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Zwei Wochen zuvor im
kaiserlichen Palast in Taela
»Meine Septs, Wir danken
Euch für die Geduld, mit der Ihr in den vergangenen Wochen an
dieser Verhandlung teilgenommen habt.« Die Stimme des Kaisers
hallte laut in dem riesigen Raum wider, in dem sich die meisten
Septs des Reiches versammelt hatten.
Phoran hatte diesen Augenblick in seinen eigenen
Gemächern geprobt. Er hatte mit seinen engsten Beratern ausführlich
besprochen, wie er vorgehen sollte, und sich dann für die
Möglichkeit entschieden, die ihm am erfolgversprechendsten
vorkam.
»Wir haben Unsere eigene Macht eingesetzt, um all
den jungen Männern, die zuvor als Sperlinge des Pfads bekannt
waren, Verzeihung zu gewähren. Zunächst wegen ihrer Verteidigung
Unserer eigenen Person, und zweitens, damit Wir sie als Augenzeugen
einsetzen konnten, um dem Geheimen Pfad ein Ende zu machen, einem
Geheimbund, der versucht hat, das Kaiserreich von innen heraus zu
zerstören.«
Er hielt inne, um den Septs Gelegenheit zu geben,
sich im Flüsterton mit ihren Beratern und Kollegen zu unterhalten.
Mehrere Sperlinge waren Söhne von Septs, überwiegend dritte oder
vierte Söhne, die ihren Familien nichts als Ärger gemacht hatten,
und daher waren einige anwesende Väter zweifellos froh, dass Phoran
es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diese Missetäter in nützliche
Männer zu verwandeln.
Er hatte jedem jungen Mann einen Platz in der neu
eingerichteten Kaisergarde angeboten, seiner persönlichen
Leibwache. Die meisten hatten angenommen. Phoran war noch nicht
sicher, ob es sich dabei um eine gute Sache handelte oder nicht -
immerhin waren diese jungen Leute vom Pfad als die amoralischsten
und am leichtesten zu verderbenden jungen Adligen ihrer Generation
ausgewählt worden.
»Ihr habt die Aussagen dieser Männer gehört, die
nun Uns dienen, und auch die von Avar, dem Sept von Leheigh,
Unserem treuen Berater. Darüber hinaus haben Wir Euch mitgeteilt,
was Wir selbst beobachten konnten.«
Phoran genoss es insgeheim, von sich im Pluralis
Majestatis zu sprechen. Es war vollkommen absurd und lieferte ihm
gleichzeitig eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit, alle daran zu
erinnern, dass er - für wie ungeeignet sie ihn auch halten mochten
- der Kaiser war. Beiläufig warf er einen Blick zu den Septs, die
den größten Teil der Woche hier auf ihren Stühlen gesessen und sich
darauf gefreut hatten, dass diese Sache endlich ein Ende fände.
Selbstverständlich glaubten sie nur zu
wissen, was nun geschehen würde.
»Diese Aussagen«, fuhr Phoran fort, »wurden
gemacht, um geheime Dinge ans Licht zu bringen, damit sie dort
ausbleichen und sterben, ohne weiterhin eine Gefahr darzustellen.
Und vor allem wurden sie abgegeben, damit Ihr Euch ein Bild machen
konntet.« Er wusste, jetzt warteten sie auf sein Urteil - würde er
die Angeklagten für schuldig oder unschuldig befinden?
Phoran kannte sich inzwischen mit öffentlichen
Auftritten noch besser aus, aber den meisten Männern, die dort auf
ihren erhöhten Sitzplätzen warteten, war nicht aufgefallen, dass er
auch zuvor schon seine angeblich betrunkenen Gelage inszeniert und
die Teilnehmer zu seinem eigenen übersättigten Vergnügen
manipuliert hatte.
»Diese Personen, Unser Feind, werden von Uns selbst
verurteilt werden.« Er ließ den Septs keine Gelegenheit, in
Gemurmel auszubrechen, sondern warf einen Blick auf das Pergament
auf seinem Lesepult und begann, die lange Liste von Namen laut
vorzulesen: überwiegend Kaufleute, Wachen, Generäle und geringere
Adlige, aber auch einige kaiserliche Bedienstete. »Wir befinden all
diese Männer des Mordes und der Verschwörung zum Mord schuldig …«,
und dann folgten noch ein Dutzend geringfügiger Anklagen, die er
ebenfalls mit bedächtiger Präzision rezitierte.
»Sie werden zum Tod durch den Strang verurteilt.
Das Urteil soll vom heutigen Tag an auf dem Marktplatz vollzogen
werden, jeden Tag fünf Personen, bis alle tot sind.«
Das hätte er auch den Septs überlassen können. Dann
würden all diese Tode auf ihren Schultern lasten und nicht auf
seinen. Er bezweifelte nicht, dass die Septs jeden dieser Männer
für schuldig befunden hätten.
»Aber das sind nicht die Einzigen, die Wir
anklagen.« Die nächste Gruppe wäre zweifellos der Gerechtigkeit
entgangen, wäre sie vom Rat der Septs abhängig gewesen. »Bringt die
angeklagten Septs herein.«
Während der Verhandlung hatte er beweisen können,
dass zumindest ein Kaiser - Phorans eigener
Vater - ermordet worden war. Wenn er dem Rat erlaubte, die
Verantwortlichen freizulassen, würde das einen Präzedenzfall
schaffen, den er unbedingt vermeiden wollte.
Er legte das Pergament wieder aufs Pult und
wartete, während seine Garde die dreizehn Septs hereinbrachte, die
er hatte vor Gericht stellen können. Es gab noch andere, die
ebenfalls hierhergehörten, schuldige Männer, die aber zu mächtig
waren für die Beweise, die er gegen sie vorbringen konnte. Phoran
achtete genau darauf, diese Männer jetzt nicht anzusehen - vor
allem nicht Gorrish, den Ratsvorsitzenden.
Die Septs wurden hereingeführt, alle geknebelt und
mit auf den Rücken gefesselten Händen. Jeder wurde von jeweils zwei
jungen Männern in Grün und Grau eskortiert, den Farben von Phorans
eigener Sept, die rasch wiedererweckt worden waren, um eine Uniform
für die Kaisergarde zu schaffen, komplett mit Stickerei eines
goldfarbenen fliegenden Singvogels an der linken Schulter.
Phoran nahm an, dass die Knebel der Gefangenen das
heftigste Gemurmel unter den Septs auslösten. Er sah auch, dass
Gorrish nicht zu denen gehörte, die etwas sagten. Man glaubte
allgemein, ein Sept sei zu ehrenhaft, um ihm Fesseln anlegen zu
müssen. Die gefesselten Hände hätten noch damit entschuldigt werden
können, dass es praktischer war, aber die Knebel stellten für viele
eindeutig eine Beleidigung dar. Dabei war es Phoran überhaupt nicht
darum gegangen, sie zu beleidigen, aber diese Männer würden
schweigen müssen, damit er seine Aufgabe vollenden konnte.
Die Gardisten des Kaisers führten ihre Gefangenen
mitten in den Raum, wo sie den Reihen ihrer Kollegen
gegenüberstanden. Sobald sie dort angelangt waren, verließ Phoran
sein Podium und ging auf die Angeklagten zu.
Das Gemurmel wurde leiser, als die Angehörigen des
Rates gespannt warteten, was Phoran vorhatte.
»Der Sept von Jenne«, sagte Phoran, stellte sich
vor den Angeklagten und sah ihm in die Augen, bevor er zum nächsten
ging. »Der Sept von Siegelburg.« Es waren insgesamt dreizehn. »Der
Sept von Vertess.« Einige waren alte Männer - Männer, die Phorans
Vater besser gekannt hatten als er. Sie hatten ihn gekannt und
dafür gesorgt, dass er umgebracht wurde, wie sie auch den Onkel
hatten umbringen lassen, der Phoran aufgezogen hatte. Andere waren
junge Männer, die seinen Wein getrunken und sein Essen verzehrt und
ihn für einen fetten Trottel gehalten hatten - was er ja auch
gewesen war.
Er nannte einen nach dem anderen beim Namen.
Phoran wusste, heute würde er für die Jahre zahlen
müssen, in denen er sich gestattet hatte, zu einem fetten Kapaun zu
werden. Er hoffte, dass seine Sünden ihn am Ende ein bisschen
weniger kosten würden als diese Männer die ihren.
»Eure Hände sind gefesselt«, sagte er, »weil Ihr
heute machtlos vor Uns steht. Eure Zungen wurden zum Schweigen
gebracht, weil Ihr zuvor bereits Gelegenheit hattet, Euch zu
verteidigen, und Wir Euch nicht länger anhören werden.«
Er wandte sich dem Rest seiner Septs zu. »Wir
befinden diese Männer, die alle Septs sind, des Mordes und des
Verrats für schuldig. Wir halten ihr Verbrechen für schrecklicher
als die Untaten geringerer Männer, weil ihr Verrat so viel größer
war. Wir sind der Ansicht, ihre Verbrechen verlangen, dass das Erbe
ihrer Septs Uns zufällt, damit wir es verwenden können, wie es Uns
angemessen erscheint.«
Das rief bei seinem Publikum Unruhe hervor. Oh, es
hatte schon mehrere Kaiser gegeben, die sich in
Erbschaftsangelegenheiten eingemischt hatten - aber nicht in den
letzten beiden Jahrhunderten, nicht einmal bei Verrat. Tatsächlich
plante Phoran, den meisten Erben zu erlauben, ihre Sept zu
behalten, aber darum ging es nicht. Er wollte diese Adligen an die
Macht des Kaisers erinnern und die Erinnerung an den Narren
wegwischen, für den sie ihn gehalten hatten. Er musste ihnen auf
brutalste Weise klarmachen, dass ihre Macht von ihm kam und nicht
andersherum.
»Für ihre Verbrechen werden diese ehemaligen Septs
zum Tode verurteilt.«
Am Boden des Ratssaals befand sich ein Steinsockel,
auf dem die Statue eines sich aufbäumenden Hengstes stand - das
Symbol des Kaiserreichs. Wahrscheinlich hatten die meisten Septs
vergessen, dass der Steinsockel einmal etwas anderes gewesen war
als der Unterbau einer Statue.
Er streckte die Hand aus, und Toarsen, Erster
Hauptmann der Kaisergarde und ehemaliger Sperling, entfernte sich
aus seiner Ehrenwachenposition. In den behandschuhten Händen hielt
er auf Brusthöhe ein ziemlich großes Schwert, das er zuvor
unauffällig neben dem Podium des Kaisers abgestellt hatte.
Es war nicht Phorans eigenes Schwert. Sie waren in
die Waffenkammer gegangen und hatten sich Dutzende von Waffen
angesehen, bis sie etwas Passendes finden konnten.
Phoran nahm das Schwert von Toarsen entgegen und
hob es hoch: beinahe fünf Fuß frisch geschliffener Stahl, die von
einem großartigen, hervorragend gearbeiteten zweihändigen Griff
ausgingen. Es war eine Ehrfurcht gebietende Waffe, wenn auch
nichts, was er in einem Kampf gegen leichtere, schnellere Klingen
ins Feld führen würde.
Phoran ließ sie lange Zeit hinsehen. Ein paar Septs
runzelten die Stirn oder setzten sich gerade hin, aber die meisten
wirkten gelangweilt. Sie warteten auf eine Fortsetzung der
Ansprache, das wusste er. So etwas geschah häufig, selbst wenn das
Schwert ein wenig extremer sein mochte als die üblichen
Requisiten.
»Wir haben keine Liste aller Tode, für die diese
Männer verantwortlich sind - obwohl sich Unser Vater und Unser
Onkel zweifellos darunter befinden: Kaiser und Regent eines
Kaisers. Also nennen Wir Euch stattdessen die Namen jener, die
gestorben sind, als sie für Unser Leben kämpften.« Diese Namen
hatte er schon lange auswendig gewusst, bevor er beschlossen hatte,
sie hier zu nutzen. Ein Mann, dachte er, sollte die Namen der
Menschen kennen, die für ihn gestorben waren. Er nannte die Namen
von fünfzehn Sperlingen. Dann folgten die von zehn Männern, die
Avar, dem Sept von Leheigh, gedient hatten, der zu Phorans Rettung
gekommen war. »Und aus dem Clan Rongiers, des Bibliothekars …« Er
nannte acht Namen, und die meisten Septs brauchten das Rezitieren
aller acht, bevor ihnen klar wurde, dass es sich tatsächlich um
Reisendennamen handelte.
Zwei seiner Berater, Gerant und Avar, die beide
ebenfalls Septs waren, hatten sich dafür ausgesprochen, diese Namen
wegzulassen. Es war seit Generationen die Politik des Rats gewesen,
die »Geißel« der Reisenden zu eliminieren. Aber diese Männer waren
ebenfalls für ihren Kaiser gestorben, und Phoran war zu dem Schluss
gekommen, dass ihre Namen gleichermaßen für die Schuld der
Angeklagten sprechen sollten.
»Der ersten Person, die an diesem Abend fiel, wird
dadurch allerdings noch keine Gerechtigkeit zuteil. Myrceria von
Telleridge, Tochter des ehemaligen Sept von Telleridge, starb bei
der Folter, die ihr der eigene Vater zufügte. Sie starb, um Unsere
Geheimnisse zu wahren, damit Wir dem Pfad ein Ende machen konnten.
Ich wünschte, Telleridge wäre hier, um sich für seine Verbrechen zu
verantworten, aber er starb an diesem Tag, und sein Tod war viel zu
leicht.«
Bei diesen Worten hoben zwei Gardisten, die für
diese Pflicht ausgewählt worden waren, die Statue des sich
aufbäumenden Pferdes von ihrem Ehrenplatz und zogen die bestickte
Decke darunter weg, um den kalten Granitsockel zu enthüllen.
Phoran nickte, und Jennes Wachen führten ihn zu dem
Stein. Sie rissen ihn von den Beinen und drückten seine Schultern
gegen den Granit, sodass sein Kopf über ein Ende hing, und sie
taten es deshalb so geschickt, weil sie die letzten drei Tage damit
verbracht hatten, diese Bewegungen an anderen Gardisten zu
üben.
Ein Sept, der des Verrats überführt worden war,
musste sein Blut im Ratssaal vergießen. Es war Tradition, dass der
Kaiser einem solchen Mann eine Schnittwunde an der Hand zufügte und
das Blut fließen ließ. Danach wurde der Schuldige enthauptet, für
gewöhnlich am selben Tag, in einem Innenhof
des Palastes, der für solche Dinge vorbehalten war. Aber es gab
auch Ausnahmen von dieser Tradition.
Phoran hob das alte Schwert mit beiden Händen hoch
über den Kopf. Das Leder am Griff verhinderte, dass seine
verschwitzten Handflächen rutschten, als er die Waffe herunterriss,
eine Klinge, die eher zum Hacken als zum Zustoßen und Parieren
gedacht war, und damit Jennes Hals durchtrennte.
Das Ganze geschah so schnell, dass Jenne nach
Phorans Meinung wahrscheinlich nicht einmal begriff, was vor sich
ging.
Jemand stieß einen Schrei aus - einen Schrei des
Entsetzens, dachte Phoran, nicht der Betroffenheit. Als er wieder
den Rat der Septs anschaute, sah er, dass sie ihm endlich ihre ganze Aufmerksamkeit zugewandt
hatten.
In der folgenden Stille ließ Phoran sie das dunkle
Schwert mit den Blutflecken in Ruhe betrachten; sollte sich dieser
Anblick doch in ihre Herzen einbrennen und das Bild des
Schwächlings, für den sie ihn gehalten hatten, überlagern.
Er achtete darauf, dass seine Miene ungerührt
blieb. Es half ein wenig, dass Jenne nicht der erste Mann war, den
er getötet hatte. Ganz gleich, wie sehr es sich
danach anfühlte, erinnerte er sich angestrengt, das hier war kein Mord.
Die Gardisten zogen die Überreste ihres ehemaligen
Gefangenen zur Seite und deckten grobes, dunkles Sackleinen über
die Leiche - für die Verurteilten gab es keine guten Stoffe mehr.
Als der blutige Stein wieder leer war, nickte Phoran dem nächsten
Paar zu.
Nach den ersten drei Enthauptungen stellte er fest,
dass es ihm jetzt leichter fiel, sich nicht zu übergeben. Er
lernte, wie er das Schwert schwingen musste, damit das Gewicht der
Waffe den größten Teil der Arbeit erledigte. Er musste nur ein
einziges Mal zweimal zuschlagen, als der Sept von Siegelburg ein
wenig zu heftig zappelte, dass seine Wachen ihn gut festhalten
konnten, und mit der Schulter in den Weg der herabsausenden Klinge
geriet.
Während Phoran wartete, dass eine Leiche weggezogen
wurde, brachte Toarsen ihm ein sauberes, feuchtes Tuch und wischte
Blut und Schweiß vom Gesicht des Kaisers, und auch das hatte Phoran
zuvor sorgfältig geplant.
Er wollte nicht, dass die Septs einen Wahnsinnigen
sahen, der von all dem Blut den Verstand verloren hatte - sie
sollten einen Kaiser sehen, der willens war zu töten, um sein Reich
zu schützen, einen Mann, dessen Macht sie fürchten sollten.
Endlich fiel auch der letzte Verurteilte.
»Im Namen Phorans des Kaisers erkläre ich das
Urteil für vollstreckt. Die Leichen sollen verbrannt und die Asche
in alle Himmelsrichtungen verstreut werden. Keiner dieser Männer
soll sich seinen Weg zu den Tischen der Götter ersingen. Ihre Namen
sollen vergessen werden.«
Phoran war sich nicht sicher, wer diese Worte
gesagt hatte. Er hätte es eigentlich selbst tun sollen - so hatte
er es vorher aufgeschrieben -, aber er war nicht mehr in der Lage
zu sprechen. Er wischte das Schwert an der Kleidung des letzten
Mannes ab, den er getötet hatte, dann gab er die schimmernde Klinge
wieder in Toarsens Obhut.
Er verließ den Raum ohne einen weiteren
Seitenblick. Kissel, der Zweite Hauptmann der Kaisergarde, und
Avar, der Sept von Leheigh, blieben als Ehrengarde dicht hinter
ihm.
Sobald Phoran im Flur war, beschleunigte er seinen
Schritt so sehr, wie es möglich war, ohne die Illusion kaiserlicher
Würde zu zerstören. Er war dankbar, dass keiner der Männer in
seiner Nähe etwas sagte.
Sobald er sich in seinen Privatgemächern befand,
packte er den Rand des Beckens, das er genau für diese Situation
bereitgestellt hatte, und übergab sich. Als er fertig war, wischte
er sich mit einem Tuch das Gesicht ab, dann lehnte er sich gegen
die nächstbeste Säule und ließ die Stirn an dem kühlen Stein
ruhen. Er wollte überall sein, nur nicht hier.
Avar reichte ihm einen Becher Wasser.
Phoran spülte sich den Mund aus und spuckte in das
Becken.
»Ihr hattet recht«, sagte Avar. »Ich habe mich
geirrt. Kein Mann, der heute in diesem Saal war, wird je vergessen,
was dort geschehen ist.«
Phoran hätte es nur zu gern vergessen, aber Avar
hatte wohl recht.
Dann klopfte es kurz an der Tür.
»Herein«, sagte Phoran, der das Klopfen
erkannte.
Der Sept von Gerant betrat den Raum, gefolgt von
Avars Bruder Toarsen. Toarsen hielt immer noch das Schwert, aber er
hatte es in eine Scheide gesteckt und lässig an seine Schulter
gelehnt. Es war vermutlich dumm, dachte Phoran, dass er von den
vier Menschen, denen er vollkommen vertraute, nur einen wirklich
gut kannte. Avar hatte es nicht gewusst, aber der Pfad hatte auch
ihn zu einem Werkzeug gemacht, um für einen schwachen Kaiser zu
sorgen. Er war zuerst Phorans Vorbild und dann sein Gefährte bei
vielen Gelagen gewesen. Der Sohn des Sept von Leheigh hatte jedoch
nie das gleiche Maß an Verkommenheit erreicht wie Phoran selbst.
Wie eine Goldmünze im Schlamm hatte der Freund des Kaisers etwas
Schimmerndes, Reines an sich, das nichts wirklich beflecken
konnte.
Bis vor einem Monat hatte Phoran Avars Bruder
Toarsen und Toarsens besten Freund Kissel nur gut genug gekannt, um
sie zu grüßen, wenn sie sich auf dem Flur begegneten. Beide jungen
Männer hatten einen schlechten Ruf - und nach dem, was der junge
Kaiser im vergangenen Monat erfahren hatte, war dieser Ruf
wahrscheinlich noch günstiger, als sie es verdienten.
Inzwischen wusste er jedoch, dass beide vollkommen
zuverlässig waren. Tieragan aus Redern hatte sie ihm zum Geschenk
gemacht - oder der Kaiser war ein Geschenk für die jungen Männer
gewesen, da war Phoran sich nicht ganz so sicher.
Der Sept von Gerant jedoch war eindeutig Tiers Gabe
an Phoran. Gerant war so selten nach Taela gekommen, dass Phoran
nicht sicher sein konnte, ob er dem Mann je zuvor begegnet war, bis
der Sept auf einen Ruf des Kaisers in die Hauptstadt geeilt war -
ein Ruf, den er auf Tiers Veranlassung hin ausgesandt hatte.
Vor Gerants Ankunft hatte Phoran ihn sich als einen
alternden Avar vorgestellt: groß, charismatisch und körperlich
beeindruckend - besonders, nachdem er einiges über die Siege
gelesen hatte, die der Sept vor zwanzig Jahren gegen die Fahlarn
errungen hatte. Aber Gerant war kein Riese, kein auffälliger
Held.
Er war eher kleiner als der Durchschnitt und sah
ein Dutzend Jahre jünger aus, als er tatsächlich war. Er kleidete
sich bescheiden und beobachtete mehr, als er sprach. Zuerst hatte
Phoran ihn für einen behäbigen Mann gehalten, der treu wie Gold
war, aber auch für einen Menschen, der sorgfältig nachdenken
musste, bevor er handelte. Und er hatte damit recht gehabt - nur,
dass Gerant schneller dachte als die meisten. Phorans Onkel hätte
Gerant gemocht, und der junge Kaiser konnte sich kein größeres
Kompliment denken.
»Das habt Ihr gut gemacht«, sagte der Sept
jetzt.
Phoran trank einen Schluck Wasser. »Gebt mir noch
ein Dutzend Jungfrauen, die ich vergewaltigen kann, und das
Theaterstück wird vollständig sein.«
»Er ist nie besonders guter Laune, wenn er gerade
sein Frühstück wieder losgeworden ist«, murmelte Avar.
»Gut, dass es nicht noch zwei oder drei mehr
waren«, fuhr Phoran fort. »Oder ich hätte angefangen, sie zu
erstechen, statt sie zu enthaupten. Vielleicht hätte ich ja eine
Axt nehmen sollen?«
Avar ging zu einem Krug und goss Bier in die fünf
Kelche, die daneben warteten. »Bier, meine Herren? Man kann nicht
mit ihm reden, wenn er in dieser Verfassung ist.«
»Es ist schwierig«, sagte Gerant. »Viel einfacher,
die Mistkerle umzubringen, wenn sie einem ein Schwert an die Kehle
halten, als es eiskalt zu tun, wenn sie winseln und zittern.«
»Ich hätte es für Euch erledigt«, meldete sich
Toarsen zu Wort. Faszinierenderweise hatten sich die gleichen Züge,
die Avar zu einem Ausbund an männlicher Schönheit machten, bei
Toarsen zum Gesicht eines vergnügten Saufkumpans zusammengesetzt -
wenn man ihm nicht in die Augen sah.
Hatte Toarsen schon Männer getötet, die gefesselt
waren und sich nicht hatten wehren können? Phoran fragte nicht; er
wollte die Antwort nicht wissen.
»Eine unangenehme Sache.« Kissel lockerte den
Kragen seiner Hauptmannsuniform und nahm einen Kelch entgehen. »Ich
töte sie auch lieber, wenn sie gerade versuchen, mich umzubringen«,
fuhr er fort, als wollte er Phorans unausgesprochene Frage
beantworten - obwohl schwer zu sagen war, wie ernst er es wirklich
meinte: Kissel konnte sehr ironisch sein.
Kissel war der zweite Sohn des Sept von Siegelburg.
Als Phoran ihm angeboten hatte, der Hinrichtung fernzubleiben,
hatte Kissel seinerseits vorgeschlagen, den Sept von Siegelburg
festzuhalten, während Phoran zuschlug - oder ihn selbst zu
enthaupten. Offenbar hatte er seinen Vater überhaupt nicht
gemocht.
Nun trank der hochgewachsene, kräftige Mann einen
großen Schluck und ließ sich auf seinem üblichen Sessel nieder.
Irgendwann in den vergangenen paar Wochen war Phorans Wohnzimmer
zum Schauplatz eines Kriegsrats geworden.
»Jetzt fürchten sie Euch, Phoran«, sagte Gerant.
»Aber sie haben auch mehr Respekt vor Euch.«
»Ich habe Gorrish beobachtet«, berichtete Toarsen.
»Ein kalter Fisch. Er hatte keine Angst, und er war von dem ganzen
Theater auch nicht beeindruckt. Wenn er ein Zauberer wäre, wäre
unser Kaiser inzwischen schon feierlich aufgebahrt.«
Avar nickte seinem Bruder zu. »Ich weiß. Ich habe
es auch gesehen. Wir werden etwas unternehmen müssen.«
»Wir müssen ihn ebenfalls umbringen«, stimmte
Gerant zu, suchte sich einen Hocker und setzte sich hin. Es gab
auch einen Sessel für ihn, aber zu Phorans Erheiterung wählte der
Sept lieber bescheidenere Möbel. »Es ist schade, dass es nicht
genug Beweise gegen ihn gab.«
Phoran grunzte säuerlich und tauschte den
Wasserbecher gegen einen Bierkelch. »Er war zu sehr damit
beschäftigt, für Telleridge den Rat zu führen, um sich oft unten
sehen zu lassen. Die Diener des Pfads wussten von ihm, aber ich
konnte sie nicht den Dingen aussetzen, die Dienstboten zustoßen,
die gegen ihre Herren aussagen.«
Er ging lässig zu seinem Sessel und ließ sich
fallen, ein Bein über eine Armlehne baumelnd. Diese Männer
beruhigten ihn und gaben ihm Gelegenheit, über etwas anderes
nachzudenken als über die Blutflecke auf seiner Kleidung.
»Das erinnert mich an etwas«, begann Gerant. »Ich
habe Tier versprochen, dass ich auf Euch aufpassen werde, aber Ihr
macht es mir verdammt schwer. Wenn Avar und Kissel nicht daran
gedacht hätten, Euch sofort zu folgen, wäret Ihr nach der
Hinrichtung alleine den Flur entlangstolziert. Ihr hättet warten
und die Hälfte der Garde mitnehmen sollen. Eure Vorstellung heute
hat Euch zum Ziel gemacht - nicht nur für die Angehörigen des
Pfads, die uns entkommen sind, sondern für jeden Sept oder
Kaufmann, dem es besser gefiel, als Ihr Euch ausschließlich mit
Herumhuren und Saufen abgegeben habt statt mit
Staatsangelegenheiten.«
»Ja, sie hatten zu lange einen Hurenbock zum
Kaiser«,
stimmte Phoran trocken zu. »Wir werden Zeit brauchen, um uns
umzugewöhnen. Ich werde versuchen, daran zu denken, immer Gardisten
mitzunehmen.«
»Kissel und ich haben aus der Garde ein paar
vertrauenswürdige Männer ausgesucht«, sagte Toarsen, und Phoran
hoffte, dass dem jungen Mann Avars Grimasse bei dieser Bemerkung
entgangen war. Er selbst hielt es ebenfalls für wahrscheinlich,
dass viele Gardisten sich als alles andere als vertrauenswürdig
erweisen würden. »Sie werden paarweise vor Euren Gemächern
stationiert werden, Tag und Nacht.«
Gerant rieb sich das Gesicht. Auch er kannte die
Kaisergarde. Er trainierte jeden Morgen mit den jungen Männern
(auch Phoran nahm daran teil), aber die abendlichen Übungen
überließ er den Hauptleuten. »Es gibt nicht ein Dutzend, dem ich
bereits vertrauen würde«, sagte er.
»Sie werden zwölf Stunden Wache stehen«, meinte
Toarsen. Phoran registrierte, dass er Gerants Einschätzung nicht
widersprach. »Jeweils zusammen mit Kissel oder mir.«
Gerant schüttelte den Kopf. »Die Schichten sind zu
lang. Und wenn Ihr nur einige wenige auswählt, sagt Ihr den
anderen, dass sie nicht gut genug sind. Bildet Paare - ein
vertrauenswürdiger Mann mit einem, der das nicht ist. Und richtet
Drei-Stunden-Schichten ein. Nach drei Stunden lässt jede Wache
nach.«
Einer der Vorteile, diese Männer um sich zu haben,
dachte Phoran, bestand darin, dass sie häufig das Debattieren
übernahmen, sodass er sich auf das wahre Problem einer Situation
konzentrieren konnte.
»Und sie sollen mich hier drin bewachen«,
verbesserte er.
Gerant zog eine Braue hoch.
»Es sind Adlige«, sagte Phoran mit einem dünnen
Lächeln. »Sie sind in adligen Haushalten aufgewachsen. Sie wissen,
welche Gabel sie zum Essen benutzen sollen - wahrscheinlich
besser als ich. Selbstverständlich taugen sie als Türwachen
nichts, denn sie sind auch keine. Sie sind keine Diener oder
Palastwachen. Sie sollen hereinkommen und mir Gesellschaft leisten,
und vor die Tür stellen wir Palastwachen. Wir können doch sicher
ein paar finden, die mich nicht erdolchen wollen, weil ich ihren
Hauptmann habe hängen lassen. Nehmt die, die er am häufigsten
disziplinieren ließ.«
Avar schnaubte. »Gute Idee: Nehmt die schlechtesten
aus der Palastwache, um für die Sicherheit des Kaisers zu
sorgen.«
»Das ist es«, sagte Gerant plötzlich. Phoran nahm
an, dass er eher ihm als Avar zustimmte. »Und das ist uns
entgangen. Die Kaisergarde muss etwas anderes sein als eine
Leibwächtertruppe oder eine Armee. Sie ist nicht geeignet für die
Art von Dienst, die man von einer Wache erwartet.«
»Ich komme selbst aus adligem Hause«, sagte
Toarsen. »Wenn mir jemand eine Uniform gäbe und erwartete, dass ich
mit dem Hintergrund verschwimme, solange keine Befehle gebrüllt
werden, gefiele mir das ganz und gar nicht.« Er grinste, und seine
Augen blitzten. »Wenn ich es recht bedenke, haben die Raubvögel
genau das getan, und man sieht ja, was es ihnen eingebracht
hat.«
»Das bedeutet nicht, die Disziplin schleifen zu
lassen«, sagte Phoran zu Avar, der über die Worte seines Bruders
nicht froh zu sein schien. »Ganz im Gegenteil, denke ich. Tier
sagte, es gibt keinen ehemaligen Sperling, der kein brauchbarer
Schwertkämpfer wäre. Aber wir werden noch weitere Experten
herbringen und sie im Kampf mit Messern und Stöcken unterrichten
lassen, in schmutzigen Tricks und allem, was uns sonst einfällt.
Tier war der Ansicht, diese jungen Männer müssten spüren, dass sie
etwas wert seien.« Er wusste, wie sich das anfühlte. Er kannte jene
jungen Männer, die nach einem Lebenszweck suchten; bis vor Kurzem
war er ebenfalls einer von ihnen gewesen.
»So werden sie denken, dass ihre Arbeit geschätzt
wird«, sagte Kissel. »Und dann werden sie zu loyalen
Kämpfern.«
Phoran schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nur
Theater - ich brauche sie wirklich, Kissel. Und genau das muss ich
ihnen zeigen. Sie werden die Palastwache nicht ersetzen können -
ich hoffe, dass es nicht notwendig wird, aber falls es wirklich
dazu kommen sollte, kann ich für die Wache auch anderswo Ersatz
finden. Ich brauche die Kaisergarde, damit diese Männer meine Augen
und Ohren sind, meine Hände und meine Füße.« Er fing an, sich für
die Idee zu erwärmen. »Erinnert Euch, wie viele Probleme die
Stadtwachen mit den reicheren Kaufleuten und geringeren Adligen
haben. Sollen sie sich in diesen Fällen doch an die Kaisergarde
wenden - Adlige, Männer von Rang, auf die man hört und die
allgemeinen Respekt genießen.«
»Adlige«, sagte Avar trocken, »die bis vor Kurzem
Vandalen und Diebe waren. Ich hoffe, nichts Schlimmeres. Und unter
denen Eure Hauptleute nur wie viel? … vierzehn verlässliche Männer
finden können?«
»Zehn«, sagte Kissel, »und dabei sind Toarsen und
ich bereits eingeschlossen.«
»Adlige, die einem Kaiser dienten, der ein
versoffener Versager war«, fügte Phoran hinzu. »Ich hoffe wirklich,
dass es ihnen ebenfalls möglich ist, sich zu verändern - und wenn
nicht, dann sollten sie wenigstens so tun, oder sie verärgern
Uns.«
Avar grinste. »Also gut. Aber Ihr müsst dafür
sorgen, dass immer wenigstens einer Eurer Leibwächter auf der
Vertrauensliste der Hauptleute steht.«
Gerant lachte leise. »Es wird funktionieren. Ich
denke, Phoran hat es genau getroffen. So etwas passiert, wenn Leute
zu viel mit Tier zu tun haben. Sie fangen an, Wunder zu erwarten -
und für gewöhnlich kriegen sie sie auch.«
»Bevor Ihr hergekommen seid«, sagte Kissel, »hattet
Ihr Tier seit dem Krieg gegen die Fahlarn nicht mehr gesehen. Folgt
Ihr immer dem Ruf von Gemeinen, die zwei Jahrzehnte zuvor unter
Eurem Kommando standen?«
Gerant lächelte und fuhr sich mit dem Finger über
den Schnurrbart. »Ich bin einem Ruf meines Kaisers gefolgt, Junge,
das solltet Ihr nicht verwechseln.«
Phoran prostete Gerant zu. »Und da heißt es, Ihr
wüsstet nicht, wie man Politik spielt.«
Gerant lachte erneut. »Falsch. Es heißt, dass ich
Politik nicht mag.« An Kissel gewandt, fuhr er fort: »Ich verstehe
allerdings, worauf Ihr hinauswollt. Tier und ich haben einander
seit dem Krieg nicht mehr gesehen, aber wir haben zwanzig Jahre
lang zwei oder drei Briefe im Jahr ausgetauscht, und …« Er
schüttelte den Kopf. »Ihr habt Tier ja kennengelernt. Ich würde
mich eher auf sein Urteil als auf mein eigenes verlassen - und das
habe ich auch schon getan. Und ich nehme an, selbst wenn ich nichts
von ihm gehört hätte, seit er Gerant verließ, würde ich immer noch
kommen, wenn er mich riefe.«
»Ihr habt es ebenfalls«, stellte Phoran fest.
»Dieses Etwas, das Leute dazu bringt, das zu tun, was Ihr ihnen
sagt. Ich weiß nicht genau, was es ist. Avar hat es hin und wieder,
aber Ihr und Tier tragt es so selbstverständlich wie ein
Kleidungsstück.«
Gerant deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Euch.
Ich musste daran arbeiten. Tier war schon so, als er noch eine
kleine Rotznase war, die doppelt so alte Männer anführte, erfahrene
Soldaten, von denen keiner sich hätte einfallen lassen, das zu
hinterfragen.«
Toarsen lachte. »Der Pfad wusste wirklich nicht,
was er tat, als sie ihn auf uns losließen, wie, Kissel? Ich denke,
sie erwarteten, wir würden ihn einschüchtern oder quälen, wie wir
es mit diesem armen Reisenden getan haben, der vor ihm da
war.
Stattdessen hat Tier uns in eine Waffe für den
Kaiser verwandelt.« Er nickte Phoran zu, der ihm seinen Kelch
entgegenhob.
»Seht zu, dass ihr ihm gut dient«, sagte
Avar.
»Da wir gerade vom Dienen reden«, wechselte Phoran
das Thema. »Ich brauche einen Erben.«
Avar grinste ihn an. »Habt Ihr eine bestimmte Dame
im Sinn?«
Phoran verdrehte die Augen. »Sei nicht dumm, Avar.
Jede Frau, mit der ich mich jetzt einlassen würde, würde mich
wahrscheinlich im Schlaf umbringen. Ein blutsverwandter Erbe wird
warten müssen, bis ich ein paar mehr Verbündete habe als nur die
Anwesenden. Außerdem würde ein Kind mir ohnehin nicht helfen
können. Zu verwundbar.«
Er trank noch einen Schluck und ließ die anderen
die Idee eine Weile durchdenken, dann sagte er: »Wenn ich einen
legalen Erben hätte, einen erwachsenen Erben, wäre der erste
Gedanke im Kopf meines Feindes nicht: ›Wenn Phoran doch nur vom
Pferd oder die Treppe hinunterfiele, dann müsste ich mir
seinetwegen keine Gedanken mehr machen.‹«
Avar verstand, aber Phoran sah, dass Kissel und
Toarsen immer noch nachdachten.
»Es ist nicht unbedingt, dass ich mit einem Erben
weniger verwundbar wäre«, erklärte er. »Es geht darum, dass sie von
einem Attentat viel weniger hätten - besonders, wenn mein Erbe
wahrscheinlich mehr Ärger machen würde als ich.«
»Das wird Euch gegen Gorrish oder jemand anderen,
der persönlich etwas gegen Euch hat, nichts nützen«, wandte Avar
ein. »Und wenn Ihr mir verzeiht, dass ich das sage, Ihr habt Euch
wirklich angestrengt, eine Menge Leute gegen Euch aufzubringen,
Phoran. Aber politische Feinde betrachten selten ein Attentat als
eine Lösung. Habt Ihr jemanden als Erben im Sinn?«
»Dich«, sagte er und hätte über Avars Gesicht laut
lachen können. Avar war nicht dumm, aber manchmal musste man
ihn an den Schultern packen und zum Hinsehen zwingen, bevor er den
wilden Eber, der ihn angriff, wirklich bemerkte. »Komm schon, wer
denn sonst? Deine Mutter und meine waren Basen oder so - deshalb
ist dein Vater auch Regent geworden, als mein Onkel starb. Du bist
der engste Verwandte, den ich habe - du und Toarsen.«
»Ich will aber nicht Phoran der Siebenundzwanzigste
werden«, antwortete Avar todernst.
»Dann lass es eben.« Phoran lehnte sich zurück und
trank einen letzten Schluck Bier. »Folge meiner Tradition und
schließe den ersten Phoran bei der Zählung ein. Du kannst
stattdessen Phoran der Achtundzwanzigste werden. Oder da ich
sowieso tot sein werde, wenn du erbst, von mir aus auch Avar der
Erste.«
»Das meinte ich damit nicht«, sagte Avar gereizt.
»Und das wisst Ihr auch genau. Ich will Eure Position nicht
einnehmen.«
»Nein«, erwiderte Phoran. »Und das ist der beste
Grund für mich, dich zum Erben zu machen. Komm schon, es ist alles
in Ordnung. Du wirst hoffentlich von dem Kind der armen Frau, die
man mich irgendwann zu heiraten zwingt, ersetzt werden. Aber bis
dahin brauche ich einen Erben, und der bist du.«
Avar reckte störrisch das wohlgeformte Kinn. »Das
bin ich nicht, und Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.«
Toarsen grinste und prostete Phoran zu. »Heute
erlebe ich zum ersten Mal, dass er sich wie ein verwöhntes Gör
benimmt. Ich danke Euch für diese Erfahrung - es ist schwer, mit
einem so vollkommenen großen Bruder aufzuwachsen.«
»Komm schon, Avar«, schmeichelte Phoran. »Das
Gewicht des Kaiserreichs ist schwer, siebenundzwanzig Kaiser tief.
Seit dem ersten Phoran haben Wir unser Volk geschützt und ihm
gedient. Wessen starkem rechtem Arm soll ich denn sonst trauen, um
für die Sicherheit des Kaiserreichs zu sorgen?«
»Gerant«, sagte Avar.
Der Sept schüttelte den Kopf, und Phoran sagte
gleichzeitig: »Gerant ist kein Verwandter von mir, selbst wenn man
zehn Generationen zurückgeht. Der Rat könnte die Einsetzung eines
solchen Nachfolgers verwerfen, noch bevor sie angekündigt
würde.«
»Kommt schon, Avar«, drängte nun auch Gerant sanft.
»Es ist die Pflicht eines jeden Mannes, seinem Kaiser und dem Reich
so gut zu dienen, wie er kann.«
»Also gut«, murmelte Avar, aber er klang alles
andere als froh.
Phoran kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, die
Sache gleich zu erledigen, bevor er sich noch einmal mit Avar
streiten musste, also stand er auf. »Kommt alle mit und lasst uns
sehen, ob mein Schreiber die Papiere schon aufgesetzt hat. Wir
werden Zeugen brauchen.«
»Ihr habt sie bereits aufsetzen lassen?«
Phoran grinste Avar an. »Ich kenne dich doch, mein
Freund. Du bist nie einer Pflicht aus dem Weg gegangen.«
Phoran hatte einen neuen Schreiber. Der letzte,
dessen Pflichten erheblich einfacher gewesen waren als die Aufgaben
des Schreibers eines richtigen Kaisers, hatte sich dem Pfad
angeschlossen und gehörte zu den Herren, die irgendwann in der
nächsten Woche auf dem Marktplatz gehängt werden würden.
Phoran hatte seinen neuen Schreiber selbst
gefunden, mithilfe seines Archivleiters, der nicht sonderlich froh
darüber gewesen war, seinen begabtesten Gesellen zu verlieren. Der
Kaiser hatte dem jungen Mann mehrere Räume in einem wenig benutzten
Flügel zugewiesen, die über einen Geheimgang zur Bibliothek
verfügten, wo der Schreiber tagsüber arbeitete. Es war spät am Tag,
und Phoran hatte ohnehin darum gebeten,
dass diese Sache geheim gehalten würde, bis er die Papiere
unterzeichnet und bezeugt hatte.
Auf dem Weg zu den Räumen des Schreibers fragte
sich Phoran nicht zum ersten Mal, was sich seine Ahnen wohl gedacht
hatten, als sie den Palast bauten. Es gab hier so viele unbenutzte
Räume, dass in ihnen ganze kleine Zivilisationen wachsen und
gedeihen konnten, ohne dass je irgendjemand etwas davon erfuhr. Da
der Palast über viele Generationen errichtet worden war, existierte
auch nicht das geringste Muster für seine Anlage.
Phoran führte seine Leute drei Stockwerke hoch,
durch zwei Flure, dann wieder ein Stockwerk abwärts und durch
mehrere kleine Türen, von denen die letzte sich zu einer Galerie
öffnete, von der aus man über ein taillenhohes Geländer zu einem
Becken drei Stockwerke tiefer hinabschauen konnte. Ein erhöhter
Bereich in der Mitte war offenbar einmal ein Brunnen gewesen, aber
nun blieben die Mäuler der steinernen Fische trocken.
Der gesamte Teich - der tiefer war als der Stock,
den Phoran einmal hineingeschoben hatte, und außerdem lang und
breit genug für einen kleinen Wal - war von einem Schleim bedeckt,
der die gesamte Galerie unangenehmen nach Fisch riechen ließ,
obwohl frische Luft hereinkam, weil es droben keine Decke
gab.
»Ihr habt hier einen Schreiber untergebracht?«,
fragte Avar. »Was hat er Euch angetan?«
»Das ist nur der kürzeste Weg«, erklärte Phoran.
»Wenn Ihr aufhören würdet, alle paar Schritte glotzend stehen zu
bleiben, wären wir gleich da.«
»Ich denke, das hier könnte der Grund sein, wieso
sie in der Kunstgalerie immer Tauben haben.« Kissel schirmte die
Augen mit der Hand gegen die helle Sonne ab, die diesen Bereich so
ganz anders wirken ließ als die trüb beleuchteten Flure, durch die
sie zuvor gekommen waren.
»Ich war noch nie hier«, sagte Toarsen und beugte
sich über das Geländer. »Und dabei habe ich den Palast jahrelang
erforscht. Wie konnte mir das entgehen? Habt Ihr daran gedacht, den
Brunnen wieder zu erneuern?«
»Fall runter, und du brauchst dir wegen des
Brunnens keine Gedanken mehr zu machen. Phoran hat irgendwo alle
Baupläne des Palastes«, sagte sein Bruder. »Er kennt etliche
seltsame Orte.«
»Nicht alle Baupläne, bei Weitem nicht«, erwiderte
Phoran. »Oder wenn es wirklich alle Baupläne sind, ist darauf viel
ausgelassen worden.«
Der unverbesserliche Toarsen drehte sich, bis statt
seines Bauchs sein Rücken am Geländer ruhte, und blickte nach oben.
»Drei Stockwerke hoch? Wie sieht denn das Ganze von außen aus,
Phoran? Sind wir hier im nördlichen Hauptbereich oder …«
Das Geräusch einer Tür, die gegen die Wand krachte,
ließ Phoran rechtzeitig von Toarsen wegschauen, damit er sehen
konnte, wie Bewaffnete in die Galerie stürzten.
Einen Moment lang fragte er sich dümmlich, was
diese Männer mit ihren Masken und fuchtelnden Schwertern denn hier
wollten, dann rief Gerant: »Attentäter!«
Avar brüllte Phorans Kampfschrei, um alle zu
alarmieren, die auf Hörweite waren. Aber es bestand nur eine
schwache Hoffnung, dass jemand kam - wann immer Phoran diesen Weg
in den letzten Wochen genommen hatte, war er nie jemandem begegnet.
Und selbst wenn tatsächlich jemand Avars Schrei gehört hatte, war
es eher unwahrscheinlich, dass er sich Phorans Seite und nicht den
Angreifern anschloss.
Kissel und Toarsen hatten die Schwerter gezückt.
Phoran duckte sich unter einer gegnerischen Klinge hindurch und
schob die Hüfte hinter die seines Angreifers. Ein rascher Stoß,
und der Mann fiel rückwärts, genau, wie Gerant versprochen hatte,
als er die Bewegung zwei Tage zuvor bei den morgendlichen Übungen
beschrieben hatte.
Ja, es funktionierte, aber Phoran konnte seinen
Vorteil nicht nutzen, weil er zu sehr damit beschäftigt war, einem
weiteren Schwert auszuweichen. Er konnte dem Angreifer die Waffe
nicht entringen, sondern musste sich zurückziehen, um nicht
erschlagen zu werden.
Eine glitzernde Klinge kam aus dem Nichts und
zuckte schnell wie eine Schlange auf seinen Bauch zu. Phoran
beobachtete sie mit seltsamer Distanziertheit, die ihn befiel,
sobald ihm klar wurde, dass es keinen Ausweg mehr gab, dass niemand
zu seiner Rettung käme. Er wusste, dass dieses Schwert ihm den
Todesstoß versetzen würde.
Die Klinge berührte Phorans Tunika, aber dann wurde
sie zurückgerissen und fiel zu Boden, zusammen mit dem Mann, der
sie in der Hand hielt. Neben dem niedergestürzten Angreifer stand
eine vertraute dunkle Gestalt, von der Phoran gehofft hatte, sie
nie wieder zu sehen.
In einer verwirrenden Mischung aus Erleichterung
und Entsetzen starrte Phoran das Memento an, das nun so viel
stofflicher wirkte als bei ihrer letzten Begegnung. Das Wesen
erwiderte seinen Blick - oder vielleicht bildete er sich das auch
nur ein, denn es hatte keine Augen. Dann setzte es seine Jagd
fort.
Es hätte verschwunden sein sollen. Die Heilerin
hatte gesagt, sobald er die Leute umgebracht hatte, die für seinen
Tod verantwortlich waren, würde der Geist des Raben, dessen
Ermordung Phoran mit angesehen hatte, aufhören zu existieren. Der
junge Kaiser war so sicher gewesen, dass das Memento weg war. Er
hatte es nicht mehr gesehen, seit es die Meister des Pfads getötet
hatte, die Zauberer, die einen Raben umgebracht hatten, um seine
Macht zu stehlen, worauf sich das
Memento dieses Raben an den einzigen Zeugen geheftet hatte, der
nicht gegen es geschützt gewesen war: Phoran.
Nun sah das dunkle Ding beinahe aus wie ein Mann,
der sich ganz in ein schwarzes Tuch gehüllt hatte, das aus seinem
Kopf bis zum Boden wallte, und es bewegte sich von einem Angreifer
zum nächsten. Es war fester, als der junge Kaiser es in Erinnerung
hatte, aber außer Phoran beachtete es zunächst keiner - und niemand
außer Phoran und den Reisenden hatte es je sehen können.
Wenn das Memento immer noch hier war, warum war es
dann nicht mehr jede Nacht zu Phoran gekommen, um sich zu nähren?
Und wenn es sich nicht mehr von ihm nähren musste, warum schützte
es ihn dann?
Phoran sah zu, wie seine maskierten Angreifer einer
nach dem anderen starben. Einige wurden von Menschenhänden getötet.
Gerant und Avar hatten sich bewaffnen können, und beide waren
bemerkenswerte Kämpfer. Aber etliche mehr wurden Opfer des
Memento.
Mit verschränkten Armen sah Phoran zu, wie die
verbliebenen Kämpfer auf beiden Seiten langsam bemerkten, dass es
noch etwas gab, das die Attentäter umbrachte. Toarsen und Kissel
hörten vollkommen auf zu kämpfen und flankierten Phoran.
»Schon gut«, sagte er. »Es wird mir nicht wehtun.«
Was beinahe komisch war, da er noch die Narben von den Bissen des
Memento an beiden Armen trug. Aber er wusste, dass es ihn nicht
töten würde. Das konnte es nicht tun. Wenn er starb, würde es
ebenfalls sterben.
Das Memento wandte Phoran wieder seinen augenlosen
Blick zu.
Noch während er sich zwischen das Wesen und Phoran
schob, fragte Avar leise: »Was ist das, Phoran?«
»Es wird mir nichts tun«, sagte Phoran noch einmal.
Keiner der anderen konnte das Memento sehen, dachte er, nur
Avar.
Er erinnerte sich daran, dass es zuvor nie zu ihm
gekommen war, wenn Avar sich in der Nähe befunden hatte - lag das
daran, dass es wusste, Avar könne es sehen?
Aber die anderen hatten zumindest bemerkt, wie
viele Attentäter tot umfielen, und sie würden wissen, dass Magie
dahintersteckte. Magie, die irgendwie mit dem Kaiser zu tun
hatte.
»Ich habe mich heute Abend genährt«, erklärte das
Memento und ignorierte alle außer Phoran. »Ich werde dir eine
Antwort auf eine Frage erteilen. Wähle.«
Warum bist du nicht weg?,
dachte Phoran. Wenn du nicht gestorben bist,
als der Pfad gestürzt wurde, warum hast du dich dann bisher
ferngehalten? Warum kommst du gerade jetzt zurück?
Aber die Frage, die er tatsächlich stellte, war
wichtiger.
»Hat jemand anderes gesehen, was hier
geschah?«
Das Memento wandte seine Aufmerksamkeit nach oben,
und Phoran folgte seinem Blick. Zwei Stockwerke weiter oben sah er
ein Kind, das derart in Lumpen gewickelt war, dass man nicht einmal
sagen konnte, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.
Sobald es erkannte, dass sie es anstarrten, eilte es mit dem
Huschen leiser Schritte davon.
Viele Heimatlose hatten in den endlosen
unverzeichneten Räumen des Palasts Zuflucht gefunden. Phorans Pech,
dass einer ausgerechnet hier lebte.
»Muss ich es eliminieren?«, fragte das Memento.
»Stellt es eine Gefahr für dich dar?«
Eine Versuchung. Aber Phoran schüttelte den Kopf
und log. »Für mich besteht keine Gefahr mehr. Du kannst
gehen.«
Das Memento vollzog eine leichte Verbeugung und
löste sich ins nichts auf.
Als es weg war, sah Phoran seine Männer an.
Es hat keinen Zweck mehr, irgendetwas zu
verheimlichen, dachte er müde.
Avar mochte der Einzige gewesen sein, der das
Memento wirklich gesehen hatte - aber die Leichen auf dem Boden
waren nicht abzustreiten.
»Das war, was die Reisenden ein Memento nennen«,
erklärte er. »Einer ihrer Magier wurde von den Meistern des Pfads
getötet, und ich wurde zufällig Zeuge dieser Untat. Die Meister
hatten sich geschützt, also kam es zu mir. Es wollte Rache an den
Zauberern nehmen, die den Raben getötet hatten, und ich dachte, es
hätte sie schließlich bekommen, indem es die Meister tötete; aber
jetzt sieht es aus, als wäre das nicht der Fall gewesen.«
Es gab ein altes, unveränderliches Gesetz,
niedergeschrieben, als die grausigen Spuren der Herrschaft des
namenlosen Königs - leere Städte und unfruchtbare Felder - immer
noch überall im Kaiserreich zu sehen gewesen waren: Ein Kaiser
durfte nicht von Magie berührt sein. Die Tage, in denen er den
Stein des Phoran allgemein sichtbar auf der kaiserlichen Stirn
tragen musste, waren vorüber. Aber auch dieser Phoran hatte ihn
getragen und war wie sein Vater vor ihm mit dem Stein auf der Stirn
durch Taela geritten, am Tag vor seiner Krönung. Wenn einer der
Septs es wollte, konnte er jederzeit verlangen, dass der Kaiser den
Stein wieder auf seine Stirn legte und dem Rat das Ergebnis
vorführte.
Phoran hatte den Stein geprüft, als das Memento zu
ihm gekommen war, und er wusste, dass dieser Stein nicht klar
bleiben würde, wenn er seine Stirn berührte, solange er an das
Memento gebunden war. Falls die Septs das erfuhren, würden sie ihn
hinrichten lassen.
Es war Avar, der es aussprach: »Wenn dieses
Lumpenkind irgendwem davon erzählt, wird bald jeder im Palast
erfahren, dass der Kaiser ein Ungeheuer hat, das Attentäter für ihn
umbringt.«
Phoran wartete auf ihr Urteil.
Toarsen beugte sich vor und riss einem der Toten
die Maske ab. Zu Phorans Erleichterung war die Leiche nicht
geschrumpft und vertrocknet, wie es die Leichen der Meister des
Pfads gewesen waren.
»Erst müssen wir diese Leichen loswerden«, erklärte
Toarsen. »Wenn irgendwer sie sieht, wird er sofort wissen, dass
nichts Menschliches sie getötet hat.«
»Ich dachte, Tiers Sohn hätte die Zauberer
umgebracht«, sagte Kissel.
»Nein«, antwortete Phoran. »Es war das Memento.
Tier hat gelogen, um mich zu retten.«
Avar nickte. »Würdet Ihr mir bitte helfen, meine
Herren? Wir werfen sie ins Becken. Bis jemand sie dort findet,
werden sich alle Seltsamkeiten durch das Wasser erklären
lassen.«
Als Toarsen und Avar die erste Leiche über das
Geländer warfen, schlossen sich Gerant und Kissel mit der zweiten
an. Schließlich half Phoran ebenfalls - er versuchte nicht
hinzusehen, als die Körper auf das Wasser trafen.
»Es ist gut, dass das Becken so groß ist«, meinte
Kissel und kippte einen weiteren Toten über das Geländer. »Es wird
Jahrzehnte dauern, bis jemand sie findet, wenn überhaupt.«
»Also keine Instandsetzung des Brunnens«, murmelte
Toarsen mit geheuchelter Enttäuschung.
»Wir sollten noch einmal überdenken, ob wir die
Palastwache wirklich Eure Räume bewachen lassen«, sagte Avar. »Ist
Euch aufgefallen, dass die meisten von ihnen Uniformstiefel tragen?
Ich sehe keine bekannten Gesichter, aber ich wette, sie stammen
alle aus der Palastwache.«
»Nun gut«, meinte Phoran, als sie fertig waren.
»Sieht aus, als wäre noch keiner von Euch zu dem Schluss gekommen,
dass Ihr einen neuen Kaiser braucht.«
Gerant tätschelte ihm die Schulter. »Dieses Gesetz
war nicht für solche Situationen gedacht. Wir werden Euch
helfen.«
»Es wird ein paar Tage dauern, bevor der Klatsch
sich ausbreitet«, fügte Avar hinzu. »Und selbst dann werden sie
bestenfalls Einzelheiten haben. Kinder von Armen haben keinen
Kontakt zu den Septs. Es wird sich von den Dienern nach oben
ausbreiten.«
»Es sei denn, wir können das Memento loswerden«,
sagte Phoran. »Es zählt nicht, wie lange es dauern wird, bis sich
das Gerücht ausbreitet. Wenn der Klatsch losgeht, werden die Septs
den Beweis verlangen, dass ich nicht von Zauberei berührt bin, und
ich habe keinen Grund, ein solches Ersuchen abzulehnen - bis auf
den, dass ich den Test selbstverständlich nicht bestehen würde
…«
»Der Stein könnte gestohlen werden«, meinte
Toarsen.
Phoran schüttelte den Kopf. »Wir halten es
folgendermaßen: Gerant, Avar und ich gehen jetzt zu meinem
Schreiber. Avar wird vielleicht ein bisschen früher erben, als ich
dachte. Kissel und Toarsen, ich möchte, dass Ihr Euch zur Garde
begebt und dafür sorgt, dass sie sich zum Aufbruch bereit macht.
Wählt ein paar der Vertrauenswürdigsten aus, die als meine
Leibwache mit mir kommen werden. Ich breche früh am Morgen auf.
Gerant, ich möchte, dass Ihr den Rest der Sper…«, er hielt kurz
inne, »der Kaisergarde zu Euch nach Hause mitnehmt und sie
ausbildet. Ich werde sie hier nicht einfach sitzen lassen, und ich
selbst kann nicht bleiben. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr eine
angemessene Entlohnung …«
»Nicht nötig«, erwiderte der Sept.
Phoran winkte ab. »Dafür danke ich Euch, aber es
sind meine Leute, und ich werde mich darum kümmern, dass sie
untergebracht und ausgebildet werden.« Er holte tief Luft. »Ich
selbst gehe nach Redern. Hoffentlich werden Tier und seine
Reisendenfrau da sein und mir helfen können. Wenn nicht, werde ich
eine Botschaft senden, und wir geben vor, ich sei gestorben - da
ich nicht wirklich interessiert daran bin, dass
man mich köpft, denn ich habe gerade eine neue Aversion dagegen
entwickelt.«
»Ihr könnt nicht einfach verschwinden«, gab Avar zu
bedenken. »Wenn Ihr nicht hier seid, um Euch dem Klatsch
entgegenzustellen, werden sie Euch umschattet und Schlimmeres
nennen, bis Ihr zurückkehrt, und Ihr werdet all die Gerüchte nie
wirklich entkräften können.«
»Ich schließe den Palast«, sagte Phoran. »Ich werfe
die Adligen und ihre Familien für sechs Monate raus und schicke
eine Unmenge Arbeiter hinein, um die Eingangshalle neu zu
gestalten. Renovierung.« Er nickte Toarsen zu, der ihn auf die Idee
gebracht hatte. »Die Adligen werden den Palast bis morgen Mittag
verlassen müssen.«
»Das ist lächerlich«, sagte Avar. »Es gibt keine
dringenden Probleme mit der Eingangshalle - alle werden sich
fragen, wieso Ihr ihnen nicht mindestens einen Monat vorher
Bescheid gesagt habt.«
Gerant stieß unerwartet sein leises Lachen aus.
»Oh, mehr braucht er nicht zu sagen. Sie werden glauben, dass er
ihre Räume auf Anzeichen ihrer Schuld hin untersuchen will - und es
gibt genug Schuldige oder Beinahe-Schuldige unter den Adligen, um
vielen von ihnen schlaflose Nächte zu bereiten. Und einem Kaiser,
der gerade persönlich dreizehn herrschende Septs hingerichtet hat,
werden sie eine solche Anordnung durchaus zutrauen. Sie werden sich
vielmehr Gedanken darüber machen, ja nichts zurückzulassen, was sie
belasten könnte, als herausfinden zu wollen, wo der Kaiser denn nun
steckt.«
Kissel lächelte. »Er hat recht.«
Phoran verbeugte sich knapp. »Wenn ich in sechs
Monaten nicht mit dieser Sache fertig werde, wird es zu spät
sein.«
»Also nehmen Ihr und ich ein paar von Euren
Leibwächtern und meinen Männern …«, begann Avar, aber Phoran
schüttelte den Kopf.
»Du bist mein Erbe«, sagte er. »Wir können es uns
nicht leisten, am selben Ort zu sein. Ich werde ohnehin nicht mit
einer großen Gruppe reisen, weil ich nicht der Kaiser sein werde,
sondern der Sohn eines reichen Kaufmanns. Die Leute, die noch im
Palast bleiben, werden wissen, dass ich weg bin, aber wir erzählen
es niemandem sonst. Du wirst hierbleiben und die Arbeiten
beaufsichtigen - oder du kannst mit Gerant gehen.«
Avar riss den Mund auf, um zu widersprechen, aber
am Ende sagte er nichts. Phoran hatte recht.
»Wir haben allerdings noch ein zweites Problem«,
sagte Toarsen.
Phoran zog die Brauen hoch.
»Ich bin nicht sicher, ob ich von hier aus zur
Unterkunft der Garde zurückfinden kann. Könnt Ihr mir eine
Wegbeschreibung geben?«