16
Sehr zu Tiers Erleichterung behielten die Wolken ihr Wasser bei sich, und es gab sogar einen größer werdenden Fleck von blauem Himmel und Sonnenschein, der seine Knochen wärmte.
Er war - abgesehen von seiner Gefangenschaft - seit der Soldatenzeit nicht mehr so lange von zu Hause weg gewesen, aber trotz Augenblicken des Schreckens und der Sorge störte es ihn nicht. Falls seine Frau zu dem Schluss kam, dass sie keine Bauersfrau mehr sein wollte, würde er vielleicht zum Mann einer Reisenden werden und mit ihr durch die Welt ziehen.
Der Hof fehlte ihm allerdings - er vermisste den Geruch nach frisch gepflügter Erde und wachsenden Pflanzen.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder bewusst der Stadt zu.
Offensichtlich hatten die reichen Leute von Colossae im Universitätsviertel gelebt. Tier, der oben auf einer Gartenmauer saß, konnte unter sich den größten Teil eines Gartens sehen, der zu einem dreistöckigen Herrenhaus gehörte. Es störte ihn, dass es hier keine Vögel und Insekten gab, aber das änderte nichts an der Schönheit der sorgfältig gruppierten Blüten und Bäume.
Das Beste an seiner Position auf der Mauer war jedoch nicht die Fauna von Colossae, sondern die Möglichkeit, all seine Schutzbefohlenen im Auge zu behalten, denn sie neigten dazu, sich zu weit zu verteilen, wenn sie etwas Interessantes entdeckten.
Rinnie trennte sich gerade von Lehr, der halb verborgen von einer Hecke am anderen Ende des Blocks stand, nahe der Grenze des Bereichs, den Tier ihnen zugestanden hatte, bis sie bereit waren weiterzugehen. Das Mädchen ging nun wieder auf Tier zu, Gura an der Seite.
Einen Augenblick später trabte Phoran unvermeidlich hinter Rinnie und Gura drein, wobei er wieder die Miene eines gelangweilten Zynikers zur Schau trug - eine aus früheren Zeiten übrig gebliebene Maske, die er immer aufsetzte, wenn er sich erinnerte, dass er der Kaiser und nicht nur einer von Tiers Jungen war. Phoran hatte viel gearbeitet und lange Tage zu Pferd gesessen, und nun war sein Gesicht schmaler geworden, zeigte breite Wangenknochen und eine feine Nase. Er war kein gut aussehender Mann, aber sein inzwischen braun gebranntes Gesicht hatte eine gewisse Kantigkeit, die einmal interessanter sein würde als nur gutes Aussehen, besonders, wenn er lächelte.
Obwohl er immer noch auffällige Farben trug, wirkte seine Kleidung nach Wochen der Arbeit und des Reitens ein wenig abgetragen. Die kunstvollen höfischen Frisuren hatte er aufgegeben und das Haar einfach zurückgebunden. Insgesamt sah er mehr wie ein Gauner als wie ein Kaiser aus.
Hinter ihm gingen wie immer Kissel und Toarsen. Ielian würde ebenfalls irgendwo in der Nähe sein, aber nicht zu nahe. Er wusste immer, wo sich der Kaiser aufhielt. Tier entdeckte, dass der junge Gardist lässig an einer Gartenmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnte. Rufort hatte die andere Seite des Blocks übernommen und wie Tier eine Position gefunden, die ihm erlaubte, alle im Auge zu behalten. Tier lächelte. Er war stolz auf seine Sperlinge. Sie würden gut auf den Kaiser aufpassen.
Rinnie kam näher, und Tiers Grinsen wurde breiter, als Ielian begann, Toarsen und Kissel lässig zu folgen. Er wusste, dass sie Phoran bewachten, aber von außen würde es so aussehen, als wäre Rinnie die wichtigste Person.
Rinnie blieb direkt unterhalb von Tier stehen und schirmte die Augen ab. »Papa«, rief sie. »Lehr sagt, er hat das Rätsel der eingestürzten Häuser gelöst, aber er will mir nichts verraten, bis du kommst.«
»Also gut.« Es war unwahrscheinlich, dass sich außer ihnen noch jemand in Colossae aufhielt, aber die Stille erhöhte seine Wachsamkeit dennoch, und er sah sich noch einmal gut um, bevor er von der Mauer sprang.
Er folgte seiner Tochter, ihrem Kaiser und seinen Wachen die mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse entlang bis zur nächsten Querstraße, wo Lehr auf sie wartete. Rufort, bemerkte er aus dem Augenwinkel, schlenderte hinter ihnen her.
»Sieh dir das an, Papa«, sagte Lehr aufgeregt, sobald Tier um die Büsche des kleinen Grundstücks sehen konnte, wo Trümmer anzeigten, dass hier einmal ein Haus gestanden hatte.
Lehr deutete auf den Zaun, der es umgab und der im Vergleich mit seinen Nachbarn eher bescheiden aussah. Er war nur einen Schritt hoch und bestand aus Holz. Der Zaun war kunstvoll mit grünen Ranken und kleinen weißen Blüten bemalt, die sich um die gleichmäßig zugeschnittenen Zaunlatten wanden.
Tier verzog das Gesicht; er hatte diesen Zaun schon einmal gesehen, aber er konnte sich einfach nicht erinnern, wo das gewesen war. Lehr verharrte erwartungsvoll, während Tier eine Hand auf das Holz legte und sich vorbeugte, um sich die gemalten Blumen näher anzusehen. Nein, dachte er, es war kein Zaun gewesen. Wenn sein Gedächtnis noch wie früher wäre, wäre es ihm leichter gefallen, es zu identifizieren.
»Benrolns Mermora«, sagte er schließlich. Auf dem Rückweg von Taela hatte er das zugehörige Haus beinahe jeden Tag gesehen, bis Benroln seine Leute nach Colbern geführt hatte. »Das Haus von Rongier dem Bibliothekar hatte dieses Muster auf den Fenstersimsen.«
»Und die Größe des Gebäudes, das hier fehlt, passt zu Rongiers Haus, Papa. Ich denke, die eingestürzten Gebäude waren alle Häuser von Zauberern. Ich wette, wenn wir Mutter holen, können wir auch herausfinden, wohin die anderen Mermori gehören.«
»Mermori?«, fragte Phoran. »Was ist das?«
Rinnie und Lehr fingen beide an zu erklären. Rinnie hätte aufgehört und Lehr fortfahren lassen, aber Lehr war schneller und tadelte sie, weil sie so unhöflich war, über seine Erklärung hinwegzureden.
Tier überließ es seinen Kindern, mit dem Problem fertig zu werden, während er ein paar Schritte in die Mitte der Straße machte und versuchte sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn Rongiers Haus noch an Ort und Stelle stünde statt der Steintrümmer, die alles waren, was von ihm übrig geblieben war.
Er fragte sich, ob Rongiers Haus zuerst da gewesen und dann die anderen darum herum gebaut worden waren, oder ob die anderen Häuser älter waren und die Besitzer der Grundstücke auf beiden Seiten Rongier dieses Stück Land überlassen hatten. Das relativ bescheidene Häuschen des Bibliothekars hatte in dieser Umgebung sicher eher fehl am Platze gewirkt.
Er schloss die Augen halb und visualisierte es. Seine Hände wurden wärmer und begannen zu kribbeln, als das Bild sich formte - nein, nicht nur ein Bild. Plötzlich gab es auch die Geräusche, die ihm zuvor so gefehlt hatten, Wind in den Bäumen und zwitschernde Vögel. Er roch den süßen Duft von Kräutern und Blumen und eine Spur von Kuhmist. Es war keine sonderlich geschäftige Straße; nur die Menschen, die in diesen Häusern wohnten, und ihre Besucher kamen hierher.
Ein Hengst war vor Rongiers Haus angebunden, kleiner als die Pferde, an die Tier gewöhnt war, und leichter gebaut. Jemand hatte Bänder in seine Mähne eingeflochten, und sein Zaumzeug bestand aus geweißtem Leder. Es schnippte den Schweif hin und her und trat einen Schritt zurück, um ein lästiges Insekt loszuwerden.
»Die Zauberer fanden eine Möglichkeit, ihre Bibliotheken mitzunehmen, als sie flohen?« Phorans Stimme brach Tiers Konzentration. »Ich habe so gerade eben geschafft, ein paar Sachen zum Wechseln einzupacken, mein Schwert, einen dicken Geldbeutel und vier Wachen, für die ich das Geld ausgeben kann.«
»Sie haben ihre Familien getötet«, sagte Rufort leise. »Bibliotheken - das wirkt irgendwie …« Ihm fiel nicht das richtige Wort ein.
»Kleinlich«, lieferte Ielian.
»Sie konnten es nicht ertragen, alles zu verlieren«, sagte Tier. Die Szene aus der Vergangenheit war verschwunden, sobald Phoran ihn abgelenkt hatte. »Wenn ich gezwungen wäre, meine Familie zu töten und sie zu überleben, was beinahe das schrecklichste Schicksal ist, das ich mir vorstellen kann, würde ich auch ein Andenken haben wollen - etwas, das zeigt, dass sie einmal gelebt haben.«
»War das nicht genau das, was sie opferten?«, fragte Lehr, der sich am Zaun festhielt. »Mutter sagt, Magie hat mit Mustern zu tun, und zusammen mit den Menschen, die hier lebten, opferten die Zauberer auch diese Muster des alltäglichen Lebens, all die Dinge, die Colossae zu ihrem Zuhause machten.«
»Die Bibliothek wurde nicht geopfert«, erwiderte Rinnie. »Sie gehört nicht zu dem Bann. Vielleicht sind die Mermori wie die Bibliothek.«
Phoran sagte mit schiefem Grinsen: »Mein Onkel behauptete immer, wenn ein Zauberer die Wahl hätte, Bücher oder sein einziges Kind aus einem brennenden Gebäude zu retten, würde er die …«
Phoran hielt inne, und Tier blickte plötzlich in die Zweige eines Baums.
»Papa?« Rinnie klang verängstigt.
»Es geht mir gut«, sagte Tier und reagierte damit instinktiv auf die Furcht in der Stimme seiner Tochter, bevor er wirklich Gelegenheit hatte, die Situation einzuschätzen.
Er begriff erst, dass sie ihn am Boden festgehalten hatten, als sie seine Arme und Beine wieder losließen. Er lag auf dem Rücken auf der Straße, die Jungen hockten rings um ihn herum, und Rinnie schaute unter Tränen über Lehrs Schulter.
»Noch ein Anfall, wie?«, sagte er. Er setzte sich zu schnell auf, und wenn Phoran die Hand nicht unauffällig hinter seinen Rücken bewegt hätte, wäre er wieder umgefallen. Er hatte Blut im Mund und spürte einen Riss an der Innenseite seiner Wange.
»Es war ein heftiger Anfall, Papa«, sagte Lehr. Seine Stimme zitterte nicht, und in seinen Augen standen keine Tränen, aber Tier konnte sehen, dass er Lehr ebenso sehr erschreckt hatte wie Rinnie.
»Kissel hat Euch aufgefangen, bevor Ihr zu Boden fielt«, sagte Toarsen. »Aber es sah für mich so aus, als hättet Ihr Euch den Kopf ziemlich fest angeschlagen, bevor ich Euch ruhig halten konnte.«
»Danke«, sagte Tier und legte eine Hand auf Phorans Schulter, um sich auf die Knie hochzuziehen. Als er sich nicht mehr schwindlig fühlte, stand er auf.
»Es geht mir gut«, sagte er zu den besorgten Gesichtern, die ihn anstarrten, und da er Barde war, wusste er nur zu gut, dass er log.
»Der Rabe hätte den Bann selbst über Colossae verhängen können«, sagte der Gelehrte in einer Antwort auf Seraphs Frage und ging in dem kleinen Bereich zwischen ihrer Sitzbank und der Treppe auf und ab. »Aber das wäre kein Opfer gewesen, das die Alten Götter hätte binden können. Nur die Zauberer konnten aus ihrer Stadt ein angemessenes Opfer machen. Der Rabe leitete den Bann, und Hinnum diente als Konzentrationspunkt - aber die Macht des Bannes kam von den Zauberern von Colossae.«
»Sie töteten die, die sie liebten«, sagte Seraph und versuchte, sich das vorzustellen. »Sie zerstörten alles, was ihnen wichtig war. Wie konntest du sie dazu überreden?«
»Wir versammelten sie im Tempel des Raben und erklärten, was geschehen war. Sie wussten, dass der Weber und der Pirschgänger frei waren - das konnte zu diesem Zeitpunkt niemand mehr abstreiten, denn die gesamte Natur befand sich in Aufruhr.«
»Sie haben nicht alle zugestimmt«, sagte Seraph, die versuchte, sich einen Raum voller Raben vorzustellen, die sich über etwas einig waren.
Er blieb am Kopf der Treppe stehen. »Nein«, erwiderte er ernst, und sie hörte Tod in diesem Wort und sah ihn in seinen gebeugten Schultern. Er holte tief Luft, obwohl sie nicht glaubte, dass er wirklich atmen musste. »Wir verließen Colossae durch das Universitätstor. Und dann opferten wir die Stadt.«
»Aber nicht die Bibliothek, und nicht einmal die persönlichen Bibliotheken der Zauberer«, sagte sie, als sie langsam die Einzelstücke zusammensetzte, wie es Raben taten - sie nahm die Tatsachen und nutzte sie, um mithilfe ihrer Intuition über das hinauszusehen, was sie sicher wusste. Sie musste daran denken, wie der Gelehrte sich auf Hennea konzentriert hatte, und an seine Stimme, als er von seiner Göttin sprach. Als ob Tier neben ihr stünde, konnte sie ihn sagen hören, er glaube, Hennea sei alt.
»Und nicht den Raben. Obwohl sie plante, ebenfalls zu sterben, nicht wahr?«, flüsterte Seraph ehrfürchtig. Hennea war der Rabe. »Nachdem sie sich um alles gekümmert hatte, wollte sie sterben wie die anderen Götter.«
»Ich konnte es nicht über mich bringen«, sagte der Gelehrte. »Ich konnte nicht ertragen, dass sie ebenfalls sterben würde. Ich liebte sie.«
»Was hast du also getan?«
»Ich nahm ihr stattdessen die Erinnerungen. Wie du gesehen hast, kann sie sich immer noch nicht erinnern. Ich habe ihr Gesicht verändert - nur für eine Weile, bis alle, die sie als das gekannt hatten, was sie war, tot sein würden. So viele Zauberer starben in dieser Nacht, und alle, die überlebten, trugen irgendwelche Schäden davon. Sie war nicht die Einzige, die das Gedächtnis verloren hatte. Es gab Zauberer, die nie wieder Magie wirkten, und eine Handvoll, die blind wurden. Eine sprach nie wieder ein Wort.«
»Isolda die Schweigsame«, sagte Seraph.
Er drehte sich um und starrte sie an. »Woher weißt du von Isolda? Stammst du aus ihrem Haus?«
Seraph nickte.
Er lächelte, denn er erinnerte sich offenbar an etwas Erfreuliches. »Nein. Es war nicht Isolda, die nie wieder sprach. Isolda hätte unter dem Fittich der Eule studieren können - sie hatte eine Stingstimme wie ein Windglockenspiel aus Kristall. Nach dem Sturz von Colossae trösteten ihre Lieder uns alle. Wir nannten sie die Schweigsame, weil sie niemals etwas sagte, das nicht gesagt werden musste.« Er hielt kurz inne. »Du siehst ihr nicht ähnlich, aber du hast etwas von ihrer Art.«
Seraph schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du bist Hinnum selbst, nicht wahr?«
»Ja.«
Seraph lehnte sich zurück und versuchte, die Situation zu begreifen. Sie hatte den größten Zauberer von Colossae vor sich, und sie würde so viel aus ihm herausholen, wie sie konnte.
 
»Menschen bestehen aus Geist, Verstand und Körper«, las Seraph. »Um den Geist zu sehen, muss der Zauberer sich an den Grenzen vorbeidrängen, die seine Sicht blockieren.« Sie knallte das Buch so heftig auf den Tisch, dass es deutlich verriet, wie verärgert sie war. »Quatsch«, sagte sie zu dem Buch - und zu ihrem neuen Lehrer. »Noch schlimmer, es ist nutzloser Quatsch. Keine Einzelheiten, nichts außer einer Ansammlung von wohlklingenden poetischen Plattitüden. Ich habe alles getan, was dieser Aufsatz vorschreibt, aber ich kann immer noch nichts anderes sehen als meine Weisung - die nicht Geist ist.«
»Es ist kein Quatsch!«, erwiderte die Illusion, die Hinnum trug, freundlich. »Und wenn du deinen Mann am Leben erhalten willst, bis ich in der Lage bin, Magie zu wirken, musst du wissen, wie man Geist sehen kann. Es braucht nur ein wenig Lernen und Selbstdisziplin.«
Sie drehte sich um und sah ihn an, und er lächelte - genau wie Tier. Niemand sonst lachte über ihr aufbrausendes Wesen.
Für Tier würde sie lernen, wie man Geist sah, oder dabei umkommen. Und Hinnum, mahnte sie sich streng, war der einzige Zauberer, der es ihr beibringen konnte - es sei denn, Hennea erinnerte sich plötzlich, wer sie war. Aber Seraph nahm an, wenn das möglich wäre, wäre es bereits geschehen.
Es wäre wahrscheinlich besser, dachte sie, wenn Hennea sich nie mehr erinnern würde. Nach dem, was Hinnum ihr erzählt hatte, hatte Hennea jetzt nicht mehr Macht als jeder andere Rabe; ihre Erinnerung an das, was sie gewesen war, würde ihr nur wehtun.
Hennea war nicht die Einzige, die etwas verloren hatte, als Colossae geopfert wurde. Hinnum hatte keine Einzelheiten beschrieben, aber der Schaden, den er durch den Bann genommen hatte, war offenbar schlimm genug gewesen, dass er sich entschieden hatte, lieber allein hierzubleiben, als hinaus in die Welt zu gehen.
Die Illusion, die er aufgebaut hatte, um seinem Intellekt Zuflucht zu bieten - seinem Geist, hatte er gesagt und dabei auf dieses elende Buch getippt, mit dem sie nur so langsam weiterkam -, war nicht zu viel Magie fähig. Deshalb hatte er begonnen, seinen wirklichen Körper zu wecken, sobald er Tier und die Edelsteine mit den Weisungen gesehen hatte. Hinnum würde etwas gegen diese Probleme tun können, hatte er ihr gesagt, aber er wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sein Körper sich erholte. Mit den Edelsteinen brauchten sie sich nicht besonders zu beeilen, aber Tier blieb nicht mehr viel Zeit.
Also saß sie hier an einem Tisch wie ein junger Solsenti-Zauberer unter der Tyrannei seines Meisters.
»Es ist wirklich nicht so schwierig«, sagte Hinnum und reichte ihr das Stück Kreide, das sie durchs Zimmer geworfen hatte. »Ein Lehrling von dreizehn würde problemlos damit zurechtkommen. Aber nur, wenn er nicht zu sehr damit beschäftigt wäre, Wutanfälle zu erleiden.«
Seraph brodelte lautlos vor sich hin, als sie erneut geheimnisvolle Symbole auf die glänzende Tischoberfläche schrieb. Sie hatte keinen Lehrer mehr gehabt, seit ihr eigener gestorben war. Und Hinnum hatte offenbar besondere Freude daran, unklar zu sein.
Das hier war noch schlimmer, als die Runen für einen Schutzzauber zu lernen - dabei konnte sie zumindest spüren, wie sich die Macht unter den Zeichen sammelte, sodass die Runen selbst ihr verrieten, ob sie sie richtig malte oder nicht. Aber das hier war einfach so, als kritzele man Unsinn vor sich hin.
»Dieses Zeichen gehört andersherum.« Hinnum wies auf die entsprechende Zeichnung im Buch. »Siehst du? Und das kleine Stück hier muss einen Hauch länger sein.«
»Wenn du mir verraten würdest, was wir machen wollen«, sagte sie nicht zum ersten Mal, »würde das hier vielleicht nicht notwendig sein.«
»Es steht im Buch«, stellte er lakonisch fest. »Aber du hast mir gesagt, dass du das Buch nicht verstehst - daher die Zeichnungen.« Er beugte sich über sie, als sie weiterzeichnete. »Das ist schon besser. Nur noch drei weitere Zeichnungen, dann bringe ich dir die Worte bei.«
»Konnte Hennea das hier tun?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Und du kannst selbstverständlich warten, bis jemand anders sich um deine Probleme kümmert, wenn du nicht ein wenig Zeit und Anstrengung investieren willst.«
Wenn er kein illusionäres Gebilde gewesen wäre, hätte sie ihm etwas Unangenehmes angetan.
Sie begann, die nächste zufällig wirkende Ansammlung von Kritzeleien und Winkeln nachzumalen.
 
Hinnum packte Seraphs Wangen und zwang sie in eine unnatürliche Position. »So. Wenn du die Laute nicht richtig aussprichst, funktioniert es nicht.«
Sie entzog sich ihm und versuchte es noch einmal. Rhythmus, Tonhöhe, Aussprache - kein Wunder, dass Solsenti-Zauberer ein so unangenehmer Haufen waren!
Sie starrte die bedeutungslosen Krakel an, die sie auf den Tisch gezeichnet hatte, und konzentrierte sich erneut darauf, die Worte richtig herauszubringen. Ihr selbst kam es nicht anders vor als bei den ersten zwanzig Versuchen, aber diesmal passierte etwas. Magie rauschte durch die Kreidezeichen und strömte in Seraph hinein, sodass der Strom von Macht den Hocker, auf dem sie saß, ein paar Zoll zurückschob.
Es war anders als bei Runen. Runen gehörten ihr, und sie taten, was sie von ihnen wollte.
Die Zeichen und Worte, die diese Art von Bann bewirkten, lenkten sie ab, dann stahlen sie ihre Magie und veränderten deren Form. Das passte Seraph überhaupt nicht - ein Rabe beherrschte seine Magie. Es passte ihr nicht, aber sie sah und verstand nun das Muster, das die Symbole und Geräusche mit ihrer Macht zu bilden versuchten. Es gab hier und da falsche Stellen, und sie verbesserte sie, während sie ihre Magie an sich zog, sodass sie wieder ihr gehörte.
»Ich habe es geschafft«, sagte sie und wandte sich Hinnum zu.
Aber statt des halbwüchsigen Reisendenjungen sah sie ein Netz von Magie, ein kompliziertes Muster von Schnüren und Knoten, das dem Gelehrten seine Form gab. Der lila Stoff, den sie immer als den der Rabenweisung betrachtet hatte, war ebenfalls vorhanden, unter dem Netz - das dachte sie zumindest. Sie stand auf und ging auf Hinnum zu. Aus größerer Nähe erkannte sie, dass das Gewebe nicht das Gleiche war wie das der Weisung - nicht ganz.
»Es ist keine Rabenweisung, aber es ist ihr ähnlich«, stellte sie fest.
»Ich wurde von der Göttin berührt.« Er schien zu wissen, wovon sie sprach. »Das Geschenk des Raben ist der Weisung sehr ähnlich. Was hast du getan? Diese Magie fühlt sich nicht an wie der Bann, den du wirken solltest.«
»Ich habe ihn repariert«, sagte sie und beugte sich fasziniert vor, um ihn näher zu betrachten. »Verzeih mir«, sagte sie zerstreut, während die Wirklichkeit dessen, was sie getan hatte, den Abschnitten, die Hinnum sie hatte lesen lassen, nach und nach Bedeutung verlieh.
»Wie hast du das gemacht?« Hinnum klang fasziniert und untersuchte ihre Magie so genau, wie sie ihrerseits ihn betrachtete.
»Nicht jetzt«, wehrte sie ab. »Lass mich sehen.« Es brauchte hohe Konzentration, als müsste sie genau auf alles achten, um ihren Blick wirklich auf etwas einstellen zu können. Es war einfach anstrengend. Sie würde es nicht lange tun können. Es war ähnlich, wie Raben mithilfe ihrer Magie hinschauten, um Weisungen zu sehen, aber es ging tiefer.
»Ich sehe den Bann, der dich an deine Illusion bindet«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. Es musste dieses Netz sein, das den Rest von ihm umgab. »Unterhalb der - der Berührung des Raben, würdest du wohl sagen - und unterhalb …« Das lila Gewebe wurde durchsichtig und verblasste vor ihrer Nase, als sie sich entschied, sich andere Dinge anzusehen. »Ich sehe ein bläuliches Licht und einen dunkleren Kern darunter.«
»Beschreibe es mir.« Hinnum klang nicht mehr annähernd so zurückhaltend wie zuvor; tatsächlich wirkte er eher eifrig.
Seraph hob die Hand und schob sie durch das Netz, um das Licht mit einer Fingerspitze zu berühren. »Gib mir deine Hand«, sagte sie. Wenn diese Berührung der Göttin funktionierte wie eine Weisung, sollte Seraph in der Lage sein, ihm zu zeigen, was sie getan hatte, damit er es selbst nachvollziehen konnte. Es wäre einfacher, als zu versuchen, es ihm zu erklären.
Jetzt war es an ihr, ihn zu belehren, und sie hatte ihm noch nicht verziehen, wie er sie an den Wangen gepackt hatte.
Er nahm ihre Hand, und eine Weile fragte sie sich, ob seine nicht ganz einer Weisung entstammende, nicht ganz menschliche und nicht funktionsfähige Magie ihr in den Weg geraten würde.
Sie fand schnell heraus, dass sie recht hatte, was die Magie anging, aber wenn sie aufteilte, was sie tun wollte, funktionierte alles. Sie zeigte Hinnum, welche Art von Magie sie für diese neue, ausgedehntere Sichtweise gebrauchte, und obwohl er sie nicht selbst anwenden konnte, war ihr nach seinem erfreuten »Ah« klar, dass er verstanden hatte. Dann zeigte sie ihm, was sie selbst sah, auf die gleiche Weise, wie sie es jedem hätte zeigen können, sogar einer Person, die ohne Magie zur Welt gekommen war.
Sie führte ihn langsam durch das Netz seiner Magie und vorbei an der Berührung des Raben und brachte ihn so zu dem hellblauen Feuer, das eine dunklere Gestalt umgab.
»Das helle Blau ist der Geist«, sagte er. »Es ist wichtig, dass du ihn sehen kannst. Ich habe keine Ahnung, was das andere ist … die Seele? Mag sein. Oder vielleicht ist es etwas, das geschehen ist, weil ich mein Ich in dieser Form …« Seine Stimme verklang.
Sie schloss die Augen und trennte ihre Magie vorsichtig von Hinnum, dann löste sie den Bann auf, den sie benutzt hatte. Sie blinzelte zweimal, bevor ihre Augen wieder normal sehen konnten - und machte zwei Schritte zurück, damit sie nicht mehr direkt vor dem Gelehrten stand.
Während Hinnum immer noch eine betäubt-erfreute Miene zur Schau trug, fragte Seraph: »Wenn der Pirschgänger nicht böse ist - warum ist es dann der Schatten?« Er hatte bisher vermieden, Fragen über den Schatten zu beantworten; sie hoffte, ein besseres Ergebnis zu erreichen, wenn sie ihn überraschte.
Seine Miene wurde enttäuschend schnell wieder wachsam. Wenn Tier so erfreut dreinschaute, brauchte er immer viel länger, um zu seinem üblichen intelligenten Ich zurückzufinden.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte er. »Ich war seit dem Ende von Colossae hier.«
»Nicht ganz, denke ich«, sagte Seraph. »Es gab einen Schatten unter den überlebenden Zauberern, und die Geschichten berichten, dass du es warst, der sie tötete. Warum also sind die Schatten böse?«
Sie hätte diese Befragung vielleicht Tier überlassen sollen, aber Hinnums Miene hatte sie verleitet, es zu versuchen. Sie hatte nichts zu verlieren, wenn sie bei ihm nach Informationen bohrte. Er wusste vom Schatten im Allgemeinen - und von Willon im Besonderen. Gewiss war er nach Colossae gekommen. Willon hatte die gleichen Landkarten benutzt wie sie, und er war ein Zauberer. Selbstverständlich war er zur Bibliothek gegangen.
Hinnum hatte irgendwie damit zu tun gehabt, dass aus Willon der Schatten wurde. Willon, der als angeblicher Freund von Tier in ihr Haus gekommen war und ihre Tochter getötet hatte. Hinnum würde ihr alles verraten, was er wusste, und wenn sie es ein Wort nach dem anderen gewaltsam aus ihm herauszwingen musste.
Man sah ihr diese Entschlossenheit wohl an, denn Hinnum seufzte. »Es gibt einen Makel in dem Schleier, den wir zwischen die Alten Götter und unsere Welt geschoben haben, als wir die Stadt opferten. Ich konnte es spüren - ebenso wie die wenigen anderen großen Zauberer, die überlebten. Einer von ihnen nutzte dieses Loch, um sich der Macht des Pirschgängers zu bedienen.«
»Was hat dieses Loch bewirkt?«
»Wir. Ich.«
Seraph hatte diesen Ausdruck von Schuldgefühlen schon recht oft auf seinen Zügen gesehen, vor allem, wenn man bedachte, dass sie ihn erst seit zwei Tagen kannte.
»Es hat lange gedauert, bis ich herausfand, was geschehen war.« Er setzte sich auf eine Bank und ließ den Kopf hängen. »Ich hatte mit einer illusionären Gestalt experimentiert, die etwas nicht nur für alle Sinne vollendet reproduzierte, sondern auch an einen silbernen Gegenstand gebunden werden konnte, um ohne Schäden an der Illusion immer wieder heraufbeschworen zu werden.«
»Die Mermori«, sagte Seraph.
Hinnum nickte. »Ich fand heraus, dass, wenn ich den Gegenstand, den ich reproduzieren wollte, zerstörte, der Bann nur wenig Macht brauchte.«
»Deshalb wurden die Häuser der Zauberer zerstört, als du Mermori aus ihnen machtest.« Seraph rieb sich die Stirn, die von dem Zauber, den sie gewirkt hatte, immer noch schmerzte. »Da es wenig Macht brauchte, war es leicht in den Rabenbann einzuarbeiten, und du hast die Mermori geschaffen, als die Stadt fiel. Das Opfer von Colossae war unvollkommen, weil die Häuser der Zauberer kein Teil der ewig erhaltenen Stadt mehr waren.«
»Und dann gab es noch die Bibliothek«, sagte Hinnum.
Seraph rieb sich die Stirn fester. »Dumm.«
»Ja.« Hinnum seufzte.
»Du wolltest mir sagen, wieso der Schatten böse ist.«
»Ein Zauberer - nicht jeder Feld-, Wald- und Wiesenzauberer, aber ein mächtiger, gut ausgebildeter Zauberer, kann unter gewissen Umständen durch dieses Loch im Schleier schlüpfen und die Macht des Pirschgängers berühren, die Zerstörung berühren. Da es sich um Zerstörung handelt, tötet sie allerdings bei zu langem Kontakt jedes sterbliche Wesen.«
»Aber der Schatten stirbt nicht«, sagte Seraph.
»Die meisten Zauberer, die die Macht des Pirschgängers berühren, lassen sie sofort wieder los und suchen sie niemals wieder. Aber wenn ein Zauberer dafür sorgt, dass der Tod, der ja der Preis für die Zerstörung ist, einer anderen Person zustößt, kann er die Macht eine Weile benutzen.«
»Er entscheidet sich also zu töten, um die Macht halten zu können«, interpretierte Seraph seine Worte. »Und jeder, der so etwas tun würde …«
»Ist böse.« Hinnum blickte auf zu den Oberlichtern. »Es wird spät«, sagte er. »Du solltest lieber deine Familie suchen.«
»›In der Nacht wandeln die Toten durch die Straßen‹«, zitierte sie ihn leise.
Er nickte. »Die Toten haben in dieser Stadt viele Gründe, zornig zu sein.«
 
Lehr ging direkt hinter seinem Vater her, und Rinnie klammerte sich an seine Hand. Sie atmete immer noch stoßweise, weil sie sich so sehr anstrengte, ihre Tränen vor Papa zu verbergen. Der Augenblick, in dem Tier diesen Anfall erlitten hatte, war beinahe der schlimmste in Lehrs Leben gewesen.
Tier hatte schon mehrere Anfälle gehabt, aber dieser war besonders heftig gewesen - und zum ersten Mal war es ohne Mutter geschehen, die ihnen Anweisungen gab. Und danach hatte Papa einfach auf dem Pflaster gelegen. Er hatte erst wieder begonnen zu atmen, als Kissel ihm auf die Brust geschlagen hatte.
Phoran ging auf Tiers anderer Seite, und es gelang ihm unter irgendeinem Vorwand, den Arm des älteren Mannes fest zu packen, um ihn ein wenig zu stützen.
»Kehren wir ins Lager zurück?«, fragte Ielian Lehr leise.
Sie hatten nicht darüber gesprochen. Phoran hatte Papa aufgeholfen und dann gesagt: »Gehen wir.« Aber er hatte nicht gesagt, wohin.
Papa war ein wenig betäubt gewesen und hatte schleppend gesprochen, sich aber von niemandem mehr helfen lassen. Es ging ihm besser, je länger sie unterwegs waren; tatsächlich führte er ein lebhaftes Gespräch mit Phoran.
»Wir suchen meine Mutter«, sagte Lehr.
Phoran warf Lehr einen Blick zu und nickte beinahe unmerklich.
»Papa, was ist los?«
Lehr blickte auf und bemerkte, dass Jes und Hennea auf sie zukamen.
Papa lächelte. »Sehe ich so schlecht aus?«
»Ja. Du riechst nach Schweiß, und du bist blass«, antwortete Jes direkt wie immer.
Hennea hatte eine undurchschaubare Miene aufgesetzt, aber Lehr bemerkte, dass ihre Augen geschwollen waren. Wenn man einmal von ihrer geröteten Nase absah, war sie beinahe so blass wie Papa. Sie hatte geweint, was Lehr sich nur schwer vorstellen konnte. An einem anderen Tag hätte er sich darüber gewundert, aber im Augenblick machte er sich zu große Sorgen um seinen Vater.
»Ich hatte einen Anfall«, gab Tier zu. »Und nach der Art zu schließen, wie alle um mich herumglucken, muss es ziemlich schlimm gewesen sein.«
Phoran ging weiter und zog Papa sanft mit sich. Jes hob Rinnie hoch und setzte sie auf seine Schultern, dann gingen er und Hennea neben Papa her.
Lehr wartete und übernahm zusammen mit Rufort die Nachhut der Prozession. Er mochte den stillen Mann recht gerne, und außerdem wollte er nicht zu dicht neben Jes gehen.
Manchmal genoss Lehr die Macht, die in ihm gewachsen war, seit er herausgefunden hatte, dass er Jäger war. Manchmal jedoch wünschte er sich auch, seine Sinne würden ihm nicht so viel mitteilen.
Er hatte wirklich nicht wissen wollen, was Jes und Hennea gerade getan hatten. Es war schlimm genug, zu viel über seine Eltern zu wissen, er brauchte solche Informationen nicht auch noch über seinen Bruder.
Brewydd hätte ihn ausgelacht, dachte er. Er konnte beinahe ihre Stimme hören: »Was dachtest du denn, wo die Kinder herkommen, mein Junge - glaubtest du, sie würden unter Pilzen gefunden?«
Er konnte spüren, wie seine Ohren noch heißer wurden - seine Wangen leuchteten vermutlich schon scharlachrot. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich die dunklere Haut seines Vaters.
»Ich hoffe, deine Mutter kann ihm helfen«, sagte Rufort, der sich entweder zu große Sorgen um Tier machte, um Lehrs roten Kopf zu bemerken, oder zu höflich war, um ihn zu bedrängen.
»Ich ebenfalls«, antwortete Lehr.
»Ich fürchtete schon, er würde etwas zerbrechen«, sagte Rufort, dann lächelte er dünn. »Zum Beispiel mich.«
Lehr erwiderte das Lächeln und fühlte sich ein wenig besser. Das Schlimmste war für den Augenblick vorüber. »Nein, als Ersten hätte es Ielian erwischt«, sagte er gerade laut genug, dass Ielian ihn hören konnte.
Der kleinere Mann machte eine unhöfliche Geste, dann wartete er, bis die beiden anderen ihn eingeholt hatten.
»Ich hätte nie gedacht, dass die Aufgabe eines Leibwächters interessanter sein würde, als für den Pfad zu arbeiten«, stellte er fest.
»Besser«, ergänzte Rufort.
»Mmm.« Ielian sah sich um, als sie eine Kreuzung erreichten, und hielt nach Gefahren Ausschau. Auch Lehr war in dieser Stadt immer noch nervös. »Aber ein Sperling zu sein war besser, als für den Verwalter meines Onkels als Schreiber zu arbeiten. Und besser bezahlt.«
Rufort erstarrte und kniff die Lippen zusammen, aber bevor Lehr fragen konnte, was ihn beunruhigte, entspannte er sich wieder. »Das hier ist wirklich eine Geschichte, die ich einmal meinen Enkeln erzählen kann«, sagte er. »Und sie werden so tun, als glaubten sie mir, weil ihre Mutter sie angewiesen hat, nett zu dem alten Dummkopf sein, damit sie sich in Ruhe ums Abendessen kümmern kann.«
Seine Mutter stand oben an der Treppe im Hauptraum der Bibliothek, als wolle sie gerade selbst ins Lager gehen. Der junge Mann, der sich Gelehrter nannte, war bei ihr.
Seraph sah sie alle an und trat ein Stück zurück. Ohne ein Wort winkte sie sie die Treppe hinauf und in die Bibliothek, wo sie sich auf Bänke, Hocker und Tische setzten.
Lehr glaubte nicht, dass Hennea wollte, dass er sie Mutter zuflüstern hörte: »Du weißt es, nicht wahr? Du weißt von mir.«
Lehr hatte einen Sitzplatz gefunden, und so konnte er beobachten, wie seine Mutter Henneas gerötete Augen und Jes’ entspannte Haltung zur Kenntnis nahm. Er war nicht sicher, ob sie ihnen ebenfalls ansehen konnte, was sie getan hatten, aber er traute es ihr durchaus zu.
Mutter lächelte kühl, aber Lehr merkte ihr an, dass sie über etwas erfreut war - was ihm nach all den Vorträgen, die Papa beiden Jungen darüber gehalten hatte, wie man Frauen behandelte, ein wenig ungerecht vorkam.
Dann sagte sie etwas sehr Seltsames. »Hennea, du solltest besser als alle anderen wissen, dass zu einem Raben auch Geheimnisse gehören.«
Papa setzte sich auf einen der Tische, die Beine über Kreuz. Phoran saß schon auf dem Boden, und Rinnie hatte sich neben ihm zusammengerollt und den Kopf auf sein Knie gelegt. Gura ließ sich seufzend auf Phorans anderer Seite nieder und nahm das freie Knie.
Für Lehr sah es so aus, als wollte der Gelehrte neben Mutter stehen, aber sie schickte ihn ebenfalls zu einer Bank.
»Ich hatte einen produktiven Tag«, berichtete sie und betrachtete dabei forschend Papas ausgemergeltes Gesicht. »Aber warum erzählt ihr mir nicht erst, was ihr gefunden habt? Jes?«
Jes grinste breit, und Lehr wartete einen Augenblick entsetzt darauf, was sein Bruder sagen würde. Mit einem Barden als Vater hatten sie alle gelernt, nicht zu lügen. Aber Jes konnte manchmal auch zu ehrlich sein.
»Wir haben den Tempel des Raben gefunden«, berichtete Jes. »Nicht weit von hier.« Er schaute auf Hennea herab. »Anders als der Tempel der Eule, alles schwarzer und weißer Stein, aber die gleiche Idee.«
Lehr bemerkte Henneas Erleichterung und wusste, dass sie die gleichen Befürchtungen gehabt hatte wie er. Unerwartet trafen sich ihre Blicke. Sie errötete, dann lächelte sie schuldbewusst.
»Tier?«, fragte seine Mutter.
»Lehr hat herausgefunden, worum es bei diesen zerstörten Häusern geht«, sagte Papa.
Mutter schaute Lehr an, also berichtete er von dem Zaun und der Form des Hauses, das einmal in der von ihm entdeckten Lücke gestanden hatte.
»Wir bringen Rongiers Mermora morgen hin«, war Seraphs einzige Reaktion, als er fertig war.
»Ich dachte, du stammtest aus dem Haus von Isolda«, stellte der Gelehrte misstrauisch fest. »Wieso hast du Rongiers Mermora?«
Mutter warf ihm einen ihrer Blicke zu. »Ich sagte dir doch, dass der Schatten systematisch Reisende getötet hat. Er brachte die Letzten aus Rongiers Clan vor ein paar Wochen um. Die Mermora kam zu mir.«
»Rongiers Linie ist tot?«
»Ich habe zweihundertneunundzwanzig Mermori«, sagte Mutter. »Diese Clans sind alle tot.«
Der Gelehrte senkte den Blick. »Ich werde morgen Nachmittag für dich Magie wirken können«, versprach er.
»Gut.« Mutter sah Papa an und zog eine Braue hoch. »Du siehst besser aus«, sagte sie zu ihm. »Ich war nicht sicher, ob du auch nur die Treppe überleben würdest.«
Er grinste. »Schon gut, Kaiserin«, sagte er. »Ich hatte einen weiteren Anfall. Wenn Kissel nicht so schnell gewesen wäre und mich aufgefangen hätte, ehe ich aufs Pflaster fiel, hätte ich jetzt wahrscheinlich noch schlimmere Kopfschmerzen. Das ist nichts Neues, Liebste. Erzähl uns, was du erfahren hast; wir haben lange genug gewartet.«
Rabenzauber
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