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Tier fand einen Tisch am
Rand des Nests, von dem aus er die Sperlinge beobachten konnte.
Myrceria saß für gewöhnlich bei ihm, immer in eher gelangweilter
Haltung. Er fragte sich, was sie wohl interessieren könnte,
erwähnte das aber nicht. Sie war für den Betrieb des Nests
verantwortlich: Die Diener, Huren und Köche folgten ihren
Anweisungen. Wenn man den Bemerkungen der Sperlinge glauben wollte,
war sie die Favoritin mehrerer Raubvögel und einiger älterer
Sperlinge. Dennoch näherte sich ihr keiner, wenn sie bei Tier saß,
und sie begleitete ihn stets, wenn er sich außerhalb seiner Zelle
aufhielt.
Sie war allerdings nicht die Einzige, die seine
Nähe suchte. Wohin er auch ging, es gab immer ein paar Sperlinge,
die zu Tier kamen, um zu lauschen und ihn über sein Leben als
Reisender zu befragen. Da Tier in seinem ganzen Leben noch nicht
einen einzigen Reisendenclan gesehen hatte, erzählte er ihnen
stattdessen von seinem Leben als Soldat - was sie offenbar
ebenfalls zufriedenstellte.
Und dabei beobachtete er sie ununterbrochen. Er
trennte die Rettenswerten von den Wertlosen und wandte dazu einen
Prozess an, den der Sept von Gerant immer »Frettchen sieben«
genannt hatte.
Der Sept hatte alle neuen Rekruten zusammengeholt
und sie von zwei oder drei Veteranen ausbilden lassen. Dann hatte
er einen Mann geschickt, der sie beobachtete - für gewöhnlich
war das Gerant selbst, aber Tier hatte diese Pflicht ebenfalls
mehrmals erledigt.
Nach mehreren Wochen wusste der Beobachter, wer ein
Unruhestifter oder feige war, und er hatte auch alle Männer
entdeckt, die körperlich nicht zur Kriegsführung geeignet waren.
Sie wurden mit ein wenig Silber entlohnt und weggeschickt.
Tier fand das Sortieren der Jungen des Geheimen
Pfads ein wenig schwieriger, weil der Pfad genau die Art von
Verhalten ermutigte, das er ausmerzen wollte. Er sah fünf oder
sechs junge Männer, die er in keiner seiner Truppen haben wollte,
und zehn weitere, die er selbst nach einiger Zeit in Form bringen
könnte - aber er würde diese Jungen Phoran übergeben und keinem
erfahrenen militärischen Anführer.
Phoran hatte gute Instinkte, aber er hatte auch
Eigenschaften, die das Kommando über eine Gruppe, wie Tier sie
vorschlug, schwierig machen würde. Erstens war er jung. Aber noch
schlimmer war sein Ruf. Das würde es ihm schwer machen, die
Sperlinge bei etwas anderem als betrunkenen Ausschweifungen
anzuführen.
Also kam Tier zu dem Schluss, dass er die jungen
Männer zunächst selbst ein wenig ausbilden musste. Er trank einen
anständigen Schluck Bier. Er würde einfach warten, bis der nächste
Streit ausbrach - was so, wie es aussah, binnen einer Stunde
geschehen würde.
»Heute früh standen sie vor meiner Tür und
klopften«, berichtete Collarn gerade mit sichtlicher Aufregung.
»Mein Vater dachte, sie wollten mich festnehmen, weil ich
irgendetwas Dummes angestellt hatte. Ich dachte, er werde auf der
Stelle tot umfallen, als sie ihm sagten, der Kaiser sei zu dem
Schluss gekommen, der Hüter der Musik brauche Hilfe, und die
Meister der Musikhochschule hätten mich empfohlen.«
Tier lächelte ihn an. »Und, werdet Ihr es
tun?«
Collarn grinste. »Und jahrelang Sklave eines alten
Mannes sein, sauber machen, Instrumente stimmen und restaurieren?
Aber selbstverständlich! Wisst Ihr, was in diesen Räumen im Palast
versteckt ist?« Er machte eine vage Geste, die den gesamten Palast
umfasste. »Ich auch nicht. Aber ich hatte heute schon Gelegenheit,
Instrumente zu spielen, die mehr wert sind als alle Ländereien
meiner Familie zusammengenommen.«
Tier unterhielt sich noch ein wenig länger mit ihm,
verwickelte Myrceria vorsichtig mit in das Gespräch und zog sich
dann selbst zurück. Als Myrceria und Collarn sich angeregt
miteinander unterhielten, entschuldigte Tier sich und begann, durch
das Auditorium zu schlendern, denn die unmissverständlichen
Geräusche eines weiteren Duells erklangen irgendwo aus der Nähe der
Bühne.
Er sprach beiläufig mit ein paar Jungen, an denen
er vorbeikam. Als er den Kampf erreichte, hatten sich schon viele
versammelt, um den Kombattanten Ermutigungen zuzurufen. Sie machten
Tier gerne Platz. Sobald er klar sehen konnte, was los war,
verschränkte er die Arme und schaute zu.
Der erste Junge war Toarsen, ein hitzköpfiger,
verbitterter junger Mann, der wie die meisten seiner Kumpane zu
viel Geld und nichts zu tun hatte. Aber er war schlau, was Tier
gefiel, und kein Feigling.
Sein Gegner stellte eine kleine Überraschung dar.
Es war einer der Zwanzigjährigen, die Tier für die größten
Unruhestifter hielt - sie saßen für gewöhnlich nur am Rand und
ließen andere ihre Dreckarbeit machen. Nehret gehörte für
gewöhnlich nicht zu den Leuten, die sich an Duellen
beteiligten.
Tier beobachtete die jungen Männer genau und konnte
sehen, dass beide wie so viele Adlige seit ihrer Geburt als
Schwertkämpfer ausgebildet worden waren, aber als Duellanten und
nicht als Soldaten.
Als er genug gesehen hatte, wandte er sich dem
Jungen zu seiner Rechten zu: »Würdet Ihr mir Euer Schwert
leihen?«
Der Junge errötete und nestelte an dem Schwert
herum, aber dann reichte er es Tier. Als Tier den Jungen zu seiner
Linken ebenfalls um sein Schwert bat, lachte dieser, zog es mit
großer Geste und präsentierte es Tier auf einem Knie. Ein
Kurzschwert in jeder Hand, ging Tier auf den improvisierten
Kampfplatz hinaus.
Er sah noch einen Moment genau zu und blieb
außerhalb des direkten Blickfelds der Kombattanten, während er die
Schwerter, die er in Händen hatte, auf ihre Ausgewogenheit hin
prüfte. Sie waren leichter als die Waffe, die er in Redern gelassen
hatte, und ein wenig anders in ihrer Form - diese Schwerter waren
eher dazu entworfen, einem Gegner blutige Wunden beizubringen, als
ihn zu töten.
Nachdem er seine Vorbereitungen beendet hatte,
sprang er vor und griff an. Toarsen verlor sein Schwert sofort.
Nehret behielt seine Klinge, aber nur um den Preis von Form und
Gleichgewicht. Er landete würdelos auf dem Hinterteil.
»Wenn Ihr schon kämpfen wollt«, sagte Tier, »dann
macht es wenigstens richtig. Nehret, Ihr verliert an Kraft, weil
Eure Schultern steif sind - Ihr lasst die Arme die ganze Arbeit
machen.« Tier drehte Nehret den Rücken zu, denn er wusste dank
seinen Beobachtungen in den vergangenen Tagen, wie der Junge Kritik
aufnahm und wie er reagieren würde.
»Toarsen«, sagte Tier, »Ihr solltet weniger darauf
abzielen, Eurem Gegner einen Kratzer zu versetzen, und Euch besser
verteidigen. Bei einem echten Kampf wäret Ihr schon ein halbes
Dutzend Mal tot gewesen.« Er drehte sich wieder um und fing den
Schlag ab, den Nehret auf seinen Rücken gezielt hatte.
»Beobachtet mich, dann seht Ihr, was ich meine«,
fuhr er fort, als wäre es keine größere Sache für ihn, die Schläge
des
zornigen Jungen abzuwehren. Tatsächlich war es nicht so einfach,
wie er es aussehen ließ. »Nehret streckt sich zu sehr aus - ah,
seht Ihr? Das ist es genau, was ich vorhin meinte. Wenn Ihr den
ganzen Körper in die Bewegung gelegt hättet und nicht nur den Arm,
hättet Ihr vielleicht etwas erreichen können. Ihr seht, dass Nehret
mir wirklich wehtun will, aber er ist so lange dazu ausgebildet
worden, es nur auf Berührungen anzulegen, dass er keine Gelegenheit
hat, mir mehr als einen Kratzer zu versetzen. Das ist das Problem
bei zu vielen Duellen - Ihr wisst nicht, was Ihr in einem richtigen
Kampf tun sollt.«
Tier legte die linke Hand auf den Rücken, um eine
seiner Klingen aus dem Weg zu schaffen. Dann drehte er das Schwert
in der rechten Hand, damit er Nehret nicht den Arm abschnitt, als
er ihn damit traf, sondern ihn nur taub werden ließ, sodass der
Junge sein Schwert verlor.
Tier tippte ihm auf die Wange. »Ach«, fügte er
hinzu, »und Ihr solltet niemals einen Gegner angreifen, der Euch
den Rücken zudreht, es sei denn, es steht mehr auf dem Spiel als
Euer Stolz.« Dann wandte er Nehret erneut den Rücken zu. Er wusste,
dass er dem Jungen in den letzten Minuten viel von seinem Einfluss
auf die anderen Sperlinge genommen hatte. »Toarsen, warum versucht
Ihr Euch nicht in einer Runde gegen mich?«
Nach der Ratssitzung stellte Phoran fest, dass er
recht beliebt geworden war. Leute folgten ihm, wohin er auch ging -
selbst in sein Schlafzimmer, wenn er die Tür nicht schnell genug
schloss. Es war Tradition, dass alle Septs bis kurz vor der
Erntezeit im Palast blieben; wenn sie bis dahin so weitermachten,
würde er sie alle rauswerfen lassen. Schließlich hatte er genug von
den gleichzeitig kriechenden, ablehnenden Septs und schickte nach
Avar, um mit ihm auszureiten.
Er hatte Avar gemieden, seit er ihm gegenüber seine
Ängste in Worte gefasst hatte. Das war ein schlechter Lohn für
Avars rasche Unterstützung bei der Ratssitzung, und Phoran musste
etwas tun, um das zu ändern.
Im Stall stieg er diesmal ohne Hilfe auf, aber er
hatte andere Dinge im Kopf und bemerkte es kaum. Stundenlang zerrte
er Avar von einem Meister der Kaufmannsgilde zum anderen. Es war
nicht ungewöhnlich, dass Phoran den Laden eines Gildenmeisters
aufsuchte - ein Kaiser würde kaum bei einem geringeren Mann kaufen.
Falls ihn jemand beobachtete - und er glaubte, dass zumindest eine
Person ihnen folgte -, würde der Spion nur annehmen, dass Phoran in
jedem Laden etwas erwarb.
Phoran kannte die Gildenmeister selbstverständlich
alle, aber das hier war das erste Mal, dass er bewusst freundlich
zu ihnen war. Nachdem sie die Webergilde verlassen hatten,
kapitulierte Avar und gab seiner Neugier nach, die den ganzen
Morgen lang größer und größer geworden war.
»Ihr braucht keinen Bettvorhang«, sagte Avar. »Und
ich glaube wirklich nicht, dass Euch silberne Gebäcktellerchen und
Tische mit gedrechselten Beinen auch nur im Geringsten
interessieren. Was genau wollt Ihr hier eigentlich?«
Phoran glaubte inzwischen, dass Avar unschuldig war
und man ihn nur geschickt hatte, um dem Kaiser Gesellschaft zu
leisten und ihn zu beschäftigen. Dennoch, er traute seiner eigenen
Einschätzung noch nicht so recht. Er hätte Avar nicht mitnehmen
sollen.
Klinge warf den Kopf herum, und Phoran ließ die
Zügel durch die Finger gleiten, dann verkürzte er sie nach und nach
wieder, um einen leichten Zugriff auf den Hengst zu behalten. »Wer
hat dir nach dem Tod meines Onkels gesagt, dass du dich mit mir
anfreunden sollst?«
Avar erstarrte.
»Schon gut«, sagte Phoran und behielt dabei die
überfüllten Straßen besser im Auge als Avar. »Ich wüsste nur gerne,
wer es war.«
»Mein Vater«, sagte Avar. »Aber es war nicht
…«
»Ich fürchte doch«, sagte Phoran bedauernd. »Ich
war … was, zwölf? Und du siebzehn. Es muss eine unangenehme Aufgabe
gewesen sein - und ich danke dir, dass du sie erfüllt hast.«
Er holte tief Luft und entschied sich, Avar zu
vertrauen. »Ich versuche, eine Art Machtbasis aufzubauen. Ich werde
mich den Septs sehr intensiv widmen müssen, bis ich weiß, wer mir
widersprechen wird und warum. Aber die Stadt ist für die Stabilität
des Kaiserreichs ebenso wichtig wie die Septs. Ich dachte, es wäre
gut, hier ein wenig Rückhalt zu suchen. Die Septs sind zu stolz,
sich danach umzusehen.«
»Ich mag Euch wirklich«, sagte Avar leise. »Das
habe ich immer getan.«
»Ah«, erwiderte Phoran, weil ihm nichts Besseres
einfiel. Wie konnte Avar ihn gemocht haben, wenn ansonsten alle,
Phoran selbst eingeschlossen, den Kaiser verachteten? Was gab es da
schon zu mögen? Aber Avar hatte sein Bestes getan, Phoran bei
seinen Plänen zu helfen, und dafür, und für so viele Jahre der
Pflichterfüllung, schuldete Phoran ihm die Möglichkeit, bei seinen
Notlügen bleiben zu können.
Sie ritten schweigend weiter zum Meisterimporteur,
der Waren aus dem gesamten Kaiserreich und anderen Ländern
einführte.
»Ist Gildenmeister Emtarig da?«, fragte Phoran den
Jungen, der im Laden arbeitete.
»Nein, Herr. Kann ich Euch helfen?«
Der Junge musste neu sein, und Phoran bezweifelte,
dass er auch nur ahnte, wen er vor sich hatte. Der junge Kaiser
trug Reitkleidung ohne kaiserliche Symbole - nur sein Gesicht hätte
verraten können, wer er war.
»Junge«, sagte Avar recht freundlich, »richte
deinem Meister aus, dass der Kaiser ihn im Laden erwartet.«
Der Junge schaute zwischen Phoran und Avar hin und
her und versuchte offenbar zu entscheiden, welcher der beiden der
Kaiser war. Schließlich verbeugte er sich vor Avar, eilte hinter
einen Vorhang und dem Geräusch seiner Schritte nach zu schließen
durch einen Flur und eine Treppe hinauf in die Wohnung des
Meisters.
Phoran betrachtete die Dinge auf den beladenen
Regalen und verbarg sein Lächeln. Avar konnte schließlich nichts
dafür, dass er mehr nach einem Kaiser aussah als Phoran
selbst.
Die Mitglieder der Importeursgilde hatten nach
ausführlichen Verhandlungen mit den anderen Gilden das Recht
erhalten, Gegenstände zu verkaufen, die nicht in der Stadt
hergestellt worden waren. Es gab wunderbar gegerbte Felle von
Tieren, die Phoran nie zuvor gesehen hatte - und wahrscheinlich
auch niemals sehen würde. Wertvolle Kelche aus
Glasbläserwerkstätten standen auf einem hohen Regal, wo niemand sie
aus Versehen umstoßen konnte. Phoran hatte gerade ein paar bunte
Perlen in der Hand, die ihn interessierten, als er hörte, wie der
Junge die Treppe wieder heruntergesprungen kam.
Er drehte sich nicht um, ehe er hörte, wie hinter
ihm jemand sagte: »Großzügigste Majestät, Ihr ehrt meinen
Laden.«
»Meister Willon?«, fragte Phoran ehrlich erfreut.
Er musste sich noch einmal umdrehen, um die Perlen zurückzulegen.
»Ich dachte, Ihr hättet Euch in eine götterverlassene Provinz
zurückgezogen und wolltet nie wieder nach Taela
zurückkehren?«
»Seid vorsichtig, Phoran«, sagte Avar grinsend. »Er
ging nach Redern, das zu meiner Sept gehört.«
»Und Leheigh ist wirklich ein götterverlassener
Ort«,
stimmte Phoran zu. »Was bringt Euch denn hierher zurück? Ich
hoffe, es geht Meister Emtarig gut.«
»Mein Sohn ist gesund und munter«, antwortete
Willon. »Aber ich habe meine Enkel lange nicht mehr gesehen. Ich
dachte, es sei Zeit für einen Besuch. Mein Sohn ist auf dem Markt,
um mit der Musikergilde über eine Trommel zu reden, die ich
mitgebracht habe. Und ich selbst musste ebenfalls mit einigen
Personen in der Stadt sprechen.«
»Gut«, sagte Phoran. Er dachte daran, Willon zu
fragen, was er von einem Mann namens Tier wusste, aber schließlich
sagte er nur: »Was würdet Ihr für drei dieser Wandbehänge nehmen?«
Er würde stattdessen Tier nach Willon fragen.
Sie begannen zu feilschen, bis sie einen Preis
erreichten, den sie beide für gerecht hielten. Phoran feilschte
länger, als er es zuvor getan hätte, denn er hoffte immer noch,
Emtarig würde zurückkehren. Willon war ein alter Freund seines
Onkels, aber inzwischen war Emtarig Gildenmeister und damit der
Mann, den Phoran beeindrucken musste. Aber Emtarig ließ sich nicht
sehen, also bezahlte Phoran für die Wandbehänge und bat Willon, sie
bei Gelegenheit zum Palast zu schicken.
Sie gingen zu drei weiteren Gildenmeistern und
kauften einen kobaltblauen Glaskrug, vier Kupfervögel, die im Wind
sangen, und ein mit Muscheln eingelegtes Tafelmesser, bevor Phoran
sich zu einem privaten Abendessen mit Avar in seine Gemächer
zurückzog. Sie unterhielten sich, aber nicht über irgendetwas
Ernstes.
Bald schon, dachte Phoran, würde er Avar sagen,
dass er alles über den Pfad herausgefunden hatte - aber jetzt noch
nicht. Avar würde ihm nicht so leicht glauben wie Tier; er war
nicht daran gewöhnt, dass Phoran etwas anderes war als ein
gelangweilter Säufer. Obwohl Avar, wenn man ihm gerecht werden
wollte, auch nicht Tiers Erfahrung und Beweggründe hatte, an die
Existenz des Bösen zu glauben.
Tier kehrte müde, zerschlagen und sehr zufrieden
in sein Zimmer zurück - ein dieser Tage eher ungewöhnlicher
Zustand. Sein täglicher Schwertunterricht war inzwischen beliebter
geworden als Duelle.
Die Sperlinge blühten unter seiner Aufmerksamkeit
auf, und einige, besonders Toarsen, wuchsen zu mehr heran, als er
für möglich gehalten hätte. Er hatte Jungen immer gut zu Soldaten
machen können, weshalb Gerant ihm auch einen Posten in seiner
persönlichen Wache angeboten hatte, wo er zusammen mit anderen, in
der Sept geborenen Männern gedient hätte, die ebenso gut oder
besser als er mit Waffen umgehen konnten.
Es gab ein paar, die es nicht wert waren, gerettet
zu werden. Dazu gehörte auch Nehret, und in der jüngsten Gruppe
befand sich ein sehr ungewöhnlicher junger Mann, der offenbar ohne
jede Moral und ohne Mut zur Welt gekommen war. Er buckelte vor den
Mächtigeren und verletzte jeden, den er für schwächer hielt. In ein
paar Jahren würde er ein Vergewaltiger und Mörder sein - falls er
nicht schon jetzt einer war - und darüber keine Minute Schlaf
verlieren. Tier hatte Toarsen und seinen großen, kräftigen Freund
Kissel gebeten, diesen Jungen im Auge zu behalten und die jüngeren
Sperlinge vor ihm zu schützen.
Die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Einige Jungen
kamen abends noch vorbei, also hielt er das nicht für
bemerkenswert, bis er sah, wer ihn da besuchte.
»Myrceria?«
Sie saß auf seinem Bett, die Beine unter sich
gezogen, und lächelte ihn strahlend an. »Ich hoffe, es stört Euch
nicht, dass ich heute Abend hergekommen bin.«
»Nicht im Geringsten«, sagte er.
Sie wandte den Blick ab. »Bitte spielt etwas für
mich«, sagte sie. »Etwas, das mich zum Lachen bringt.«
Er schloss die Tür, setzte sich aufs Fußende des
Betts und nahm die Laute von den Haken, die er an der Wand
angebracht hatte. Er spielte eine kleine Melodie und stimmte das
Instrument dabei automatisch, bis der Klang akzeptabel war.
»Wie macht Ihr das nur?«, fragte sie. »Collarn kann
wirklich niemanden leiden - und die anderen geben ihm dieses Gefühl
für gewöhnlich mit Zinsen zurück. Er liebt nur die Musik. Er
arbeitet so angestrengt daran, und dennoch ist er nie gut genug. Er
konnte kaum den Gedanken daran ertragen, dass Ihr wegen Eurer Magie
besser spielen würdet als er, ganz gleich, was er tat oder wie viel
er übte. Und dann wurde ich Zeugin, wie Ihr seinen Hass nahmt und
ihn innerhalb einer Stunde zu Heldenverehrung umkehrtet. Telleridge
sagt, Ihr könnt Eure Magie hier nicht verwenden.«
»Es ist auch keine Magie«, sagte Tier. »Collarn
liebt Musik, und das ist wichtiger für ihn als alle Kränkungen, die
die Welt ihm zugefügt hat. Ich habe ihm einfach nur gezeigt, dass
ich Musik ebenfalls liebe.«
»Aber was ist mit dem Rest?«, fragte sie. »Die
Sperlinge folgen Euch überallhin, als wären sie mutterlose
Welpen.«
»Ich mag Menschen«, sagte Tier achselzuckend. »Ich
glaube nicht, dass die meisten dieser Jungen daran gewöhnt sind,
dass jemand sie mag.«
Sie lachte auf, aber es war ein freudloses Lachen.
»Die Meister machen sich große Sorgen, weil Ihr solchen Einfluss
auf die Sperlinge habt. Seid vorsichtig.«
Sie drehte den Kopf, und er sah, dass sie einen
blauen Fleck am Kinn hatte.
»Wer hat Euch geschlagen?«, fragte er.
Sie griff nach einem Kissen und begann, die Fransen
zurechtzuzupfen. »Einer der Meister sagte Kissel, sie seien
beunruhigt darüber, dass Collarn nicht mehr so oft ins Nest komme.
Sie beauftragten Kissel, Collarn daran zu erinnern, auf welcher
Seite er steht - und Kissel weigerte sich. Er sagte, Ihr würdet es
bestimmt nicht gutheißen, wenn er jemanden herumschikaniere, der
schwächer sei als er selbst.«
Tier brachte die Saiten zum Schweigen. »Ja, einer
wie er hätte wahrscheinlich keinen Augenblick daran gedacht
zuzustimmen und dann entweder so zu tun als ob oder es mir zu
sagen. Ellevanal rette mich vor ehrlichen Dummköpfen! Warum konnten
sie nicht zu Toarsen gehen?«
Myrceria starrte ihn an, und ihre Hände bewegten
sich plötzlich nicht mehr. »Ihr habt das absichtlich getan, nicht
wahr? Ihr stehlt den Meistern absichtlich ihren Einfluss. Vor einem
Monat noch hätte Kissel sich gefreut, den Meistern einen Gefallen
tun und die anderen Sperlinge einschüchtern zu können. Wie habt Ihr
das fertiggebracht?«
Tier spielte ein paar Töne eines Trauergesangs, den
Collarn auf der Geige für ihn gespielt hatte - er hörte sich auf
der Laute seltsam an.
»Sie versuchen, diese Jungen zu ruinieren«, sagte
er schließlich. »Sie wollen sie zu etwas Geringerem machen, als sie
sein könnten.«
Er war sicher gewesen, dass Myrceria für Telleridge
spionierte, und das traf vielleicht auch immer noch zu - aber sein
Instinkt sagte ihm, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie
sich gegen die Meister des Pfads wandte. Er würde nur die richtigen
Worte finden müssen.
Er spielte noch ein paar Takte. »Was wird aus
denen, die ihr kleines Spiel nicht mitspielen, Myrceria? Jungen wie
Collarn, die nie einverstanden sein werden mit dem wirklichen
Schaden, den der Pfad anrichtet? Oder Leute wie Kissel, die
entdecken, dass es sich so viel besser anfühlt, jemanden zu
beschützen, der schwächer ist als sie, statt ihn zu quälen?«
Sie schwieg.
»Es gibt eigentlich recht wenige Raubvögel«, fuhr
er leise fort. »Jedenfalls, wenn man die Anzahl der Sperlinge
bedenkt, die jedes Jahr Mitglied werden.«
»So geht es beim Pfad«, flüsterte sie. »Die Jungen,
die Raubvögel werden können, erhalten zuvor die Namen der anderen
Jungen - Namen von Jungen wie Collarn. Sie müssen einen Beweis
bringen, dass sie den Träger dieses Namens getötet haben, bevor man
sie zu Raubvögeln macht.«
Sie legte das Kissen weg. »Wie stellt Ihr das an?«,
fragte sie. »Wenn sie wüssten, was ich Euch erzählt habe, würden
sie mich umbringen.«
»Ihr wisst, dass es falsch ist«, sagte er. »Ihr
wisst, dass man sie aufhalten muss.«
»Wer soll sie denn aufhalten?«, fragte sie, ihr
Unglaube von Zorn beflügelt. »Ihr? Ich? Ihr seid ein Gefangener und
in ihrer Gewalt, Tier aus Redern. Ihr werdet am Ende Eures Jahres
sterben, wie sie alle gestoben sind. Und ich bin ebenso gefangen,
wie Ihr es seid.«
»Man muss stets gegen das Böse kämpfen«, sagte
Tier. »Wenn Ihr nicht dagegen ankämpft, seid Ihr ein Teil
davon.«
Sie stand auf und ging ohne Eile zur Tür. »Ihr
wisst nicht, wem Ihr gegenübersteht, oder Ihr wäret nicht so
überheblich, Barde.«
Sie schloss die Tür fest hinter sich.
Nun, dachte Tier, das kam unerwartet. Huren lernten früh, dass
Überleben bedeutete, auf sich selbst aufpassen zu müssen. Myrceria
war schon lange Hure gewesen, aber sie redete nicht wie eine, die
sich um niemanden sonst scherte.
Sie sorgte sich um diese Jungen. Sie war nicht froh
darüber, aber sie sorgte sich.
Tier schlug einen der dünnen kleinen Sperlinge
des ersten Jahrs auf die Schulter, nachdem der Junge endlich die
Bewegung
ausgeführt hatte, die Toarsen ihm seit Tagen beizubringen
versuchte.
»Exerzieren«, befahl Tier. Man hörte Stöhnen und
halbherzigen Widerspruch, aber dann stellten sie sich in drei
krummen Reihen auf, die unter Tiers kritischem Blick gerader
wurden.
»Anfangen«, befahl er und arbeitete mit ihnen.
Diese Übungen waren das Herz der Ausbildung. Wenn ein Mann während
des Kampfes noch darüber nachdenken musste, wie er Körper und
Schwert bewegen sollte, würde er zu langsam sein, um sich retten zu
können. Die Übungen lehrten den Körper, auf Informationen zu
reagieren, die Augen und Ohren erhielten, damit das Hirn sich
größeren Strategien widmen konnte als nur der Frage, wie man dem
nächsten Stoß begegnen sollte.
Das Schwert, das Tier in der Hand hielt, war
schlechter als das, was er einem Adligen auf dem Schlachtfeld
abgenommen hatte, aber zumindest gut ausgewogen. Myrceria hatte es
ihm gebracht, als er danach verlangt hatte.
Tier hatte auch nach seiner Soldatenzeit weiter
Schwertübungen durchgeführt, aber die vergangenen Wochen hatten ihn
geschliffen, bis er beinahe wieder so schnell und stark war wie vor
zwanzig Jahren. Seine linke Schulter war immer ein wenig steif, bis
er sie aufgewärmt hatte, aber ansonsten hatte er noch nicht viel
von seiner Geschmeidigkeit verloren.
Er übte mit den Jungen, bis das Hemd ihm unangenehm
an den verschwitzten Schultern klebte, dann zog er sein Schwert mit
einer auffälligen Bewegung herum und steckte es in die
Scheide.
»Baden!«, riefen die Jungen wie ein einziger Mann,
und sie rannten, die Schwerter noch in der Hand, zum Baderaum, um
sich ins kalte Becken zu stürzen.
Tier lachte kopfschüttelnd, als Collarn stehen
blieb, um ihn zu dem Wasserkampf einzuladen. »Ich habe nicht vor,
vor meiner
Zeit zu ertrinken«, schwor er. »Ich werde mich auf meinem Zimmer
waschen.«
Loyalität, dachte er, als er die letzten Jungen im
Flur verschwinden sah, war es wert, mit ihnen zusammen zu
schwitzen.
»Sie sind besser geworden«, stellte Telleridge
fest.
Tier hatte den Meister nicht bemerkt, aber seine
Aufmerksamkeit hatte auch den Jungen gegolten. Er nahm von einem
Diener ein Glas Wasser entgegen.
»Ja«, sagte er nach einem großen Schluck. »Einige
mehr als andere.«
»Ich wusste, dass Ihr Soldat wart, aber Ihr wart
auch mehr als das - ich habe mich erkundigt«, sagte Telleridge.
»Erstaunlich, dass ein Bauernjunge - nichts für ungut - Offizier
werden und andere Soldaten befehligen konnte. Seid Ihr vielleicht
ein Bastard des alten Sept von Leheigh?«
»Wisst Ihr, wo ich herkomme?«, fragte Tier mit
trägem Lächeln und reichte das leere Glas einem der schweigenden
Diener.
»Aus der Sept von Leheigh«, erwiderte
Telleridge.
Tier schüttelte den Kopf. »Ich stamme aus Redern,
der ersten Siedlung, die die Menschheit nach dem Sieg über den
Schatten gründete. Sie benannten sie nach dem Helden der Schlacht,
dem Roten Ernave. Wir sind alle Bauern, Gerber, Bäcker …« Er zuckte
die Achseln. »Aber wenn man lange genug sucht, wird man in jedem
Rederni das Blut von Kriegern finden. Wenn Ihr mich jetzt
entschuldigen würdet, ich muss mich waschen und umziehen.«
Als Tier seine Zelle erreichte, verschloss er die
Tür und wusch sich rasch mit Wasser aus dem Becken, das zu diesem
Zweck dort aufgestellt war. Nachdem er saubere Kleidung angezogen
hatte, legte er sich aufs Bett.
Als Phoran vor ein paar Tagen das letzte Mal
vorbeigekommen
war, hatte Gerant ihm bereits Nachricht geschickt, er sei auf dem
Weg. Tier konnte es kaum erwarten: Die Meister würden nicht ewig
warten, während Tier ihnen die Kontrolle über die Sperlinge
entrang.
Er wachte zum Mittagessen auf und verbrachte den
Rest des Tages wie immer, saß im Nest und unterhielt sich mit den
Jungen. Am Abend spielte er für sie, überwiegend schlüpfrige
Soldatenlieder - aber er nahm auch andere in das Programm auf, in
denen es um den Ruhm des Kampfes und die Freude über die Rückkehr
nach Hause ging.
Beim Blick in die Gesichter der jungen Leute, die
seiner Musik lauschten, empfand er so etwas wie Triumph, denn die
meisten von ihnen würden zu guten Männern heranwachsen, wenn sie
nur die Gelegenheit erhielten. Männer, die ihrem Kaiser dienen
würden, einem Jungen, der erste Anzeichen an den Tag legte, einmal
zu der Art von Herrscher zu werden, auf die ein Mann stolz sein
konnte: klug und tückisch und mit einer Neigung zur Freundlichkeit,
die er angestrengt zu verbergen suchte.
Als er am Abend zu seinem Zimmer zurückkehren
wollte, hakte sich Myrceria lächelnd bei ihm unter und begleitete
ihn.
Als sie sich in seinem Zimmer befanden, ließ sie
die Koketterie und seinen Arm fallen und setzte sich aufs Bett. Sie
strich zerstreut über die Bettdecke und sagte: »Ich schwöre, ich
wollte nicht mehr mit Euch reden. Ich habe hier lange überlebt -
und überwiegend, indem ich den Mund hielt. Wie könnt Ihr es wagen,
mehr von mir zu verlangen?« Das alles kam vollkommen ruhig heraus.
»Ich habe keine Macht über die Männer, die hier herrschen. Ich bin
nur eine Hure.«
Tier lehnte sich an die Wand dem Bett gegenüber und
tat sein Bestes, neutral zu wirken.
»Ich habe seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nicht
mehr gesehen, wie die Sonne unterging«, murmelte sie, beinahe, als
spräche sie zu sich selbst. »Manchmal frage ich mich, ob sie immer
noch auf- und untergeht.«
»Das tut sie«, sagte Tier. »Das tut sie.«
»Telleridge plant eine offizielle Disziplinierung.«
Sie legte die Hand flach auf die Decke und starrte sie an, als
hätte sie sie nie zuvor gesehen.
»Was ist eine offizielle Disziplinierung?«, fragte
Tier, dem dieser Ausdruck überhaupt nicht gefiel.
»Wenn ein Sperling einem Raubvogel nicht gehorcht,
halten sie eine Versammlung ab, um zu entscheiden, worin seine
Strafe bestehen wird. Dann wird der Betreffende im Nest bestraft,
und alle Sperlinge sind anwesend. Für gewöhnlich tun sie es einmal
im Jahr, nur zur Erinnerung.«
»Und wer wird diesmal diszipliniert?«, fragte Tier.
Er ging davon aus, dass sie ihn nicht auswählen würden, dazu waren
sie zu schlau. Sie brauchten keinen Märtyrer, sondern ein
Exempel.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Collarn«, sagte er. »Oder vielleicht Kissel oder
Toarsen. Aber wenn sie schlau sind, werden sie Collarn nehmen. Wenn
sie Toarsen wehtun, wird Kissel einschreiten. Wenn sie Kissel
schaden, wird Toarsen sich an seinen Bruder wenden - und Avar hat
genug Freunde, den Kaiser eingeschlossen, um dem Pfad ernsthaft
schaden zu können. Collarn hat außer mir keine engen Freunde, und
er ist die Art von Mensch, von der die Leute beinahe erwarten, dass
sie ein unangenehmes Schicksal trifft. Wenn es denn eintritt, wird
es die Sperlinge nicht sonderlich beunruhigen.«
»Das dachte ich ebenfalls«, sagte Myrceria leise.
»Ich mag Collarn. Er hat manchmal eine scharfe Zunge, aber er ist
immer höflich zu denen, die sich nicht verteidigen können.«
Tier hörte den Kummer in ihrer Stimme. »Es geht um
mehr als um Prügel«, sagte er.
»Alle Jungen werden gezwungen, an der
Disziplinierung teilzunehmen - und die Strafe kann in allem
Möglichen bestehen«, sagte sie. »Telleridge ist sehr kreativ.
Auspeitschen ist das Übliche, aber es gibt noch Schlimmeres. Einen
Jungen zwangen sie, Wasser zu trinken … er verlor das Bewusstsein,
und ich glaube, er starb. Sie gossen ihm Wasser aufs Gesicht,
während er würgte und spuckte. Und als er aufhörte, gossen sie
immer weiter.«
»Könnt Ihr dafür sorgen, dass ich es erfahre, bevor
es geschieht?«, fragte er.
Sie sah ihn immer noch nicht an, aber sie nickte.
»Wenn ich es im Voraus höre. Das ist nicht immer der Fall.«
»Könnt Ihr Collarn warnen?« Wenn das möglich wäre
…
»Morgen«, sagte sie. »Ich werde es selbst tun
müssen - eine solche Nachricht kann ich keinem der Mädchen
anvertrauen. Und ich darf die Räume des Pfads ebenso wenig
verlassen wie Ihr. Morgen sollte früh genug sein.« Sie sprach die
Worte schnell aus, als könnte sie sie dadurch wahr machen. »Sie
brauchen wahrscheinlich einen oder zwei Tage, um alle zu
benachrichtigen.«
»Ja«, sagte er. »Sagt ihm, er soll einen Grund
finden, die Stadt für eine Woche zu verlassen.«
Sie nickte und wollte aufstehen, aber dann setzte
sie sich wieder hin und schlang die Arme um ihre Taille. »Würdet
Ihr etwas für mich spielen? Etwas Fröhliches, damit ich schlafen
kann?«
Er war müde, aber sie war ebenso erschöpft, und er
hätte ohnehin nicht gleich einschlafen können - nicht mit dem
Wissen, dass die Meister einen seiner Jungen für das bestrafen
wollten, was Tier getan hatte.
»Ich werde so schnell noch nicht schlafen«, sagte
er. »Musik wäre nett.«
Er setzte sich aufs andere Ende des Betts und
begann, die
Laute neu zu stimmen. Er war gerade damit fertig geworden, die
zweite Reihe Saiten in Gleichklang mit der ersten zu bringen, als
die Tür aufgerissen wurde.
Tier hatte sich daran gewöhnt, dass diejenigen, die
ihn gefangen genommen hatten, respektvoll anklopften - sogar Phoran
klopfte, und es war ohnehin zu früh für einen Besuch des Kaisers.
Er setzte also zu einer Beschwerde an, aber dann hielt er
vollkommen verblüfft inne, als Lehr den Raum betrat, Tiers eigenes
Schwert in der Hand.
Freude erhellte Lehrs Gesicht, dann verschwand
dieser Ausdruck wieder ein wenig, als er an Tier vorbeischaute und
Myrceria sah. Er bewegte sich, um den Blick durch die Tür zu
blockieren - vielleicht, dachte Tier mit einer Spur von Heiterkeit,
die sich über seine Verblüffung hinwegsetzte, um seinem Vater zu
erlauben, eine weniger kompromittierende Position einzunehmen.
Glaubte Lehr wirklich, sein Vater hätte sich eine Geliebte
genommen?
Aber dann wurde die Tür schon weiter aufgerissen,
und Jes machte zwei Schritte in den Raum. Die angenehme
Raumtemperatur sackte ab, bis Tier seinen Atem sehen konnte, und
Myrceria stieß einen leisen Schrei aus.
Tier stand nur langsam auf, denn es war keine gute
Idee, sich schnell zu bewegen, wenn Jes sich in dieser Verfassung
befand, und breitete die Arme aus. Jes sah sich um. Aber er kam
offenbar zu dem Schluss, dass Myrceria ungefährlich war, denn er
machte zwei weitere Schritte und umarmte Tier.
»Papa«, flüsterte er, und der Raum wurde wieder
wärmer. »O Papa, wir dachten schon, wir würden dich nie
finden.«
»Aber wir wussten, dass wir es schaffen würden.«
Das war die Stimme einer Frau, tief, klar und so sehr geliebt. Sie
erfüllte den Raum wie der Klang eines Cellos. Tier schaute über
Jes’ Schulter und sah, dass Seraph hereinkam. »Seit Hennea
uns gesagt hat, dass man ihn lebendig gefangen nahm. Geht es dir
gut?«
Seraph sah so sehr nach dem Kaiserinnenkind aus,
das er vor zwanzig Jahren kennengelernt hatte, dass er lächeln
musste. Eine Eisprinzessin, hatte seine Schwester sie verächtlich
genannt. Alinath war selbst ehrlich und offen, und sie hatte nie
erkannt, dass Seraphs kühle Fassade alle möglichen Gefühle
verbergen konnte, die sie einfach nicht mit ihrer Schwägerin oder
anderen teilen wollte.
»Es geht mir gut«, sagte Tier, und da sie sich
nicht sofort in seine Arme stürzte, sprach er weiter, »und ich bin
viel glücklicher als noch vor fünf Minuten. Lehr, komm her.«
Lehr war in den Monaten, seit Tier ihn nicht
gesehen hatte, gewachsen, dachte der Barde und umarmte seinen Sohn
fest. Jes war ebenfalls größer geworden und überragte seinen Vater
nun ein wenig.
»Du hast uns gefehlt«, sagte Lehr und erwiderte die
Umarmung.
»Ihr mir auch.« Er hielt ihn noch einen Moment
fest.
»Lehr hat ein paar Leute getötet«, sagte Jes. »Er
hat Mutter gerettet.«
Lehr erstarrte in seinen Armen, aber Tier umarmte
ihn einfach noch fester. »Es tut mir so leid, Sohn«, sagte er.
»Einen anderen Menschen getötet zu haben ist nichts, was du gut mit
dir herumtragen kannst.«
Als er schließlich zurücktrat, sah er Seraph an,
die an der offenen Tür stehen geblieben war. »Ist Rinnie auch da
draußen?«
Wie immer beantwortete sie die Frage, die er
wirklich gestellt hatte. »Sie ist bei deiner Schwester in
Sicherheit. Es sieht so aus, als wäre Frost das einzige Opfer
dieser Sache gewesen - aber wir haben uns bis jetzt große Sorgen
gemacht.«
»Sie haben Frost getötet?«
Sie nickte. »Damit es so aussah, als wäret ihr
beide auf einen besudelten Ort gestoßen. Wir hätten es vielleicht
geglaubt, wenn meine Base uns nicht eines Besseren belehrt
hätte.«
Sie hatte Myrceria noch nicht angesehen. Tier
wusste, dass sie keine Verwandten hatte. Sie musste einer anderen
Reisenden begegnet sein.
»Es ist hier nicht sicher für deine Verwandten«,
warnte er.
Sie lächelte wie ein Wolf, der Beute wittert. »Oh,
das wissen sie«, antwortete sie. »Ich hoffe nur, diese Solsenti vom Geheimen Pfad versuchen ein paar von
ihren Tricks.« Sie versah die Worte »Geheimer Pfad« mit einer
Betonung, die sie kindisch und dumm klingen ließ, was die
Geheimorganisation selbstverständlich auch war.
»Du weißt vom Geheimen Pfad?«, fragte er.
»Wir wissen vom Geheimen Pfad«, erwiderte Lehr.
»Sie bringen Reisende um und stehlen ihre Weisungen.«
»Wie bitte?«, fragte Tier und sah Seraph an.
Sie nickte. »Sie nehmen sie dem sterbenden
Reisenden ab und stecken sie in Steine, die sie in Schmuck tragen,
damit sie sie benutzen können.«
»Wie hast du so viel herausfinden können?«, fragte
er.
»Hennea hat es uns gesagt«, warf Jes hilfreich
ein.
»Meine Base«, fügte Seraph hinzu.
»Sie müssen jemanden in Redern haben, der unsere
ganze Familie beobachtet hat«, sagte Tier.
»Jetzt nicht mehr«, sagte seine Frau kühl.
»Mutter hat ihn umgebracht.« Jes hatte sich auf
einen kleinen Tisch gesetzt und spielte mit der Vase, die zuvor
darauf gestanden hatte.
Tier warf einen Blick zu Myrceria. »Ich sagte Euch
doch, es würde ihnen leidtun, wenn sie sich je mit meiner Frau
anlegten. Myrceria, ich möchte Euch meine Familie vorstellen. Meine
Frau Seraph, mein ältester Sohn Jes und mein jüngerer
Sohn Lehr. Seraph, Jes, Lehr, das hier ist Myrceria, die geholfen
hat, meine Gefangenschaft erträglich zu machen.«
Jes nickte auf die schüchterne Art, die er Fremden
gegenüber immer an den Tag legte. Lehr verbeugte sich steif, und
Seraph drehte sich auf dem Absatz um und ging nach draußen.
Lehrs Lächeln verschwand, also nahm sich Tier einen
Moment, um es ihm zu erklären. »Sie kennt mich zu gut, um zu
glauben, dass ich nach all diesen Jahren eine Mätresse genommen
habe - und das sollte dir eigentlich genauso gehen. Myrceria ist,
um es höflich auszudrücken, eine Verbündete. Ich brauche einen
Moment allein mit eurer Mutter.«
Er folgte Seraph und schloss die Tür leise hinter
sich. Seraph betrachtete die Steinmauer des Flurs, als hätte sie
noch nie gemauerten Stein gesehen. Sie waren hier vermutlich in
Sicherheit, dachte er. Jeder, der diesen Flur entlangkam, würde auf
dem Weg zu ihm sein - und um diese Tageszeit besuchten ihn
bestenfalls Sperlinge. Sie hatten Zeit, also wartete er, dass sie
ihm zeigte, was sie von ihm brauchte.
»In diesen Steinen liegt Todesmagie«, sagte sie.
Sie klang nicht, als ob sie das störte.
»Sie haben schon lange Zeit Menschen umgebracht«,
sagte er. »In Redern sollte inzwischen ein Bote eingetroffen sein,
der dir sagt, dass ich noch am Leben bin.«
»Ich hoffe, jemand bringt den Boten zu Alinath«,
erwiderte Seraph, ohne den Blick von der Wand abzuwenden. Sie legte
die Hand dagegen und sagte: »Wir konnten sie überzeugen, dass man
dich lebendig gefangen genommen hat, aber sie wird wissen wollen,
ob du immer noch lebst.«
Dann stieß sie sich von der Wand ab. Als sie sich
umdrehte, dachte er, sie werde ihn endlich ansehen, aber sie senkte
den Blick.
»Wir müssen dich hier herausholen«, sagte sie
leise. »Dieser Palast ist ein einziger Irrgarten, aber Lehr hat
dich gefunden,
was der schwierigste Teil war. Er wird uns auch wieder
hinausführen können.«
»Ich kann nicht gehen, Seraph«, sagte er.
Sie riss den Kopf hoch.
»Es gibt hier einen Jungen in Jes’ Alter, dem man
meinetwegen wehtun wird, wenn ich es nicht aufhalten kann - und sie
haben mich ohnehin mit einem Bann belegt, damit ich nicht gehen
kann, wohin ich will.«
Sie streckte die Hand aus, um ihn zum ersten Mal zu
berühren, seit sie in seiner Tür erschienen war. Sie nahm seine
Hände und drehte sie um, um sich die Handgelenke anzusehen.
»Ich kann diesen Bann brechen«, erklärte sie kurz
darauf. »Aber das wird Zeit brauchen, und es wird uns nicht helfen,
solange dein junger Freund in Gefahr ist und du ohnehin nicht gehen
willst.«
Er drehte die Hände, bis er ihre packen konnte.
»Seraph«, sagte er. »Jetzt ist alles gut.«
Ihre Hände zitterten, aber er konnte nur ihren
Oberkopf sehen. »Ich dachte, du wärest tot«, sagte sie.
Sie blickte auf, und die Kaiserin war verschwunden,
verloren in einem von Gefühlen gezeichneten Gesicht. Unerwartet
spürte er, wie ihre Magie seine Handflächen streichelte.
»Ich kann das nicht noch einmal tun«, sagte sie.
»Ich kann niemanden mehr verlieren, den ich liebe.«
»Du liebst mich?« Er bewegte die Hände zu ihren
Schultern und zog sie an sich. Sie lehnte sich an ihn wie ein müdes
Kind.
Es war das erste Mal, dass sie das zu ihm gesagt
hatte, obwohl er wusste, dass sie ihn mit der gleichen Leidenschaft
liebte wie ihre Kinder. Sie war dazu ausgebildet worden, sich zu
beherrschen, und er wusste, dass ihr die Intensität ihrer Gefühle
unangenehm war. Weil er sie verstand, hatte er sie nie dazu
getrieben, ihm etwas zu sagen, das ihm ohnehin klar war.
Er wusste, es würde sie ärgern, aber er musste sie
einfach aufziehen. »Ich musste mich also von einem Haufen dummer
Zauberer entführen und durchs halbe Kaiserreich schleppen lassen,
um das zu hören? Wenn ich gewusst hätte, was es braucht, hätte ich
das schon vor zwanzig Jahren getan.«
»Das ist nicht komisch«, sagte sie und trat ihm bei
dem Versuch, sich zu entziehen, auf den Fuß.
»Nein, ist es nicht«, sagte er und zog sie näher an
sich. Die wilde Freude, sie im Arm zu halten, nachdem er halbwegs
sicher gewesen war, sie nie wiederzusehen, ließ ihn
unvorsichtigerweise weitersprechen. »Warum hast du mir also nicht
schon vorher gesagt, dass du mich liebst? Hattest du in zwanzig
Jahren nicht genug Zeit? Oder hast du es erst herausgefunden, als
du glaubtest, ich wäre tot?«
»Oh, ich hätte es dir gesagt - aber du hättest nur
das Gleiche erwidert«, meinte sie.
Das verstand er nicht, aber er begriff, dass sie an
der Situation wirklich nichts Erheiterndes fand. Er wollte sie
nicht kränken, also schob er die Freude über ihre Anwesenheit tief
ins Herz und versuchte zu verstehen, was sie so aufgeregt
hatte.
»Wenn du mir früher gesagt hättest, dass du mich
liebst«, sagte er vorsichtig, »hätte ich dir das Gleiche
gesagt.«
»Du hättest es nicht ernst gemeint«, sagte sie
entschlossen. »Hast du nicht die letzten zwanzig Jahre damit
verbracht, mich für die Heirat mit dir zu entschädigen, indem du
zum perfekten Ehemann und Vater wurdest?«
Das tat weh, also waren seine Worte ebenfalls eine
Ohrfeige. »Ich hätte ernst gemeint, was ich sagte.«
»Du hast eine Frau geheiratet, die du für ein Kind
hieltest, weil du glaubtest, dass du so verhindern konntest, die
Bäckerei von Alinath und Bandor übernehmen zu müssen. Du hast ein
schlechtes Gewissen.«
»Selbstverständlich hatte ich das«, stimmte er zu.
»Ich sagte ihnen, dass wir verheiratet wären, obwohl ich wusste,
dass du zu jung warst und deine Magie und dein Volk aufgeben
würdest. Ich wusste, dass du Angst hattest, dich den Reisenden
wieder anzuschließen und die Verantwortung für so viele Leben zu
übernehmen - aber ich wusste auch, dass du der Ansicht warst, zu
den Clans zu gehören, und habe dich trotzdem an meiner Seite
behalten.«
»Das tatest du, damit sie dich nicht wieder in die
Bäckerei zwangen«, sagte Seraph. »Und danach hast du dich schuldig
gefühlt. Wenn ich dir damals gesagt hätte, dass ich dich liebte,
hättest du behauptet, diese Liebe zu erwidern, weil du mir nicht
wehtun wolltest.«
Nun verstand Tier. Er zog sie wieder an sich und
lachte. Er wollte etwas sagen, aber er konnte kaum mit Lachen
aufhören. »Seraph«, brachte er schließlich heraus, »Seraph, ich
wäre niemals Bäcker geworden - selbst Alinath wusste das. Ich
wollte dich haben. Und ich war ausgesprochen froh, dass die
Umstände dich zwangen, dich mir zuzuwenden. Ich wusste damals noch
nicht, dass ich dich liebte - ich wusste nur, dass sie dich nicht
von mir trennen konnten.« Er trat zurück, damit er ihr ins Gesicht
sehen konnte. »Ich liebe dich, Seraph.«
Entzückt beobachtete er, wie ihr Tränen in die
Augen traten und über die Wangen liefen, dann küsste er sie.
»Ich hatte solche Angst«, sagte sie, als sie wieder
sprechen konnte. »Ich hatte solche Angst, wir würden zu spät sein.«
Sie schniefte. »Die Pest auf all das, Tier, meine Nase läuft. Ich
nehme nicht an, dass du etwas hast, womit ich sie putzen
kann?«
Er trat zurück, zog sein Hemd aus und reichte es
ihr.
»Tier!«, sagte sie tadelnd. »Das ist Seide!«
»Wir haben nicht dafür bezahlt. Los, putz dir die
Nase.«
Das tat sie. Er knäulte das Hemd zusammen und
wischte ihr die Wangen ab. Dann warf er es mit einem Ausdruck in
den Augen, der sie erstarren ließ, auf den Boden. Er legte die
Hände auf ihre Wangen und küsste sie leidenschaftlich.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als er sich
schließlich schwer atmend von ihr löste.
Er küsste sie auf den Kopf und zog sie fest an
sich. »Das weiß ich«, sagte er. »Ich habe es immer gewusst.
Glaubtest du, du könntest es verstecken, indem du es nicht
aussprachst? Ich liebe dich auch - glaubst du es mir jetzt?«
Seraph setzte zu einer Antwort an, aber dann fiel
ihr ein, dass er wissen würde, wenn sie log. Glaubte sie ihm
wirklich, wenn er sagte, dass er sie liebte?
Was immer er jetzt denken mochte, sie wusste, sie
hatte recht, was seine Beweggründe für die Heirat anging - er hatte
einen Grund gebraucht, um die Bäckerei zu verlassen, der ihm
gestattete, in der Nähe zu bleiben, damit er nicht glauben musste,
wieder vor seiner Familie davonzurennen. Aber das bedeutete nicht,
dass er sich nicht zu Seraph hingezogen fühlte. Es bedeutete nicht,
dass er nicht gelernt haben konnte, sie zu lieben.
Ja, sie glaubte ihm. Sie wollte es ihm sagen, aber
sie hatte zu lange gewartet.
»Für eine intelligente Frau«, sagte er gereizt,
»kannst du ausgesprochen dumm sein.« Er hob die Hände und ging von
ihr weg. »Also gut. Vielleicht würde ich einer Frau, die ich
geheiratet und der gegenüber ich ein schlechtes Gewissen habe,
sagen, dass ich sie liebe. Vielleicht würde ich ihr nicht wehtun
wollen. Da könntest du recht haben. Aber warum behauptest du immer
noch, ich könnte dich nicht lieben, selbst wenn ich Schuldgefühle
habe, dich so jung geheiratet zu haben? Ist es denn so unmöglich,
dass ich dich schon begehrt habe, seit ich
dich auf der Treppe dieses Gasthauses stehen sah, wo du dich gegen
ein ganzes Dorf voller erwachsener Männer verteidigtest, die gerade
deinen Bruder umgebracht hatten?«
Sie versuchte, ihr Lächeln zu verbergen, aber er
bemerkte es, und es machte ihn nur noch wütender.
Also tat er, was er immer tat, wenn sie sich an der
freundlichen und liebenswürdigen Art vorbeigedrängt hatte, die er
dem Rest der Welt zeigte. Er zog sie wieder an sich und küsste sie
noch einmal. Hitzig und leidenschaftlich bewegte er seine Lippen
auf ihren und zwang seine Zunge in ihren Mund, bevor sie noch
reagiert hatte. Der Stein der Flurwand war kalt an ihren Schultern,
als er die Hüften fest gegen sie drückte und recht bewundernswert
demonstrierte, dass zumindest seine Begierde sehr ehrlich war, was
immer mit dem Rest sein mochte.
»Also gut«, sagte sie leise und ein wenig atemlos,
als er ihre Lippen wieder freiließ. »Ich glaube dir, dass du mich
liebst. Unsere Söhne und diese arme Frau, die du bei ihnen gelassen
hast, glauben das inzwischen wahrscheinlich auch. Sollen wir
nachsehen?«
Er lachte. »Du hast mir so gefehlt, Seraph.«