20
Unverkennbar zog ein Gewitter auf. Die Luft war vollgesogen mit Feuchtigkeit, und vom Lake Ontario her türmten sich zornig graue Wolken auf.
Genau wie an dem Tag, an dem Amy verschwand.
Claire eilte mit einem großen Becher Kaffee, den sie in Clancy’s Diner an der Ecke der Park Avenue gekauft hatte, durch die Burt Street. Die Arbeitskleidung der Bedienungen und die roten Bürgersteige hatten sich seit Claires Kindertagen nicht verändert, aber das löste nur Unbehagen bei ihr aus.
Nichts hat sich hier verändert, dachte sie und lief, um das Haus ihrer Eltern zu erreichen, bevor es zu schütten anfing. Dasselbe Haus, vor dem sie mit Amy an jenem Tag gespielt hatte, als ihre beste Freundin entführt wurde. Ein Sommergewitter in Rochester entwickelte sich nicht langsam. Die ersten Tropfen waren immer groß, und sie kamen immer hart herunter.
Sie begannen eben zu fallen, als Claire den Schlüssel in der Eingangstür des stattlichen Hauses im Kolonialstil in der Burt Street umdrehte und hineinschlüpfte. Kaum war sie drinnen, erhellte ein Blitz den Himmel. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag erschütterte das Haus, dann setzte die Sturzflut ein.
Es war mitten am Tag, und ihre Eltern waren beide bei der Arbeit. Ihre Mutter unterrichtete Biologie an der Highschool, worauf Claire ihr Interesse für Medizin zurückführte. Ihr Vater war Physiker und betrieb Forschung im Bereich Glasfasern. Er war jedoch auch religiös und besuchte jeden Sonntag die Kirche. Er hatte Claire seit ihrer Kindheit erzählt, dass ihn die Wissenschaft zum Glauben an Gott gebracht hatte, weil es Fragen gab, die sich nur mithilfe des Glaubens beantworten ließen.
Wer hat die Welt erschaffen, Daddy, hatte sie ihn oft gefragt. Er hatte immer geantwortet, dass er es nicht wisse.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer dachte Claire, wie wunderbar still das Haus war, wenn man vom Prasseln des Regens absah.
Sie ließ sich in das tiefe, bequeme Sofa fallen, schlürfte ihren Kaffee und sah dem Regen zu, der wie ein Wasserfall an dem Panoramafenster herunterlief. Er ließ alles dahinter verschwommen aussehen, als existierte jenseits der Mauern ihres Kindheits-Zuhauses nichts. Sie zog sich eine Steppdecke über, die auf dem Sofa lag. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich geschützt und sicher wie in einem Kokon.
Und das Gefühl von Schutz brauchte Claire im Augenblick mehr als alles andere. Sie konnte nicht sagen, wovor sie Schutz brauchte, da war nur eine leise Angst, die vor allem nachts noch immer an die Oberfläche kam, wenn sie allein mit ihren Träumen war. Etwas nicht Erklärtes, ein Gefühl, ein Unbehagen, das an den Rändern ihres Bewusstseins lauerte.
Hatte sie nach allem nicht ein Recht darauf, sich sicher zu fühlen? Sie hatte den emotionalen Aufruhr überstanden, den es bedeutete, die gemeinsame Wohnung mit Ian auszuräumen, seine Kleidung der Wohlfahrt zu spenden und den Rest ihrer Habseligkeiten für die Zeit einzulagern, bis sie nach New York und zu Curtins Forschungsprogramm zurückkehren würde.
Wenn ich überhaupt zurückgehe, dachte sie.
Ians Begräbnis war hart für Claire gewesen. Curtin und Fairborn hatten beide teilgenommen, zusammen mit allen Stipendiaten des Programms. Sie hatten ihr Trost zugesprochen, vor allem Curtin, der in einem ungestörten Moment sein Versprechen wiederholte, dass sie einen Platz in seinem Programm sicher hatte, wann immer sie zurückkommen wolle. Doch eine Rückkehr war im Augenblick das Letze, was Claire im Sinn hatte. Das Verlangen, ihr bisheriges Leben so weit wie möglich hinter sich zu lassen, war beinahe überwältigend. Ihre Eltern boten ihr an, jede Reise zu bezahlen, die sie machen wollte, alles zu tun, was ihr half, den Schrecken der letzten Wochen auszulöschen.
Am Ende erkannte Claire, dass es nur einen Ort gab, an dem sie sich wirklich sicher fühlte. Und genau da war sie jetzt.
In der Woche, die sie inzwischen zu Hause war, hatten ihre Eltern für sie getan, was sie konnten. Beide hatten sich einige Tage freigenommen, um sie zu verwöhnen. Jetzt, da sie wieder arbeiten gingen, kamen sie so früh zum Abendessen nach Hause, wie es ihr Terminkalender erlaubte, damit ihr Kind nicht die ganze Zeit allein war. Claires ältere Schwester Diane, die in London als Architektin arbeitete, hatte ebenfalls angeboten, nach Hause zu kommen. Aber Claire hatte das Angebot abgelehnt. Diane war fünf Jahre älter, die beiden hatten sich nie sonderlich nahegestanden, und Claire fühlte sich nicht in der Lage, alle Einzelheiten der schrecklichen letzten Wochen für sie zu wiederholen.
Claire konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass ihre Eltern jetzt mehr für sie taten, als sie während ihres Aufwachsens getan hatten. Es war eine bittere Ironie, dass sieben Morde und ein Beinahe-Zusammenbruch nötig waren, damit sie aufwachten.
Besser spät als nie.
Zum ersten Mal in ihrem Leben versteckte sich Claire nicht. Zum ersten Mal fühlte sie sich nicht unsichtbar.
Rumms! Eine Folge mächtiger Donnerschläge rüttelte das Haus und erschütterte Claire.
In plötzlicher Panik schoss sie von der Couch hoch und rannte zur Haustür. Sie fummelte an dem eigenwilligen Schloss herum, riss die Tür auf …
Und sah gerade noch, wie Mr. Winslow Amy zu seinem Wagen trug.
»Mommy, Mommy, komm raus! Bitte …«
Claire sah ins Haus zurück. Ihre Mutter kam nicht. Wo war sie?
»Mommy! Der Mann hat Amy mitgenommen!«
Sie lief schreiend zur Treppe und bekam keine Antwort. Sie weinte lauthals, als sie zur Tür zurücklief und wusste, was sie erwartete.
Donner. Claire sah Amy mit tränenüberströmtem Gesicht aus dem Fenster von Mr. Winslows BMW schauen. Und wusste irgendwie, dass sie sich nie wiedersehen würden.
Sie stand im strömenden Regen wie damals, bis ihre Kleidung völlig durchnässt war, während die Tränen aus ihren Augen flossen.
Werde ich mich jemals wieder sicher fühlen? Irgendwo?
Claire drehte sich um, lehnte sich an das Haus und weinte wie noch nie. Denn diesmal weinte sie um alles, was sie verloren hatte.
All ihre Diplome, ihre Forschung über Neurotransmitter und deren Wirkung auf menschliches Verhalten, alle Forschungsstipendien der Welt würden nicht ausreichen, um das eine Gefühl auszulöschen, das sie seit Amys Entführung immer begleitet hatte.
Hilflosigkeit.
Sie wusste, sie musste dafür sorgen, dass sie gesund wurde. Und wenn sie den Rest ihres Lebens dafür brauchte.
Der Karton stand in der hintersten Ecke des Dachbodens, hinter einem alten Bettrahmen, genau dort, wo Claire ihn ihrer Erinnerung nach vor vielen Jahren hingestellt hatte.
Er war so lange nicht geöffnet worden, dass das Paketklebeband, das ihn zusammenhielt, spröde geworden war und zerfiel. Unmittelbar bevor sie zu ihrem ersten Studienjahr aufgebrochen war, hatte Claire die Kiste ihrem vielleicht endgültigen Ruheplatz anvertraut, wie sie damals glaubte. Damals hatte sie sich zum Leidwesen ihrer Eltern von möglichst vielen ihrer Besitztümer befreit und selbst ihr Zimmer leer geräumt, als würde sie nie mehr zurückkehren.
Sie war versucht gewesen, den Karton wegzuwerfen. Doch etwas hatte sie zurückgehalten, eine unsichtbare Hand, eine unbekannte Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie es bereuen würde. Stattdessen hatte sie ihn an einer Stelle versteckt, wo ihn niemand sehen würde, weit weg von den Sachen, die ihre Eltern dort oben verstaut hatten.
Claire zerrte die Kiste über den Dachboden und wirbelte eine Menge Staub auf dabei, der ihr in den Augen brannte und einen Niesanfall verursachte. Bis sie an der Falltür war, hatte er sich wieder gelegt, sie balancierte die Klappleiter hinunter und dachte mit einiger Zufriedenheit, dass sie die richtige Entscheidung traf.
Erst als der Karton auf dem Esszimmertisch stand, begannen sich Zweifel einzuschleichen. Hatte sie wirklich die Kraft, diesen Karton zu öffnen und die darin verstauten Erinnerungen freizusetzen? Doch nach wenigen Sekunden entschied sie sich.
Ich habe keine Wahl.
Sie riss das Band vom Deckel, klappte ihn auf und zog ohne hinzusehen den ersten Gegenstand heraus, auf den sie stieß.
Es war ein großes, nicht beschriftetes Fotoalbum. Claire betrachtete den weißen Kunststoffeinband, dessen einladendes, harmlos wirkendes Design schwerlich auf seinen Inhalt schließen ließ.
Wenn es einen Weg gibt, mich meinen Ängsten zu stellen, dann diesen.
Sie holte tief Luft und schlug das Album auf. Ein Ausschnitt aus dem Democrat and Chronicle, der Tageszeitung Rochesters, blickte ihr entgegen. Er war vom 18. Juli 1989, und die Schlagzeile kündete von der Vergangenheit, die sich Claire so angestrengt zu begraben bemühte.
POLIZEI SUCHT ENTFÜHRTES MÄDCHEN
Begleitet wurde der Artikel von einem großen Schwarz-Weiß-Foto von Amy, auf dem sie dasselbe T-Shirt trug wie am Tag ihres Verschwindens.
Ist gut, hörte sie Amy sagen, Mr. Winslow arbeitet mit meinem Dad.
Claire begann, die Geschichte zu lesen, die sie so gut kannte, und der ursprüngliche Schmerz löste sich auf, als die Worte in ihren Verstand drangen. Vielleicht war es wie beim Wechseln eines Pflasters, dachte sie. Es tat weniger weh, wenn man es schnell wegriss.
Sie ließ das Album offen, während sie den restlichen Inhalt aus dem Karton räumte: zwei weitere Fotoalben, zahllose Bilder von ihr und Amy zusammen. Beim Seilspringen, bei Himmel und Hölle. Auf dem Karussell im Vergnügungspark Seabreeze am Ontariosee. Vor den Elefanten im Seneca Park Zoo posierend. Bei jedem Foto kamen die Erinnerungen zurückgeflutet, die Claire ihr ganzes Leben lang so mühsam unterdrückt hatte. Ohne dass sie es merkte, fing sie an zu lachen, weil sie daran dachte, wie sehr sie Amy gemocht hatte und wie viel Spaß sie miteinander gehabt hatten.
Das Geräusch des Messingtürklopfers am Eingang holte sie aus ihrem beinahe tranceartigen Zustand. Sie schaute zu dem Durcheinander auf dem Tisch; ihre Eltern würden sich aufregen, wenn sie sahen, was sie trieb.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. 13.25 Uhr. Viel zu früh, als dass einer von ihnen nach Hause kommen konnte, und sie erwartete niemanden.
Claire spähte aus dem Wohnzimmerfenster. Der Regen hatte nachgelassen, es goss nicht mehr, sondern tröpfelte nur noch. Ein Toyota Camry, den sie vorher noch nie gesehen hatte, parkte am Straßenrand. Es handelte sich also um keine Lieferung.
Zögernd schlich sie zur Haustür. Ihre Eltern hatten nie ein Guckloch anbringen lassen, da sie die wunderbare Eichenoberfläche nicht beeinträchtigen wollten.
»Wer ist da?«, fragte Claire.
»Polizei«, kam die gedämpfte Antwort.
Der Wagen vor dem Haus war wohl kaum ein Polizeiauto. Ihre Eltern hatten etwas von einer Welle von Einbrüchen zur Mittagszeit erwähnt, unter der die Gegend litt. War das jemand, der nur sehen wollte, ob das Haus leer war?
Auch wenn es kein Guckloch gab, war eine Reihe von Glasscheiben in den oberen Teil der Tür eingesetzt, zu hoch, als dass Claire oder irgendwer durchsehen konnte. Aber Claire konnte die Scheiben benutzen. Sie streckte eine Hand in die Höhe und klopfte daran.
»Halten Sie Dienstmarke und Ausweis vor das Glas«, rief sie.
Sie hörte Metall leicht an das Glas schlagen und blickte nach oben. Nun machte Claire große Augen.
Die Dienstmarke, die sie sah, war nicht die eines Polizisten aus Rochester. Es war das goldene Abzeichen eines Detectives der New Yorker Polizei. Claire hatte die Nummer oft genug gesehen, um zu wissen, wem sie gehörte. Sie entriegelte die Tür und zog sie auf.
Nick Lawler stand davor, und ihm schien nicht wohl in seiner Haut zu sein.
»Ihr Haar ist wieder wie früher«, sagte er.
Claire drehte unbewusst eine Strähne ihres Haars, das sie tatsächlich zu seiner natürlichen Farbe zurückgefärbt hatte. »Scharf beobachtet, Detective Lawler«, erwiderte sie.
Sie sahen einander einen verlegenen Moment lang an. Claire wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, ihn zu sehen, oder entsetzt sein angesichts der Gründe, die ihn womöglich hierher führten.
»Sie befinden sich ein bisschen außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs, nicht wahr?«, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Über den Fall?«
»Der Fall ist abgeschlossen.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Ich bin Detective.« Er strich sich einen Wassertropfen von der Nase.
»Es ist irgendwie feucht hier draußen.«
Claire wurde schlagartig rot. »Entschuldigung«, sagte sie und machte einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie herein.«
Nick trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er legte seinen Regenmantel ab, und darunter kamen Jeans und ein braunes Poloshirt zum Vorschein.
»Tragen das Polizisten, wenn sie reisen?«, fragte Claire.
»Auf offiziellen Reisen nicht.«
»Dann sind sie also nicht in offizieller Funktion hier?«
»Nicht direkt«, sagte er und kniff die Augen zusammen, um sich an die geringere Lichtstärke zu gewöhnen.
»Sie sind fünfhundert Kilometer gefahren, nur um zu plaudern.«
»Ich bin geflogen.«
Claire musste unwillkürlich lächeln. Er erinnerte sie an einen nervösen Highschool-Jungen, der versuchte, sie um ein Rendezvous zu bitten. Fehlten nur die Pickel.
»Sie hatten es also eilig herzukommen«, verfiel Claire automatisch in ihren Psychiater-Modus.
»Sie machen es mir nicht leicht. Doktor.«
»Sind Sie wegen professioneller Hilfe gekommen?« Claire wies mit einem Nicken in Richtung Wohnzimmer, und sie gingen hinein. Claire setzte sich auf das Sofa, und Nick nahm in dem straffen Ledersessel gegenüber Platz.
»Ich sagte, ich muss mit Ihnen reden, oder nicht?«, fragte er gereizt.
»Nur damit ich recht verstehe«, sagte Claire. »Sie sind von New York hierhergeflogen, weil Sie einen Psychiater brauchen.«
Der Ausdruck reiner Verwirrung, der über Nicks Gesicht huschte, verriet ihr, dass sie genau richtig lag.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er.
»In welcher Hinsicht?«
»Überfallen Sie alle Ihre Patienten so aus dem Hinterhalt?«, fragte Nick.
Claire ließ ihn vom Haken. »Erzählen Sie mir doch einfach mal, was los ist.«
Stockend begann Nick seine Leidensgeschichte wegen Dr. Mangones Ultimatum anzustimmen. Claire hörte aufmerksam, einfühlsam zu, bis er zum Ende gekommen war.
»Dann haben Sie also noch Zeit, bis Dr. Mangone seine … Drohung wahrmacht.«
»Ich habe ihn gefragt, ob er mir immer noch einen Monat geben würde, um mir über meine Situation klar zu werden, wenn ich mir ein paar Wochen freinehme.«
»In anderen Worten«, folgerte Claire, »Sie sehen einem Lebenslänglich entgegen, und der gute Doktor hat sich auf einen Handel mit der Verteidigung eingelassen.«
Nick lächelte über ihren Versuch, die Sache herunterzuspielen.
»Etwas in dieser Art«, sagte er. »Er meinte, es ginge für ihn in Ordnung, solange ich keine Waffe trage.«
»Und das ist okay für Sie?«
»Was der Doktor nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, sagte Nick und klopfte auf seinen Unterschenkel, wo er seine Pistole im Halfter trug.
»Aber Sie könnten tatsächlich jemanden verletzen«, sagte Claire. »Er hat recht, das wissen Sie.«
»Ja, ich weiß«, gab Nick zu. »Aber ich war mein ganzes Erwachsenenleben Polizist. Ich kann sonst nichts.«
Claire stieß ein kleines Lachen aus.
Nick sah sie scharf an. »Ist daran irgendwas komisch?«, fragte er.
»Tut mir leid, ich lache nicht über Ihr Unglück. Ich lache über mich selbst.« Da sie seinen verwunderten Blick sah, erklärte sie: »Die meisten Psychiater werden Psychiater, weil sie so kaputt sind, dass es eine Erleichterung für sie darstellt, sich mit den Problemen von anderen zu beschäftigen. Ich bin seit einer Woche hier, und Sie sind der erste Mensch, der es fertigbringt, dass ich nicht nur an meinen eigenen Kram denke.«
Nick musste grinsen. »Stets gern zu Diensten, Doc.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte Claire.
»Ich habe noch keine Pläne«, antwortete Nick. »Es gibt einen Rückflug um halb neun Uhr abends, ich dachte, den schaffe ich vielleicht.«
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte Claire. Sie fand sein vom Regen platt gedrücktes Haar irgendwie liebenswert. Es ließ ihn verwundbar aussehen.
»Wasser genügt. Wie wollen Sie die Sache angehen?«
»Welche Sache?«
»Nun ja, ich erwarte keine Gratisbehandlung«, sagte er und wand sich in seinem Sessel. Das Wohnzimmer war makellos aufgeräumt, es wirkte beinahe unbewohnt. Nick fielen die Gemälde von Küstenlandschaften und die Blumenstilleben auf, doch es gab keine Familienbilder – als wären Menschen aus dem Raum verbannt.
»Keine Sorge, Detective Lawler«, beruhigte ihn Claire, angetan von seinem Ehrgefühl. »Das geht aufs Haus. Sie haben es sich mehr als verdient, finden Sie nicht?«
Sie lächelte, als sie aufstand, um in die Küche zu gehen und dabei bereits über ihre Strategie für diese Sitzung nachdachte, aber sie kam nicht einmal durch die Tür.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, rief ihr Nick hinterher.
Sie drehte sich um und sah ihn an. »Nur zu«, sagte sie und lächelte.
»Warum waren Sie so von diesem Fall besessen?«
Claire zuckte mit den Achseln. »Es ist mein Job«, versuchte sie, es abzutun.
»Besessenheit gehört nicht zum Job. Und ich bin mir ziemlich sicher, sein Aussehen zu verändern, um einen Patienten aus der Reserve zu locken, ist nichts, was man im Handbuch für Psychiater findet.«
Claire lächelte gezwungen, und ihr Blick ging unwillkürlich zu der Schachtel auf dem Esstisch, die ihre dunkelsten Geheimnisse enthielt. »Sie sind hier, um über sich sprechen, nicht über mich«, sagte sie freundlich. »Ich bin sofort wieder da.«
Sobald sie in der Küche verschwunden war, huschte er zum Esstisch, neugierig, was Claire offenbar vor ihm verstecken wollte. Er sah ihren Namen mit Filzstift auf den Karton geschrieben und bemerkte das Fotoalbum daneben, und er war sich ziemlich sicher, sie wollte nicht, dass er in ihrem Leben herumschnüffelte.
Aber Nick verdiente sein Geld damit, im Leben von anderen Leuten herumzuschnüffeln, und deshalb schlug er das Album auf, ohne sich lange zu fragen, ob es richtig war. Die Zeitungsschlagzeile, die ihm wie ein Neonschild entgegenstarrte, schockierte ihn.
»Was tun Sie da?«, fragte Claire entsetzt, als sie zurückkam.
»Interessantes Hobby, das Sie da hatten«, sagte Nick, ohne von dem Artikel aufzusehen. »Artikel über Kinderschänder sammeln. Kein Wunder, dass Sie Psychiaterin geworden sind.«
Claire schlug das Album zu. »Das geht Sie nichts an.«
»Zumindest habe ich mir meine Frage selbst beantwortet, warum Sie so an Todd Quimby interessiert waren.« Er schaute auf das geschlossene Album. »Sie waren seit ihrer Kindheit von Perversen fasziniert.«
»Quimby war nicht einfach pervers. Er hat meinen Freund und sechs andere unschuldige Menschen getötet.«
Nick erstarrte. Er war zu weit gegangen. Warum setze ich andere immer unter Druck? Warum kann ich das Unvermeidliche nicht akzeptieren?
»Es tut mir leid«, sagte Nick. »Das Ganze war keine gute Idee. Ich hätte nicht hierherkommen sollen.« Er griff nach seinem Regenmantel und machte sich auf den Weg zur Tür.
»Warten Sie«, sagte Claire.
Nick blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
»Sie war meine Freundin«, sagte Claire mit brüchiger Stimme.
»Das Mädchen in dem Artikel?«, fragte Nick und wandte ihr das Gesicht zu.
»Sie hieß Amy. Die ganze Schachtel dreht sich um sie.«
Nick ging auf Claire zu. »Was ist passiert?«
»Wir sind vor diesem Haus hier Seil gesprungen. Ein Mann hielt, sagte, Amys Vater habe einen Unfall gehabt, und man habe ihn geschickt, um sie ins Krankenhaus zu bringen.«
»Sie waren Zeuge«, sagte Nick und kam um den Tisch herum.
»Aber ich konnte ihn nicht aufhalten«, antwortete Claire.
Das erklärt einiges, dachte Nick. Natürlich ist sie besessen. Von dem, was sie verloren hat und nie zurückbekommen kann.
»Hat man ihn je erwischt?«
»Nein.«
Sie senkte den Blick. Es war das erste Mal seit ihrem achten Lebensjahr, dass sie über diese Geschichte sprach, und ihre Unterlippe zitterte.
»Man hat Ihre Freundin nie gefunden, nicht wahr?«, hörte sie Nick sagen, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Claire schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er hat mich schon genug weinen sehen, dachte sie, als ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Nick trat hinter sie und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, überlegte es sich aber anders.
»Sie waren ein Kind«, sagte er leise. »Sie konnten nichts tun.«
»Ich … Ich weiß«, stammelte Claire und versuchte, sich zusammenzureißen. »Aber Ian …«
»Todd Quimby hat Ian getötet, nicht Sie.«
»Aber wegen mir.«
»Quimby war ein Ungeheuer. Sie haben ihm das Messer nicht in die Hand gedrückt.«
»Alles, was ich wollte, war, Leute wie ihn davon abhalten, anderen wehzutun. Und alles, was dabei herauskam, war ein Berg Leichen, die meinen Namen tragen.«
»Seinen Namen, nicht Ihren. Dieses Selbstmitleid bringt keinen von ihnen zurück.«
»Und das wissen Sie, weil Sie sich nie leidgetan haben«, fuhr sie ihn an. »Sie geben sich nicht die Schuld am Tod Ihrer Frau, oder?«
»Wir reden nicht über mich …«
»Sie sind hergekommen, um über sich zu sprechen. Ich bin Psychiaterin, wissen Sie noch?«, sagte Claire zornig. »Ich kenne Sie viel besser als Sie sich selbst. Man hat Sie beschuldigt, sie ermordet zu haben. Sie haben vielleicht nicht abgedrückt, aber etwas in Ihnen ist überzeugt, sie dennoch getötet zu haben.«
»Sie hätte Hilfe gebraucht! Aber ich habe ihr immer eingeredet, es würde schon wieder werden. Weil ich euch nicht getraut habe.«
Die Worte waren ihm entschlüpft, ehe es ihm bewusst wurde.
»Euch?«, fragte Claire, obwohl sie genau wusste, was er meinte.
»Psychiatern«, platzte Nick heraus.
Claire sah ihn an. »Hat Ihre Frau selbstmordgefährdet gewirkt?«
»Es gab Wochen, da kam sie nicht aus dem Bett. Und dann wieder Wochen, wo sie nicht schlafen konnte, wo sie immer etwas tun musste.«
»Hört sich nach manisch-depressiv an.«
»Das hat der Polizeipsychologe auch gesagt, nachdem sie sich umgebracht hat.«
»Waren Sie freiwillig dort? Beim Polizeipsychologen?«
»Nein«, sagte Nick, aber die Antwort war wesentlich komplizierter. Wenn man als Polizist seine Karriere nicht an die Wand fahren wollte, vermied man es unter allen Umständen, den Polizeipsychologen aufzusuchen, aus Angst, die Gespräche mit ihm könnten sich in der eigenen Personalakte wiederfinden. Ein Polizist, der glaubte, seelischen Beistand zu brauchen, suchte privat jemanden auf, jemanden, der kein Wort aus einer Sitzung zu den Polizeioberen verlauten lassen konnte, ohne gegen das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre und seine eigene ärztliche Schweigepflicht zu verstoßen.
»Dann hat man Sie offenbar gezwungen, zu einem Therapeuten zu gehen«, sagte Claire.
»Das Dezernat interne Ermittlungen«, sagte Nick. »Es hieß, entweder das oder ein Lügendetektortest.«
»Und was hat der Doktor gesagt?«
Nick holte tief Luft. »Dass meine Frau sich das Gehirn herausgepustet hat.«
»Ein menschlicher Lügendetektor«, sagte Claire, »dessen Urteil vor Gericht anerkannt wird, hat Sie für unschuldig befunden. Wohingegen die Ergebnisse eines Lügendetektortests nicht als Beweis zulässig sind.«
»Sie sind gut«, sagte Nick.
»Aber nicht annährend so gut wie Sie«, gab Claire zurück, und ihr Zorn wurde immer größer. »Eine Weile habe ich Ihnen tatsächlich geglaubt.«
Nick verstand nicht. »Alles, was ich gesagt habe, ist die reine Wahrheit«, beteuerte er aufrichtig.
»Was Ihr Frau angeht, ja. Ich weiß, dass Sie sie nicht getötet haben.«
»Wovon zum Teufel reden Sie dann?«
»Sie sind nicht nur hierhergekommen, weil Sie meine Hilfe brauchen, hab ich recht?«
»Es ist nicht so einfach.«
»Dann machen Sie es einfach«, sagte Claire, »weil ich es nämlich satthabe, irgendwelche Spielchen zu spielen.«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Nick. »Wir sind noch nicht fertig, Sie und ich. Ich kann es nicht erklären, aber es fühlt sich einfach nicht an, als wäre es vorbei.«
»Was?«, fragte Claire verwirrt.
»Es ist nur ein Gefühl.« Nick fand keine Worte mehr dafür.
Claire konnte es ebenfalls nicht in Worte fassen. Aber sie wusste, was er meinte. Auch sie spürte dieses Unbehagen. Das Gefühl, etwas nicht zu wissen, das fast zum Greifen nahe war.
Nach einem langen Schweigen sagte Nick: »Warum haben Sie gekündigt?«
Claire konnte sich ein Dutzend Fragen vorstellen, die er ihr hätte stellen können, aber das war keine davon.
»Sie wissen sehr gut, warum ich gekündigt habe«, war alles, was sie herausbrachte.
»Ich wusste es nicht, bevor ich hierherkam«, entgegnete Nick. »Aber Sie haben recht. Jetzt weiß ich es.«
Er gestikulierte in Richtung Tisch, da ihm bewusst wurde, dass er das fehlende Puzzleteil im Bild von Claire Waters gefunden hatte. »Sie sind zurückgekommen, um Ihre Freundin zu finden«, sagte er. »Sie sind hier, um Amy zu suchen.«
Claire fühlte sich vollkommen durchschaut. »Ich muss wissen, warum.«
»Das verstehe ich. Aber lassen Sie mich Ihnen eines sagen: Das Warum wird überschätzt, wenn es um tote Menschen geht. Warum macht manchmal alles schlimmer. Weil es keinen guten Grund für Mord gibt. Und manchmal stoßen eben den besten Menschen scheußliche Sachen zu. Die Suche nach Amy wird Ihren Freund Ian nicht zurückbringen.«
»Bei ihm weiß ich immerhin, wo er ist.«
Nick verstand. »Wenn Sie auf einen Abschluss aus sind, den wird es nicht geben. Besonders nicht bei einem Kind.«
»Aber wenigstens werden ihre Eltern jemanden in dem leeren Grab beerdigen können.« Ein Ausdruck von Panik huschte über ihr Gesicht. Sie fing an, in der Schachtel zu wühlen.
»Was ist los?«, fragte Nick.
Claire fand, wonach sie gesucht hatte, und zog es aus dem Karton. Es war ein Foto von Claire und Amy, die zusammen eine Puppe hielten.
»Was ist das?«
»Amy hat sie mir geschenkt. Zum achten Geburtstag. Ich habe sie begraben.«
»Die Puppe«, stellte Nick klar.
Claire nickte und starrte auf das Bild.
»Wissen Sie noch, wo?«
»Ja.«
Der Regen hatte aufgehört, als Claire mit einer Schaufel im Garten ihrer Eltern ein immer größer werdendes Loch aushob.
»Warum?«, fragte Nick.
»Sagten Sie nicht, das Warum wird überschätzt?«, erwiderte Claire.
Das Graben wirkte therapeutisch. Sie drückte die Schaufel in die dunkle, feuchte Erde und hob sie heraus. »Ich habe mir immer vorgestellt, dass er Amy irgendwo begraben hat. Ich wollte spüren, wie sie sich gefühlt haben muss. Die Erde auf ihrem Gesicht. In ihren Augen. Was dieser Schweinehund gefühlt hat, als er meine Freundin vergrub.«
Nick sah, dass sie weinte. Er nahm ihr sanft die Schaufel aus der Hand. Sie ließ sich zur Seite führen, und er grub weiter, bis er auf etwas stieß.
Er bückte sich, bekam eine Plastikhand zu fassen und zog die Puppe aus der Erde.
»Idiotisch, nicht?«, fragte Claire.
Nick sah die Puppe an. Ihre aufgemalten Augen waren kaum sichtbar. »Sie war ebenso sehr ein Teil von Ihnen wie Amy.«
»Es gab ein Begräbnis für Amy. Wir haben einen leeren Sarg beigesetzt. Das hätte nicht sein dürfen.«
»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte Nick.
»Helfen wobei?«
»Amy zu suchen. Und den Mann, der sie Ihnen geraubt hat.«
»Warum wollen Sie ihn finden?«
»Damit Sie ihn fragen können, warum.«
Claire sah ihn an. Sie wusste, seine Gründe gingen über das hinaus, was er zu erzählen bereit war. Aber sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie es nicht allein schaffen würde. Oder war es so, dass sie es nicht allein tun wollte?
Vielleicht spielt es keine Rolle. Vielleicht können wir uns gegenseitig retten.
»In Ordnung«, sagte sie.