gehört haben.«
»Waren einige der Schatten Reisende?«, fragte
Lehr.
»Nein«, erklärte Seraph mit fester Stimme.
»Die erste schon«, erinnerte Hennea sie. »Wenn sie
aus Colossae kam.«
»Nein«, sagte Seraph. »Sie war eine Zauberin aus
Colossae.«
Wieder lächelte Hennea. »Damit schneidest du den
Braten ziemlich dünn, findest du nicht auch? Wir sind alle
Nachfahren von Zauberern aus Colossae.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Seraph nachdenklich.
»Ich bin immer davon ausgegangen, es sei kein Zufall, dass immer
nur Solsenti-Zauberer dazu getrieben
wurden, zum Schatten zu werden.«
»Das hört sich an, als träfen sie ihre
Entscheidungen nicht selbst«, wandte Hennea ein. »Willst du sie
etwa entschuldigen?«
Seraph ließ sich nicht dazu herab, auf die
Ablehnung in Henneas Stimme einzugehen. »Es muss schrecklich sein,
ein Solsenti-Zauberer zu sein. Auch noch
der kleinste Zauberspruch stellt eine Verbindung von einem Ritual
und anderen Bestandteilen dar. Einige Zauberer wissen ihr Leben
lang, dass sie ein gewaltiges Potenzial zur Macht haben, aber sie
können nur wenig Magie wirken, weil sie nicht genug studieren
können. Die meisten haben nicht solches Pech, aber für jeden
größeren Bann müssen sie Stunden der Vorbereitung und Jahre des
Lernens aufwenden. Und dann gibt es uns, die Raben, die hoch in den
Lüften fliegen, während die Zauberer am Boden kriechen. Das muss
sie einfach ärgern.«
»Du suchst nach Entschuldigungen, wo es keine
gibt«, stellte Hennea trocken fest. »Obwohl ich annehme, dass du
recht hast, und daher sollten wir dankbar sein, dass die meisten
Solsenti-Zauberer nicht genug über den
Pirschgänger wissen, um gefährlich zu werden.«
Sie rollte eine der Landkarten wieder auf. Seraph
griff nach einer zweiten und rollte sie ebenfalls auf. Als alle
Rollen wieder in der Tasche steckten, schloss Seraph die Schnallen
und reichte sie Rinnie.
»Hier hast du Karten zu einer lange verlorenen
Welt, Kormoran«, sprach sie. »Diese Tasche wurde von einem Zauberer
aus Colossae verzaubert. Sie ist ein Schatz, den ich dir hiermit
anvertraue.«
Jes steckte den Kopf ins Zimmer. »Ich habe etwas
gefunden«, sagte er.
Tier hatte erwartet, dass die Schänke so gut wie
leer sein würde, aber es wimmelte im Schankraum nur so von Fremden
- überwiegend Söldner, dachte er. Sie gehörten wahrscheinlich zur
Karawane eines Kaufmanns, die hier vorbeizog.
Er drängte sich an den Männern vorbei, fand einen
leeren Tisch in einer Ecke und setzte sich hin. Regil, der Besitzer
der Schänke, sah ihn und eilte zu ihm.
»Tier, sei willkommen!«, sagte er. »Ich hatte
gehofft, du oder Ciro würdet vorbeikommen, um diese Leute ein
bisschen zu unterhalten. Unser Mittagessen besteht aus Brot aus dem
Ofen deiner Schwester und frischer Wurst - und du kannst gern etwas
davon haben, wenn du singst.«
Tier lächelte. »Das würde ich ja tun, aber ich habe
heute früh meiner Schwester geholfen und meine Laute nicht
dabei.«
»Könntest du meine spielen?«, fragte Regil.
»Ich denke schon«, antwortete Tier.
Regil grinste. »Ich fürchtete schon, selbst singen
und spielen zu müssen, und ich habe so viele andere Dinge zu tun.«
Dann fiel sein Blick auf jemanden hinter Tier. »Meister Willon,
Tier wird dafür sorgen, dass Eure Männer nicht so viel Ärger
machen.«
Tier drehte seinen Stuhl um und sah den alten
Kaufmann direkt hinter sich stehen. »Willon - schön, Euch zu sehen!
Ich dachte, Ihr würdet eine Weile in Taela bleiben.«
Regil machte ein paar höfliche Rückwärtsschritte,
dann drehte er sich um und eilte in Richtung der Treppe zu seiner
Wohnung davon. Willon setzte sich Tier an dem schmalen Tisch
gegenüber.
»Sobald ich hörte, dass Reisende eine
Geheimgesellschaft vernichtet hätten, nahm ich an, dass es Seraph
gelungen war, Euch auch ohne meine Hilfe zu retten.« Willon
grinste. »Ich hatte gerade die ersten Gerüchte gehört, dass Ihr
Euch vielleicht im Palast des Kaisers befändet, als sich auch schon
die Nachricht vom Ende des Pfads ausbreitete. Seraph hat meine
Hilfe offensichtlich nicht gebraucht - nicht, dass mich das
überrascht hätte. Eure Frau ist eine sehr fähige Person. Und mein
Vetter plante ohnehin eine Karawane in diese Region, also habe ich
mich von seinen Männern eskortieren lassen. Ich werde zu alt, um
die große Stadt noch genießen zu können; meine alten Knochen ziehen
Redern vor.«
»Ich habe selbst ebenfalls vor, hier alt zu
werden.« Tier lächelte, als er das sagte, obwohl er tief im Herzen
bekümmert war, denn er befürchtete, Seraph werde nicht bei ihm
bleiben.
»Enttäuschend«, stellte Hennea fest, als sie in
Jes’ Geheimzimmer spähte.
»Man würde doch erwarten, dass ein Raum, den Volis
mit so viel Aufwand verborgen hat, irgendetwas enthält.« Lehr rieb sich die Hände am
Hemd ab, um das Kribbeln der Macht loszuwerden, die er benutzt
hatte, um das Schloss der von Jes entdeckten Geheimtür zu
öffnen.
Seraph war davon ausgegangen, dass er Magie
benutzte, aber es war keine - jedenfalls nicht die gleiche Art
Magie, wie sie sie heraufbeschwören konnte. Falkengeheimnisse,
dachte sie und lächelte. Es war gut, dass Brewydd mehr über die
Weisung des Falken gewusst hatte als sie. Sie hatte vergessen, dass
Jäger wirklich gut mit Schlössern und Toren umgehen konnten -
Brewydd hatte gesagt, es habe etwas damit zu tun, dass auch
Fallenstellen zur Kunst des Jägers gehörte. Was immer der Grund
sein mochte, Lehr hatte offensichtlich Freude daran, alle Schlösser
zu öffnen, die man ihm vorlegte. Ohne ihn, ohne seine Fähigkeiten,
Spuren zu lesen und Schlösser zu öffnen, hätten sie es nie durch
den Palast und bis zu Tiers Zelle geschafft.
Rinnie drängte sich an Lehr und Hennea vorbei und
schoss in den kleinen Raum hinein. »Es ist leer.«
»Wirklich schade«, sagte Jes.
»Ganz und gar nicht.« Seraph konnte das Innere des
Raums nicht sehen, aber wenn er groß genug für Rinnie war, so wäre
er auch für ihre Zwecke groß genug. »Das hier ist der beste Platz,
um die Bücher über Magie unterzubringen, bis wir beschlossen haben,
was wir mit ihnen tun sollen. Lehr kann die Tür mit seiner Magie
verschließen, und Hennea oder ich belegen die Geheimtür mit einem
›Sieh nicht hin‹-Bann. Sie werden dort sicher sein wie ein Lamm in
seiner Herde.«
»Dann brauchen wir sie nicht alle zu tragen.« Jes
grinste sie an. »Lehr und ich«, ergänzte er. »Wir hätten sie alle
tragen müssen. Bei diesen ganzen Büchern hätte das mindestens
zweimal Hin und Her bedeutet. Durch das Dorf nach Hause, und dann
wieder durch das Dorf hierher. Wieder durch das Dorf und nach
Hause. Die Reisendenbücher sind nicht ganz so zahlreich wie die
Zauberbücher. Also noch einmal durch das Dorf.«
»Du hast immer noch die Treppe vor dir«, erinnerte
ihn Hennea, als sie wieder durch den engen Flur gingen.
»Aber nur eine. Kein Problem.« Jes überholte sie
mit federndem Schritt und sprintete die Treppe hinauf.
Als Lehr beschloss, sich Jes’ Suche
anzuschließen, gab Seraph nach und ließ Rinnie mitgehen. Es gab
nicht so viele Bücher in der Bibliothek, dass Hennea und sie sich
nicht auch alleine darum kümmern konnten.
»Wir werden ungestört mehr schaffen«, sagte sie,
nachdem die anderen gegangen waren.
»Sie sind nicht so schlimm«, wandte Hennea
ein.
»Sie sind einfach nicht daran gewöhnt, drinnen zu
sein.« Seraph tippte mit den Fingern auf das Buch, das sie
durchgeblättert hatte. »Ich glaube, ich habe dieses Buch schon
einmal gesehen.« Sie schloss die Augen, um sich besser erinnern zu
können. »Es war in einer anderen Sprache geschrieben, aber ich
erkenne die Illustrationen.«
»Steht es in Isoldas Bibliothek?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Seraph. »In den
ersten zehn Wintern nach Jes’ Geburt habe ich mich durch die
Bibliotheken jeder Mermora gearbeitet, die
zu mir kam.«
Sie öffnete die Augen wieder und legte das Buch
weg. »Nach dem Tod meines Bruders hatte ich die von Isolda«, sagte
sie. »Sobald ich mich mit Tier auf dem Hof niedergelassen hatte,
bekam ich drei weitere. Als Jes neun war, hatte ich fünfundzwanzig.
Ich ging alle fünfundzwanzig Bibliotheken sorgfältig durch, bevor
ich zugeben musste, dass mein Vater recht gehabt hatte, als er mir
sagte, dass die Zauberer aus Colossae die Weisungen in ihren
Schriften nicht erwähnten.«
»Davon hast du kein Wort gesagt, als Brewydd uns
auf dem Weg nach Taela Rongiers Bibliothek durchsehen ließ.«
»Rongier der Bibliothekar hätte Bücher besitzen
können, die die Zauberer in meinen ersten fünfundzwanzig nicht
hatten«, sagte Seraph. »Und außerdem kannten du und Brewydd
andere Sprachen als ich. Wir haben nichts gefunden - aber es hätte
sein können.«
Hennea starrte ins Leere. »Das war ungewöhnlich,
nicht wahr? Wie viele Reisende, welche Weisung sie auch immer
haben, können eine andere Sprache lesen als unsere eigene und die
Allgemeine? Für die Zauberer aus Colossae waren diese Bibliotheken
unersetzlich, aber für einen Raben sind sie überwiegend eine
Erinnerung daran, was die Reisenden einmal waren, und sie werden
nur bei besonderen Anlässen heraufbeschworen.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich den
größten Teil meines Lebens damit verbracht, den Kopf zu schütteln
und zu fragen: ›Wie wahrscheinlich war das wohl?‹« Seraph
versuchte, Henneas Ruhe nachzuahmen und ihren Zorn
beiseitezuschieben. »Mein gesamter Clan stirbt, bis auf meinen
Bruder und mich - wir waren die letzten Nachkommen von Isolda der
Schweigsamen. Dann wird er umgebracht, und mich rettet der einzige
Solsenti mit einer Weisung, von dem ich je
gehört habe.«
»Es gibt wahrscheinlich noch mehr von ihnen«,
murmelte Hennea. »Aber wer würde denn schon auf magische Weise
hinsehen, um zu festzustellen, dass ein Solsenti eine Weisung hat?«
»Selbst die Solsenti würden
einen Raben erkennen, wenn sie versuchten, ihn zum Zauberer
auszubilden«, erwiderte Seraph.
»Tatsächlich?« Hennea legte den Kopf schief. »Da
bin ich nicht so sicher. Raben können auch Rituale, Rezitationen
und Requisiten für ihre Magie benutzen. Wir tun das nur nicht, es
sei denn, wir haben es mit etwas zu schaffen, was wir noch nie
zuvor gesehen haben, und können das Muster der Magie nicht anders
herausfinden. Und Neigungen wirken sich ebenfalls aus. Ein Magier,
der sich nicht auf Metallarbeit spezialisiert
hat, wird nicht imstande sein, Magie auszuüben, um ein Schwert
wirksamer zu machen, ob er nun ein Rabe oder nur ein Zauberer ist.
Wenn ein Rabe glaubte, dass er Requisiten und Rituale brauchte,
würde er versuchen, Magie ohne solche Hilfsmittel zu wirken?«
»Ich sehe, worauf du hinauswillst.«
»Was waren die anderen ungewöhnlichen Dinge?«
Hennea wandte sich wieder dem Buch zu, das sie sich angesehen
hatte.
Seraph blickte auf ihre Hände. Ich sollte das Gespräch jetzt abbrechen, dachte sie.
Denn der Rest wird beinahe zu schmerzhaft sein,
um ihn ertragen zu können.
»Tier und ich hatten fünf Kinder«, erzählte sie
ihren Händen. »Eines wurde tot geboren, und Mehalla starb, als sie
drei Jahre alt war. Jes ist Adler, Lehr ist Jäger, Rinnie ist
Kormoran. Tier ist Eule. Ich bin Rabe. Was glaubst du, welche
Weisung Mehalla hatte, die an der Lungenkrankheit starb?« Sie
blickte wieder auf.
Hennea starrte sie an. »Lerche?«
Seraph nickte. »Ich weiß von keinen Clans, die alle
sechs Weisungen hatten, nicht zu reden von einer kleinen Familie.
Ich habe noch nie von einer Familie gehört, aus der nur Kinder mit
Weisung kamen. Weisungen sind keine Sache der Abstammung. Das ist
eines der wenigen Dinge, die wir über sie wissen. Aber warum hat
dann meine gesamte Familie Weisungen? Und warum unterschiedliche?
Es gibt viel mehr Raben als Lerchen, oder auch nur als Kormorane
und Adler.«
»Vielleicht liegt es am Solsenti-Blut?«, spekulierte Hennea.
»Oder an der Magie, die hier in den Bergen
verblieben ist. Oder daran, dass die Reisenden Schattenfall im
Allgemeinen meiden und sich unser Hof nur ein paar Tagesreisen
davon befindet. Oder es ist der Wille der Götter. Oder
Schicksal.«
»Es gibt keine Götter«, erklärte Hennea tonlos. »Es
ist Zufall.«
»Also gut«, erwiderte Seraph. »Zu welchem Clan
gehörte Kerine? Der Rabe, der neben dem Roten Ernave gegen den
Schatten kämpfte. Weißt du das?«
»Isoldas Clan.«
»Dann interessiert es dich vielleicht auch zu
erfahren, dass Tiers Familie behauptet, von dem einzigen
überlebenden Kind des Roten Ernave abzustammen.« Bevor Hennea etwas
sagen konnte, machte Seraph eine ungeduldige Geste. »Ich weiß, ich
weiß. Mythologie. Mit Ausnahme des Kaisers führt jeder Adlige im
Kaiserreich seine Abstammung auf den Roten Ernave zurück. Aber es
gibt in der Bäckerei einen Stein, in den sehr primitiv eine Axt
eingemeißelt ist, und der Mann, der ihn hinterließ, hielt sich
selbst für den Sohn des Roten Ernave - ich habe diesen Stein
berührt, genau, wie ich es mit dem Stadtplan gemacht habe.«
Hennea schwieg.
»Ich besitze über zweihundert Mermori, Hennea. Zweihundertvierundzwanzig von
fünfhundertzweiundvierzig.« Seraph spürte, wie ihr Tränen in die
Augen traten, aber sie blinzelte sie wieder weg. »Warum sollte ich
die Last von beinahe der Hälfte der Mermori
tragen, die Hinnum hergestellt hat? Warum sind sie nicht zu anderen
Clanführern gegangen? Benroln hatte nur wenige. Es gibt doch sicher
Reisende, die enger verwandt mit Torbear dem Falkenauge oder Keria
der Vierfingrigen sind, als ich es bin. Oder wie kommt es, dass
meine Familie - Bauern aus einem kleinen Dorf, das ein halbes
Kaiserreich von Taela entfernt ist -, den Kaiser selbst
kennenlernte, und das, als er von diesem neuen Schatten bedroht
wurde?«
Seraph wartete, während ihr Schweigen ihre Frage
noch gewichtiger machte, dann schlug sie das vernachlässigte Buch
wieder auf. »Ich weiß es auch nicht. Aber ich frage mich wirklich,
ob es Kräfte gibt, die die Ereignisse unseres Lebens formen. Ich
hoffe, dass ich mich irre. Ich hoffe, wir werden alle an
Altersschwäche sterben, aber ich glaube nicht, dass das wirklich
so kommen wird.« Sie starrte das Buch an, ohne es zu sehen. »Es
könnte allerdings sein, dass wir schon vorher am Lungenfieber
sterben oder von Trollen getötet werden.«
Es fühlte sich gut an, mit jemandem über diese
Dinge zu sprechen, der Muster sehen konnte, die nur ein anderer
Reisender entdecken würde. Nicht, dass Hennea mehr darüber wusste,
was geschah, als Seraph selbst, aber es fühlte sich auf jeden Fall
gut an, es ihr zu sagen.
Seraph sah sich schließlich doch die Seiten an, die
sie aufgeschlagen hatte. »Hm. Das hier ist die Kopie eines Buchs,
das ich in der Mermora von Kiah der
Tänzerin gefunden habe - das war die vierte Mermora, die zu mir kam. Am Anfang habe ich mir das
alles noch genau gemerkt.«