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Gegenwart

Zu jedem beliebigen Zeitpunkt beherbergen die zehn Gefängnisse, aus denen New Yorks Justizvollzugsanstalt Rikers Island besteht, zwischen fünfzehn- und achtzehntausend Insassen, womit sie die größte Strafkolonie der Welt sind. Von diesen Insassen werden rund dreitausend als geisteskrank eingestuft. Diese gigantische Zahl macht Rikers zu einer der größten psychiatrischen Kliniken der Vereinigten Staaten und zu dem Ort, wo eine angehende forensische Psychiaterin wie Claire Waters die Psyche von Verbrechern besser studieren konnte als irgendwo sonst.

Claire hatte mehr als ein Jahrzehnt auf diesen Tag hingearbeitet. Nachdem sie vier Jahre Medizinstudium in Harvard mühelos hinter sich gebracht hatte, leistete sie ein Praktikum und ihre Assistenzarztzeit in der Psychiatrie des Massachusetts General Hospital ab, die als eine der besten Einrichtungen im Land gilt. Von dort ging sie zu einer der angesehenen Forscherstellen an den National Institutes of Health, da sie die Gehirne von Kriminellen sezieren und untersuchen wollte.

Drei Jahre lang täglich graue Zellen zu zerlegen und Neuronen unters Mikroskop zu schieben, lieferten ihr jedoch nicht die Antworten, die sie suchte. Sie musste wieder Patienten sehen. Jetzt war sie im Begriff, die letzte Phase ihrer Ausbildung zu beginnen, ein Forschungsstipendium in forensischer Psychiatrie, bei dem sie einige der kränksten und perversesten Wesen behandeln würde, die man sich als Mensch vorstellen konnte.

Für gewöhnlich war Claire eine Meisterin darin, nicht aufzufallen. Sie trug ihr schulterlanges dunkelbraunes Haar glatt, mit einem Pony, der gerade lang genug war, um fragende grüne Augen zu verschleiern. Sie trug nie Lippenstift, Lidschatten oder Rouge – nichts, was Aufmerksamkeit auf ihre Schönheit lenken könnte. In der U-Bahn, im Starbucks oder wenn sie einfach nur die Straße entlangging, stach sie in keiner Weise hervor.

Heute jedoch war dies anders. Statt mit ihrer üblichen weichen, abgetragenen Jeans und den bequemen flachen Schuhen war sie mit einem neuen, olivgrünen Kostüm von Diane von Fürstenberg bekleidet und hatte schwarze Pumps von Louboutin an – beides Dinge, die sie sich nicht leisten konnte. Die Absätze, die aus jenen roten Sohlen, dem Markenzeichen der Schuhe, ragten, klackerten im Stakkato über den fleckigen Betonboden von Rikers Island und hallten von den schlammbraunen Betonsteinwänden wider, und jeder Schritt erinnerte sie daran, dass sie sich nirgendwo verstecken konnte. Claire war unglücklich in ihrem Wollkostüm. Was hatte sie sich dabei gedacht, als sie es kaufte? Im Juli war es in New York immer schwülwarm, und die Luft in dem schmalen Korridor, der zum Zellenblock führte, roch massiv nach Männern, die eine Dusche dringend nötig hatten.

Claire trug dieses Kostüm, um den Leiter ihres Programms zu beeindrucken, Dr. Paul Curtin, der trotz der lastenden Hitze bemerkenswert lässig aussah in seinem blauen Nadelstreifenanzug, während er neben ihr ging. Mit Mitte fünfzig war Curtin eine auffallende Erscheinung mit seinem gewellten Silberhaar und den schieferblauen Augen. Claire war überdurchschnittlich groß mit ihren eins fünfundsiebzig, doch mit seinen gut gebauten eins neunzig überragte Curtin sie ein ganzes Stück.

Er beobachtete sie auf Schritt und Tritt, was alles nur schlimmer machte, da sie vor ihrem ersten Gespräch mit einem neuen Patienten fast immer nervös war. Sie versuchte, sich auf die Fallakte zu konzentrieren, die er ihr gegeben hatte, aber ihr Haar war heute höchst lästig, es fiel ihr ständig ins Gesicht und versperrte ihr den Blick. Sie joggte in ihrer Freizeit und war fit, aber sie hatte Mühe, mit dem Mann Schritt zu halten, der es nicht versäumt hatte, ihr zu erzählen, dass er Triathlon betrieb und jedes Jahr den New York Marathon mitlief.

Ich möchte ihn mal sehen, wenn er in diesen lächerlichen Schuhen laufen und gleichzeitig lesen müsste, dachte sie.

»Er heißt Todd Quimby«, sagte Curtin. »Hat zehn Monate von einer einjährigen Strafe wegen sexueller Belästigung abgesessen.«

»Was hat er getan?«, fragte Claire und blätterte in dem Ordner. Sie wurde mit jedem Schritt nervöser, war aber fest entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. Er hat mir Quimbys Akte erst wenige Augenblicke vor unserer Sitzung gegeben, weil er gleich sehen will, ob ich es draufhabe, dachte Claire.

»Er hat vor einer Gruppe von Sekretärinnen die Hosen runtergelassen.«

»In ihrem Büro?«

»In einem Restaurant. Sie hatten gerade einen Teller Mozzarella-Sticks bestellt, als Quimby seinen eigenen servierte.«

»Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses, nicht sexuelle Belästigung«, sagte Claire.

»Mr. Quimby hat die Grenze überschritten, als eine der Damen auf die bescheidene Größe seiner Portion‹ hinwies, und er sie zwingen wollte, sie zu essen.«

Claire rang sich ein Lächeln über sein Bemühen um Humor ab, während ein Wächter die Sicherheitstür aufschloss und sie in den Zellenblock einließ. Claire wandte sich den alten Zeitungsausschnitten in der Akte zu. JAHRMARKT-MÖRDERIN BEKOMMT LEBENSLÄNGLICH lautete die Schlagzeile des Daily Nonpareil aus Council Bluffs in Iowa. Der Artikel war von 1985 und enthielt zwei Fotos. Das eine zeigte Beth Quimby, eine attraktive Frau Ende dreißig, die einen Gerichtsaal in einem ausgebeulten Gefangenenoverall verließ, das andere Beths hübschen, neunjährigen Sohn Todd, der am Tag der tödlichen Schüsse von zwei Polizeibeamten getröstet wird. Claire fragte sich, ob Todds mordende Mutter auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass sie mit ihrer einen grandiosen Gewalttat auch ihrem Sohn jede Chance verbaut hatte, ein normales Leben zu führen.

»Ho-ho. Komm, Süße, lass mich mal drüber.«

»Bring die Kleine hier rüber, dann besorg ich es ihr mal richtig.«

Claire blickte auf und sah ein Dutzend Insassen lüstern aus ihren Zellen zu ihr herausglotzen. Sie wusste nicht, ob sie als Reaktion auf die vulgären Lockrufe beiläufig lächeln oder sich hart geben sollte. Ratten in Käfigen. Zumindest etwas, an das ich gewöhnt bin.

»Achten Sie nicht drauf«, sagte Curtin ruhig. »Von denen würde jeder seine achtzigjährige Großtante vögeln, wenn er könnte.«

Claire kam zu Bewusstsein, dass er sich in diesem Höllenloch im selben Maß zu Hause fühlte, wie es ihr fremd war.

»War es das erste Mal, dass Mr. Quimby mit dem Gesetz in Konflikt geriet?«, fragte Curtin.

Claire wusste, dass er sie nur testete; tatsächlich kannte er die Antwort bereits. Sie blätterte in der Akte und fand rasch, was sie brauchte.

»Nein. Er wurde bereits einige Male verhaftet. Besitz von Kokain, Ecstasy, Chrystal Meth. Hausfriedensbruch. Stalking. Sexueller Missbrauch dritten Grads …«

»Und was verrät uns das?«, fragte Curtin scharf.

»Ähm, scheinbar kleinere Vergehen, die ins Sexuelle hineinspielen, weisen auf einen angehenden Vergewaltiger hin«, antwortete Claire.

»Er ist ein Möchtegern-Vergewaltiger, richtig«, sagte Curtin. »Und Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, dass er tatsächlich einer wird.«

Sie bogen um eine Ecke und kamen an eine Tür, die mit KRANKENSTATION NORDPSYCHIATRIEFLÜGEL beschriftet war. Curtin drückte auf die Klingel neben der Tür.

»Dr. Curtin und Dr. Waters«, sagte er und hielt seinen Ausweis in eine Überwachungskamera an der Decke. Ein Summer ertönte. Curtin zog die Tür auf und trat ein, ohne sie für Claire aufzuhalten. Zum Glück bekam sie die Tür gerade noch zu fassen, ehe sie wieder zuschnappte. Ein weiteres Beweisstück in der Sache, die sie gegen ihren neuen Mentor zusammentrug. Die Anklage: Arschloch ersten Grades mit einem eingeschlossenen minderen Vergehen von Arroganz.

Tief in ihrem Innern verstand Claire jedoch. Sie dachte an die Beleidigungen, die sie während ihrer akademischen Laufbahn zu erdulden hatte, die derben Rituale, die jeder junge Arzt ertragen musste. Es spielte keine Rolle, dass sie mit Auszeichnungen unter den Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte – sie bekam es genauso schlimm ab wie alle andern. Sie erinnerte sich an die Schwestern, die ihr versichert hatten, dass alle Ärzte im ersten praktischen Jahr die verwirrten obdachlosen Patienten zu baden hatten. Und wie sie dieselben Schwestern dann draußen vor der Tür lachen hörte, als sie in ihrer Naivität tatsächlich einen mit dem Schwamm abschrubbte.

Sie überlebte jedoch alle diese Initiationsriten und kam glatt durch ihre praktische Zeit. Als sie vorbei war, fühlte sich Claire verloren. Sie glaubte, mehr über die dunklen Tiefen der menschlichen Psyche wissen zu müssen, ehe sie die volle Verantwortung für Patienten übernahm. Deshalb beschloss sie mit dreißig, sich für eins der renommiertesten Forschungsstipendien im Land zu bewerben – dem der National Institutes of Health –, wo sie sofort genommen wurde und ihre Studien der neuronalen Grundlagen von Gewalt begann und der Frage nachging, warum Geisteskrankheit so eng mit kriminellem Verhalten verknüpft war. Sie hatte Hunderte von Patienten mit Depressionen, Psychosen, Schizophrenie behandelt, das ganze Spektrum der psychischen Störungen, und sie war überzeugt, dass chemische und strukturelle Abweichungen im Gehirn die Impulse hervorriefen, die so viele Menschen dazu treibt, Verbrechen zu begehen.

Claire Waters zog es zu den Patienten, die von den meisten Psychiatern das Etikett »nicht behandelbar« verpasst bekamen, hoffnungslose Fälle mit scheinbar irreparabler Psyche. Als sie nun an den Gefangenenzellen vorbeiging und rasch die Gesichter der Männer studierte, dachte sie: Sie sind nicht hoffnungslos. Wir stellen nur nicht die richtigen Fragen. Sie war entschlossen, die richtigen Fragen bei ihrer Forschung zu stellen, eine bahnbrechende Methode, Psychopathen nicht als gewissenlose Roboter des Bösen aufzufassen, sondern als Individuen, die nie Angst empfunden haben und sie deshalb bei anderen nicht erkennen konnten. Schon als Kinder hatten viele Insassen der psychiatrischen Station Tiere gequält oder andere Kinder verletzt, weil sie, wie Claire annahm, ein tief gehendes Aufmerksamkeitsdefizit hatten, das es ihnen schwer, wenn nicht unmöglich machte, auf Angst auslösende Situationen zu reagieren. Wenn es Claire und ihren Kollegen gelang, die Schaltkreise in ihrem Gehirn neu zu programmieren, dann würden sie vielleicht, nur vielleicht, Angst bei anderen wahrnehmen können, und das würde sie in Zukunft davon abhalten, weitere Verbrechen zu begehen – vorausgesetzt, sie kamen irgendwann aus dem Gefängnis frei.

Es war diese wegweisende Arbeit, die Claire in Curtins Blickfeld geraten ließ. Er lockte sie mit seinem prestigeträchtigen Forschungsstipendium und der Chance mit den »Leprakranken der Seele« zu arbeiten, wie er sie nannte, vom NIH fort. Und sie hatte angebissen.

»Ich möchte sie heilen oder wenigstens verstehen«, hatte Claire bei ihrem ersten Treffen gesagt, als er in ihr Labor in Washington D. C. gekommen war. »Sie haben es sich nicht ausgesucht, so zu sein, wie sie sind, so wie niemand von uns sich seine Eltern oder seine Kindheit ausgesucht hat.«

»Wenn Sie wirklich etwas bewirken wollen, dann kommen Sie mit mir«, sagte er. »Sie werden in meinem Programm in drei Jahren mehr Menschen helfen, als wenn Sie sich zehn Jahre in einem staatlichen Labor verstecken. Und wenn Sie es durchstehen, können Sie sich anschließend jeden Job aussuchen, den Sie haben wollen.«

Mehr Menschen helfen. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Und so hatte sie Curtins Angebot angenommen. Dennoch fragte Curtin sie hier im Gefängnis auf eine so aggressive Weise aus, als wäre sie ein Erstsemester im Medizinstudium. Und genau als solches beabsichtigte er sie offenbar zu behandeln, wie ihr jetzt klar wurde.

Claire beschloss also, ihn bei diesem Spiel zu schlagen. Sie würde immer auf alles vorbereitet sein, was er ihr hinwarf.

»Was können Sie mir noch an Relevantem über Mr. Quimby erzählen?«, fragte Curtin nun. Er behielt sein Tempo bei, obwohl sie zurückgefallen war. Es war ihr Problem, Schritt zu halten, und sie hatte ihre Mühe damit. Sie musste schneller gehen, schneller denken, die Antworten finden, befahl sie sich.

»Nach der Verurteilung von Quimbys Mutter«, antwortete Claire und versuchte dabei, nicht in den Ordner zu schauen, »erhielt seine Großmutter väterlicherseits das Sorgerecht für ihn. Sie nahm ihn mit sich hierher nach New York, wo er in derselben Wohnung wohnte, in der sein Vater aufgewachsen war.«

»Schulzeugnisse?«

»Durchgehend noch genügend. Kein College.«

»Arbeitsverhältnisse?«

»Nur niedrige Tätigkeiten. Tellerwäscher, Gebäudereiniger, Wachmann. Bis zu seiner ersten Verhaftung vor sechs Jahren fuhr er ein Taxi, aber danach hat man ihm die Taxilizenz entzogen. Seitdem wechselte er ständig zwischen Gefängnis und Freiheit.«

»Soziale Entwicklung?«

»Hat allein in einer Einzimmerwohnung in Alphabet City gewohnt. War nie verheiratet.«

»Psychiatrische Aufarbeitung?«

»Der Ordner enthält keine Therapieunterlagen aus dem Gefängnis.«

Zum ersten Mal seit Claires Eintreffen in Rikers Island sah sie Curtin tief in die Augen. Seiner Miene nach dachte sie, er würde sie anblaffen, weil sie die Antworten nicht wusste. Stattdessen suchte er sich ein anderes Ziel.

»Natürlich haben Sie die Unterlagen nicht«, sagte er. »Sie lassen immer noch die Insassen die Anstalt leiten.«

Claire wusste, dass dieses Klischee mehr als ein Körnchen Wahrheit enthielt. Tatsächlich entstammte es jenem Teil Curtins, von dem Claire von Beginn an gespürt hatte, dass er nicht nur aus oberflächlichem Gerede bestand, dem überzeugten Arzt in ihm, mit dem sich Claire identifizierte und den sie bewunderte.

Sieben Jahre zuvor hatte die Stadt New York einen Vertrag mit dem größten kommerziellen Anbieter von Gesundheitsdiensten für Gefängnisse über die Führung der Krankenstation von Rikers Island geschlossen. Dessen Vorstellung von guter Patientenbetreuung bestand darin, gewissen Insassen neununddreißig Cent pro Stunde dafür zu bezahlen, dass sie ein Auge auf ihre selbstmordgefährdeten Mitgefangenen hatten. Die Folge davon waren wenig später sechs erhängte Insassen in sechs Monaten gewesen, die schlimmste Selbstmordrate aller Gefängnisse im Land.

Zu dieser Zeit war Curtin ein aufgehender Stern gewesen. Bereits als Gutachter vor Gericht gefragt, hatte er zwei Bücher über seine wegweisende Forschung in forensischer Psychiatrie geschrieben, die sich beide Hunderttausende Male verkauften. Dieser Erfolg führte zu regelmäßigen Fernsehauftritten, wenn aufsehenerregende Strafprozesse erörtert wurden. Sein natürliches Talent für Galgenhumor und seine Fähigkeit, Menschen bei so makabren Themen wie Anorexie und Nekrophilie zum Lachen zu bringen, hatte ihm einen festen Platz in den Talkshows gesichert; er war unzählige Male bei Dave, Jay und Oprah aufgetreten. In weniger als einem Jahrzehnt war Curtin als der »Dr. Oz der forensischen Psychiatrie« bekannt geworden oder, wie es seine Kritiker in der Psychiatriegemeinde lieber ausdrückten, der »Jerry Springer für Serienmörder«.

Doch selbst seine Kritiker hätten widerwillig eingeräumt, dass seine Fähigkeiten als Showstar Ergebnisse zeitigten. Er hatte zahlreiche Jurys in hinrichtungsfreudigen Bundesstaaten davon überzeugt, das Leben von Kapitalverbrechern zu schonen, deren Geisteskrankheit sie zu ihren Morden getrieben hatte. Und seine Integrität stand außer Frage. Mehr als einmal hatte irgendein Winkeladvokat versucht, Curtin dazu zu bringen, die auf vorgetäuschter Geisteskrankheit basierende Verteidigung eines Klienten zu bestätigen. Curtin hatte sich in sämtlichen Fällen nicht nur geweigert, etwas zu tun, das letzten Endes auf Meineid hinausgelaufen wäre, sondern jedes Mal außerdem angeboten, gegen den Angeklagten auszusagen, und er hatte auf diese Weise gezeigt, dass er mehr war als nur ein hoch bezahlter Söldner.

Innerhalb seines Berufsstands lagen die Gründe für Curtins guten Ruf jedoch tiefer. Er war überzeugt, verhindern zu können, dass Geisteskranke Verbrechen begingen, indem er das Problem an der Wurzel packte. Und er hatte das perfekte Labor vor der Haustür, um es zu beweisen.

Curtin betrachtete die Selbstmordrate unter den Gefangenen auf Rikers Island als moralischen Skandal, als ein Versagen des Berufsstands, den er liebte. Er wusste, die meisten Insassen des Psychiatrieflügels hatten nie ein Gewaltverbrechen verübt, und er war überzeugt, eine frühzeitige Intervention konnte verhindern, dass sie es je tun würden. Mithilfe seines Namens und seines Renommees bombardierte er Politiker und Bürokraten, bot über die Medien seine Dienste an und versicherte, dass er und seine Studenten etwas bewirken konnten. Die Stadt, die Ermittlungen durch Bundes- und Staatsbehörden zu erwarten hatte und in einer PR-Krise steckte, war schwerlich in der Position abzulehnen.

Fünf Jahre später war die Selbstmordrate in Rikers Island so niedrig wie noch nie, und die Rückfallquote unter Curtins Patienten lag bei einem Zehntel des Gefängnisdurchschnitts. Selbst die Zahl der geisteskranken Insassen sank massiv, da Curtin die maßgeblichen Kräfte davon überzeugt hatte, viele seiner Patienten unter zwei Bedingungen zu entlassen: Sie mussten ihre Psychotherapie fortsetzen und weiter ihre Medikamente nehmen. Der Plan schien zu funktionieren, und zu einem nicht geringen Teil war das den Stipendiaten zu verdanken, die Curtin für sein Projekt auswählte.

Als sie vor der Tür stehen blieben, die mit PATIENT INTERVIEW beschriftet war, wusste Claire Waters, dass nun ihre Chance gekommen war, sich Curtins Auswahl würdig zu erweisen. Dies war der Moment, den sie gefürchtet hatte und auf den sie dennoch seit fast zehn Jahren konsequent zugesteuert war. Sie fühlte sich belebt und furchtsam zugleich, und es gelang ihr, irgendwie beides unter einem dünnen Firniss der Ruhe zu verbergen. Aber sie wusste, es würde gut gehen, denn sie konnte auf ihre Gabe vertrauen: die angeborene Fähigkeit, beruhigend auf Menschen zu wirken und ihnen ihre dunkelsten Geheimnisse zu entlocken. Selbst Menschen, die sie kaum kannte, spürten ihre tiefe Empathie und öffneten sich ihr. Sie war entschlossen, Curtin zu zeigen, dass sie selbst mit den kränksten Seelen eine Verbindung herstellen konnte.

»Was Sie gleich tun werden, ist anders als alles, was Sie je als Psychiaterin getan haben«, sagte Curtin. »Dr. Fairborn und ich werden Sie beobachten.«

»Ich weiß«, sagte Claire.

»Sind Sie bereit, Doktor?«

»Ja, Sir«, antwortete sie.

Curtin lächelte. »Dann mal ran an den Knaben.«