15

Nick schreckte hoch, seine Augenlider waren offen, aber er sah nichts. Für einen kurzen Moment überfiel ihn Entsetzen, bis er sich erinnerte, dass er sich in dem fensterlosen Raum im Revier befand, wo er sich ein paar Stunden dringend benötigten Schlaf gegönnt hatte.

Er tastete nach dem Knopf, der seine Uhr beleuchtete. Die Zahlen auf dem Ziffernblatt wurden langsam scharf. 21.17 Uhr. Verdammt. Er setzte sich ruckartig auf – und stieß mit dem Kopf prompt an die obere Etage des Stockbetts, in dem er lag.

Nick rieb sich den Kopf und schwang die Beine aus dem Bett. Er schüttelte die stetig zunehmende Steifheit der mittleren Jahre ab und verfluchte die Stadt New York, weil sie die besten Detectives der Welt zwang, ihr Nickerchen auf scheußlichen Pritschen zu halten, die sie ohne Frage mindestens ein Jahrzehnt vor Nicks Geburt in einem namenlosen Billigkaufhaus gekauft hatten. Er atmete die abgestandene Luft ein und spürte eine leise Panik in sich aufsteigen. Als er vor einem Jahr das letzte Mal hier gewesen war, hatte er die Umrisse der Betten in dem Licht erkannt, das unter der Tür durchfiel. Heute sah er nur Schwärze.

Er bewegte sich vorsichtig in dem dunklen Raum, der nicht größer als ein Schrank war. Tatsächlich glaubte Nick, dass es ein Schrank gewesen war, ehe man ihn zum »Ruheraum« des Reviers beförderte. Er streifte seine Trainingshose ab, zog Jeans, Unterhemd und Pullover an und schnürte seine schwarzen Turnschuhe. Sein üblicher Anzug war heute Nacht nicht nötig. Heute Nacht würde er auf die Jagd gehen.

In den achtundvierzig Stunden, seit man Tammy Sorensons Leiche auf dem Home Plate des De Witt Clinton Parks gefunden hatte, war Todd Quimby zum gefürchtetsten Verbrecher New Yorks seit David Berkowitz geworden, dem berüchtigten Serienmörder »Son of Sam«, der fünfunddreißig Jahre zuvor sieben junge Leute ermordet hatte. Quimbys Quote lag nun bei vier Frauen – und einem lebensgefährlich verletzten Detective, Tommy Wessel –, was den Polizeichef, einen wütenden Kontrollfreak, wenn er einen guten Tag hatte, dazu veranlasste, ihm den Krieg zu erklären. Der Polizeichef war 1977 Sergeant gewesen und erinnerte sich nur zu gut daran, wie viel der Son of Sam den Big Apple seinerzeit gekostet hatte. Niemals würde er Quimby erlauben, die Menschen in Scharen aus seinem Revier zu vertreiben. Nicht unter seiner Verantwortung.

Seine Befehle waren klar: Scheiß auf das Etatdefizit der Stadt. Überstunden in jeder Höhe waren nun erlaubt, Urlaub und Freizeitausgleich für alle Polizisten in den fünf Boroughs zu widerrufen. Todd Quimby war um jeden Preis zu fassen, sie würden ihn verfolgen, bis er entweder im Gefängnis saß oder – wie der Polizeichef im kleinen Kreis angeblich gesagt hatte – tot war. Der Polizist oder die Polizisten, so ließ der Boss der Bosse verlauten, die Quimby davon abhielten, noch eine Leiche zu hinterlassen, würden mit Beförderung und fetten Posten belohnt werden.

Musste er sich gegenüber der Presse verdammt noch mal so ausdrücken, dachte Nick.

Er war seit Tammys Ermordung nicht zu Hause gewesen und hatte jede mögliche Spur verfolgt, von denen keine einzige irgendwohin führte. Noch schlimmer jedoch waren die jetzt nicht mehr endenden und immer ärgerlichen Begegnungen mit den Nachrichtenmedien New Yorks. Polizisten liebten es, ihren »Freunden« bei der Presse Tipps zu geben, und in einem aufsehenerregenden Fall wie diesem gab es so viele undichte Stellen beim NYPD, als wäre der Hoover Damm gebrochen. Jeder Reporter, der sein Geld wert war, wusste, dass Nick der leitende Detective bei dem Fall war, und das hieß, dass ihm jedes Mal beim Verlassen oder Betreten des Reviers mindestens ein Dutzend Mikrofone und Fernsehkameras vor die Nase gehalten wurden. Stets höflich – da man nie wusste, wann man sie vielleicht brauchte – gab Nick ein freundliches »Kein Kommentar« von sich, solange der Reporter nicht allzu aufdringlich wurde. In diesem Fall blickte er nur finster drein und ließ ihn stehen.

Natürlich hätte er ihnen am liebsten gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren und ihn seine Arbeit machen lassen. Und nach zwei unbarmherzigen Tagen ohne Schlaf hatte Lieutenant Wilkes Nick in den Ruheraum geschickt. Nick zog es vor, nicht mit seinem Retter zu streiten, dem Mann, der seine Karriere buchstäblich wieder zum Leben erweckt hatte, und ging ohne Protest, um sich drei Stunden aufs Ohr zu hauen.

Jetzt, vier Stunden später, kam er aus dem Ruheraum, befestigte das Halfter am Gürtel und gewöhnte seine Augen gerade rechtzeitig an das wesentlich hellere Licht im Flur, um Savarese auf sich zusteuern zu sehen.

»Ich wollte dich gerade holen«, sagte Savarese.

»Was gibt es?«, fragte Nick.

»Ich habe Nachricht von Tammy Sorensons Arbeitgeber, Biopharix. Die Personalabteilung dort bestätigt, dass sie zwei Wochen Urlaub genommen hat.«

»Hat sie ihnen gesagt, wo sie hinwill?«, fragte Nick in der Hoffnung auf eine noch so kleine Fährte.

»Nein«, sagte Savarese. »Wir haben ihre Kreditkarten überprüft. Keine Flugzeug-, Zug- oder Hotelreservierungen. Weder auf Hawaii noch anderswo.«

Sie betraten das Dienstzimmer, das vor Geschäftigkeit surrte und schlicht zu klein war für die Zahl der dem Fall zugeteilten Menschen. Detectives belegten zu zweit einen Schreibtisch und fielen fast übereinander, wenn sie hin und her liefen. Pausenlos läuteten Telefone, während Wilkes in seinem winzigen Büro am Ende des Raums Kraftausdrücke in sein Gerät schrie und dann den Hörer aufknallte.

»Glaubst du, Tammy hat sich irgendwo heimlich in Behandlung begeben?«, fragte Savarese. »In einer Privatklinik oder so?«

Nick musste unwillkürlich an seine heimlichen Fahrten zu dem Augenarzt in Boston denken.

»Wenn sie es getan hat, wird es bei den Bundesgesetzen zum Schutz der Privatsphäre eine ekelhafte Arbeit herauszufinden, wo«, entgegnete Nick. »Wann hat sie zuletzt eine Kreditkarte benutzt?«

»In der Nacht, in der wir sie gefunden haben.«

»Was zwei Nächte nach ihrer Ermordung war«, sagte Nick. Er nahm einen Filzstift und schrieb Kreditkarten in Dunkelblau auf die Kunststofftafel. »Das heißt, Quimby hat ihre Kreditkarten benutzt. Wofür?«

»Getränkerechnungen in allen angesagten Klubs Manhattans. Der Bursche war fleißig. Er war im Iguana, Baby Face, South of SoHo, Red …«

Nick kritzelte die Clubnamen auf die Tafel. »Moment mal. Das ist derselbe Laden, in dem Tammy vor drei Wochen war«, sagte er und ringelte den Namen Red ein.

»Und hier gibt es eine Kontobelastung für das Red in der Nacht, in der sie getötet wurde«, sagte Savarese nach einem Blick auf den Ausdruck.

»Was? Wieso hast du mir das nicht gesagt?«, rief Nick.

»Ich habe ihre Finanzunterlagen eben erst …«

»Ich hab’s!«, unterbrach ihn Nick mit einer Aufregung, die Savarese seit einem Jahr nicht mehr erlebt hatte. »Tammy hat ein Tagebuch über alle Klubs geführt, in denen sie Männer aufgegabelt hat. Sie war in der Nacht, in der sie getötet wurde, wieder im Red – es ist nur zwei Blocks vom De Witt Clinton Park entfernt.«

»Was bedeutet, dass Quimby sie dort getroffen hat«, ergänzte Savarese.

»Die Klubs sind sein Jagdrevier«, sagte Nick und unterstrich Red auf der Tafel.

»Dann sollten wir besser Detectives in sämtliche Klubs schicken«, knurrte Wilkes, der inzwischen bei ihnen aufgetaucht war. Weder Nick noch Savarese hatten ihn kommen sehen.

Nick angelte sich seine Jacke vom Stuhl. »Ich übernehme das Red …«

»Nicht so schnell«, unterbrach ihn Wilkes. »Maggie Stolls hat gerade angerufen. Ihre Psychiaterin ist ihr entwischt.«

Die Nachricht beunruhigte Nick und verärgerte ihn. »Hat Maggie gesagt, wie es passiert ist?«

»Sie hat Stolls erzählt, sie müsse noch spät arbeiten und ist dann abgehauen«, erwiderte Wilkes.

Claire würde nach allem, was passiert ist, doch nicht absichtlich ihre Beschützerin abhängen, dachte Nick. Oder doch?

»Maggie muss zum sicheren Haus zurückfahren, für den Fall, dass Dr. Waters dort auftaucht«, sagte Nick.

»Sie ist schon unterwegs«, erwiderte Wilkes. »Und Sie müssen los und diese verrückte Seelenklempnerin finden, bevor es Quimby tut.«

»Ich muss Quimby suchen«, gab Nick zurück und wandte sich zum Gehen.

»Und ich kann keine ermordete Psychiaterin gebrauchen«, schrie Wilkes so laut, dass alle Detectives den Kopf zu ihnen drehten. »Ich habe schon genug Probleme. Suchen Sie sie, Nick. Auf der Stelle.«

Nick blieb stehen und sah Wilkes an. Er wusste, dass es sinnlos war zu streiten.

»Okay«, sagte er einfach und ging hinaus.

Totale Finsternis. Dann gleißend helle, rote Lichter, die zu hämmerndem Hip-Hop-Beat blinkten, während Nick sich in den Klub schob und sich verzweifelt bemühte, etwas zu sehen.

Schließlich ging schwaches Dauerlicht an und gestattete es ihm endlich, seinen Blick auf das Meer von Leibern zu fokussieren, die sich umeinander im Kreis drehten wie Bakterien in verschmutztem Wasser. Er war im Red, einem der Klubs, die in Tammy Sorensons Sextagebuch auftauchten und posthum auf ihren Kreditkartenbelegen.

Als er dem Türsteher draußen seine Dienstmarke gezeigt hatte, konnte Nick nicht umhin, die dicke rote Samtkordel zu bemerken, die die wartende Menge zurückhielt. Er wusste, er übertrat in mehr als einer Hinsicht eine Grenze. Er missachtete vorsätzlich Wilkes Befehl, nach Claire zu suchen. Verletzte eine direkte Anordnung seines Vorgesetzten, des Mannes, der seinen Arsch gerettet hatte. Es war ein Vergehen, das mit Einbußen bei Urlaub oder Gehalt bestraft werden konnte, oder, wenn sie einen wirklich fertigmachen wollten, sogar mit Entlassung und Verlust aller Pensionsansprüche.

Oder mit einer Beförderung, falls er Todd Quimby hier fand.

Zumindest bis sie von seiner geheimen Behinderung erfuhren.

Wie lange kann ich es noch vor ihnen geheim halten, dachte Nick, als er sich durch die Menge schob, von anderen Gästen begafft, als wäre er eine Missbildung. Sahen sie ihm an, dass er Polizist war? Oder war er in einem Raum voller Armani und Hugo Boss mit seinen Supermarktklamotten einfach als Möchtegern gebrandmarkt? Dabei hatte er noch bei sich zu Hause vorbeigeschaut und die hippsten Sachen angezogen, die er besaß. Was habe ich mir nur eingebildet? Ich passe nie im Leben hier rein, dachte er und spürte im selben Moment, wie jemand an seine Schulter stieß.

»Entschuldigung«, sagte Nick sofort zu einem gut aussehenden Typ in den Dreißigern, der mit einer Frau tanzte, deren Kleid kaum die erkennbar künstlich vergrößerten Brüste bedeckte.

»Pass auf, wo du hintrittst, Arschloch«, sagte der Mann.

Für so etwas war Nick nicht in der Stimmung. »Eine Entschuldigung reicht dir nicht?«, fragte er mit herausforderndem Unterton.

Der Kerl, der offenbar dabei war, die Frau anzubaggern, schob sich vor Nicks Gesicht. »Du musst dich bei der Dame ebenfalls entschuldigen.«

»Und wenn ich es nicht tue?«, erwiderte Nick.

»Sind Sie der Polizist?«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Nick drehte sich um und sah einen Mann Ende vierzig, dessen Faltengesicht Zeugnis von langen Jahren im Nachtleben ablegte. »Ich bin Andros Szabo. Der Besitzer.«

Nick zeigte seine Marke. »Detective Nick Lawler«, sagte er mit einem Seitenblick auf den Blödmann, der die weise Entscheidung traf, sich zurückzuziehen. Er fing ein Zwinkern der Frau mit dem falschen Busen auf, die sich ihrerseits von dem Unruhestifter absetzte. Nick wandte sich nun Szabo zu. »Können wir uns irgendwo unterhalten?«, rief er über den Radau hinweg.

Szabo nickte, teilte die Menge und führte Nick eine Treppe hinauf in ein feudales Büro mit einem riesigen Einwegspiegel, durch den man auf die Menge der kreisenden Leiber hinausblickte.

»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Nick und zog ein Foto von Tammy Sorenson aus der Tasche. »Haben Sie diese Frau hier drin mal gesehen?«

Szabo nickte, ohne zu zögern. »Ein Jammer. So ein schönes Mädchen«, sagte er mit seinem osteuropäischen Akzent und sah Nick an. »Ich schaue Nachrichten.«

»Sie kennen sie«, sagte Nick.

»Tammy«, erwiderte Szabo. »Alle kennen Tammy«, fügte er hinzu und lächelte.

Nick wusste genau, was er meinte, wollte es aber von ihm hören. »Können Sie etwas konkreter werden?«

Szabo sah ihn an, als hielte er ihn für einen Einfaltspinsel. »Sie kommt jede Nacht herein. Trinkt etwas, geht auf Tanzfläche. Angelt sich Typen. Geht mit Typen. Jede Nacht anderer Typ. Hat einmal versucht, mit mir zu gehen«, sagte er wehmütig. »Aber lieber nicht.«

Nick zog ein Kopfbild von Quimby hervor. »Ist das einer der Kerle?«, fragte er.

Szabo legte die Stirn in Falten. »Der Mörder aus dem Fernsehen. Ich habe ihn hier drin noch nie gesehen.«

»Aber Sie würden es mir sagen, wenn Sie ihn gesehen hätten, oder?«, setzte Nick nach.

Der Klubbesitzer sah ihm direkt in die Augen. »Hier laufen jeden Abend Hunderte von Leuten rein und raus. Die schönen Frauen, die bemerke ich. Dieser Mann wäre nur irgendein Gesicht in der Menge.«

Nick wusste, dass er die Wahrheit sagte. Jetzt kam sein entscheidender Zug.

»Mr. Szabo, ich brauche Ihre Hilfe.«

»Was immer Sie wünschen.«

»Ich vermute, es gibt Überwachungskameras in dem Klub.«

»Selbstverständlich«, sagte Szabo. »Modernste Technik.«

»Wie lange bewahren Sie die Aufzeichnungen einer bestimmten Nacht auf.«

Szabo las seine Gedanken. »Sie werden auf einer Festplatte gespeichert und nach vierzehn Tagen ersetzt. Wenn Sie einen Computerexperten herschicken, kann er Ihnen die Festplatte klonen.«

Nick lächelte. »Danke. Sie machen das nicht zum ersten Mal, denke ich.«

»Ich gucke Krimiserien. Keine Ursache. Aber ich weiß nicht, ob Sie finden werden, wonach Sie suchen.«

»Warum nicht?«, fragte Nick.

»Die Kleine, Tammy – sie war eine ganze Weile nicht hier.«

»Das wissen wir«, sagte Nick. »Aber ihre Kreditkarte wurde in den letzten Wochen einige Male an Ihrer Bar eingesetzt.«

Szabos Miene verfinsterte sich. »Im Ernst? Und Sie glauben, der Mörder hat sie benutzt?«

»Mr. Szabo, können Sie mir sagen, wann Sie diese Frau tatsächlich zum letzten Mal in Ihrem Klub gesehen haben?«

Szabo seufzte. »Wie ich schon sagte, sie wollte mich mitnehmen. Ich habe abgelehnt, dann hab ich bereut. Ich habe meinen Leuten am Eingang gesagt, sie sollen mir Bescheid geben, wenn sie wiederkommt, und sie direkt zu mir schicken. Das war vor drei Wochen.«

Ein plötzliches grelles Licht von der Tanzfläche lenkte Nicks Aufmerksamkeit auf den Einwegspiegel. Der DJ hatte die hellen weißen Strahler angeschaltet, die die Menge beleuchteten.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Detective?«, fragte Szabo.

Doch Nick antwortete nicht. Sein Blick war auf eine tanzende Frau mit kurzem blondem Haar und einem kurzen schwarzen Kleid gerichtet. Dann huschte er zu einer anderen Frau, größer, aber mit demselben kurzen Haar und einem ähnlichen schwarzen Kleid. Dann zu noch einer. Und noch einer …

Quimby hatte freie Auswahl hier drin.

Nick sah jetzt noch eine, aber sie tanzte nicht. Sie wirkt zu steif, als würde sie nicht hierhergehören, dachte Nick. Sie drehte sich genau in dem Moment um, in dem die Lichter ausgingen und das Stroboskop einen roten Streifen über ihr Gesicht zucken ließ – es war ein bekanntes Gesicht.

»Würden Sie mich einen Moment entschuldigen?«, sagte Nick und drehte sich von dem Einwegspiegel weg.

»Haben Sie Ihren Mörder gesehen?«, fragte Szabo alarmiert und griff zu einem Funkgerät. »Ich lasse ihn von meinen Leuten aufhalten.«

»Nein, nicht den Mörder« erwiderte Nick und eilte zur Tür. »Nur jemand, den ich vielleicht kenne.«

»Dann sind Ihre Augen besser als meine«, sagte Szabo. »Für mich sehen alle Gesichter gleich aus von hier oben.«

»Ich komme wieder«, sagte Nick, verließ das Büro und eilte die Treppe hinunter. Er wusste, dass Szabo recht hatte. Wie konnte er seinen Augen aus dieser Entfernung trauen? Aber er musste sich überzeugen.

Er kam unten an. Es dauerte eine Weile, bis er sich an das Stroboskoplicht und die hämmernde Musik gewöhnt hatte, dann schaute er in die Richtung, wo er die Frau gesehen hatte. Nichts.

Da! Blondes Haar – als würde es brennen im zuckenden Schein des roten Lichts –, das sich durch die tanzende Menge bewegte. Die Frau hatte ein Handy am Ohr. Nick steuerte auf die Erscheinung zu, bemüht, niemanden anzurempeln, und in der Hoffnung, dass ihn die Frau nicht sah.

Er packte sie am Arm und riss sie unsanft herum.

»Finger weg!«, sagte Claire, versuchte, ihn abzuschütteln, und ließ ihr Handy dabei auf den Boden fallen.

Und dann sah sie, wer es war.

»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«, brüllte Nick über den Krach hinweg.

»Das wissen Sie genau«, zischte sie, hob das zersprungene Handy auf und zeigte es ihm. »Schauen Sie, was Sie gemacht haben.«

Nick zerrte sie in Richtung Eingang. »Sie kommen mit mir«, sagte er.

»Wohin bringen Sie mich?«

»Zu dem sicheren Haus. Oder in die Arrestzelle auf dem Revier. Ihre Entscheidung.«

Die Türsteher beäugten Nick misstrauisch, als er Claire mit sich schleifte. Er ließ seine Dienstmarke sehen, damit sie nicht einzugreifen versuchten. Claire hatte Mühe, in den schwarzen Pumps, die sie unterwegs bei Bloomingdale’s gekauft hatte, das Gleichgewicht zu wahren. Das schwarze Kleid hatte sie ebenfalls von dort, sie hatte es in der Umkleidekabine angezogen und das Personal gebeten, ihre anderen Sachen aufzubewahren, bis sie sie am Morgen abholen würde.

»Ich versuche, Ihnen zu helfen«, sagte Claire und schnappte nach Luft, während Nick sie mit sich zog.

»Sie verhelfen sich nur selbst zu einem frühen Grab, wenn Sie so weitermachen.«

Sie kamen beim Auto an. Nick ließ sie los.

»Das hat wehgetan«, sagte Claire und rieb sich den Arm.

»Nicht annähernd so weh, wie Quimby Ihnen getan hätte, wenn er Sie in diesem Aufzug entdeckt hätte. Wollen Sie sich umbringen?«

»Ich muss ihn finden.«

»Das ist mein Job, nicht Ihrer.«

»Er hat Tammy hier getroffen. Ich dachte, er würde vielleicht auf der Suche nach seinem nächsten Opfer wieder hierherkommen.«

Nick musste ihre Logik bewundern. Wenn sie nicht Psychiaterin wäre, würde sie vielleicht eine gute Polizistin abgeben. »Ich habe dasselbe gedacht, aber irgendetwas stimmt nicht.«

Claire sah ihn an. Sie erkannte, dass er beunruhigt war, was ihren Zorn auf ihn, weil er sie aus dem Klub geschleift hatte, verpuffen ließ. »Was ist los, Nick?«

»Tammy hat ihre Kreditkarte, in der Nacht, in der sie ermordet wurde, im Red benutzt, aber der Besitzer sagt, sie war seit Wochen nicht dort.«

Claire stutzte. »Tammys Eltern sagen, sie ist vor drei Wochen nach Hawaii abgereist, aber wir wissen, dass sie gar nicht hingeflogen ist.«

»Und Quimby hat sie zwei Nächte, bevor ihre Leiche auftauchte, ermordet«, erwiderte Nick und öffnete Claire die Tür.

»Quimby hat sie also zwei Nächte zuvor getroffen«, sagte Claire. »Aber ich sehe nicht, wie sie in ihrem Zustand ins Red gegangen sein könnte.«

»Dem Besitzer zufolge war sie auch gar nicht dort«, sagte Nick verwundert. »Aber er kann sich natürlich irren. Wenn ich die Überwachungsbilder aus dem Klub bekomme, werden wir es mit Bestimmtheit wissen. Aber Quimbys Gesicht war überall in den Medien. Es wäre dumm von ihm, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, und bisher hat er sich nicht dumm verhalten.«

Nick schloss Claires Tür und ging auf die Fahrerseite. Er stieg ein und blickte durch die Windschutzscheibe auf das Schild des Klubs. Helle rote Neonpunkte explodierten wie platzende Luftballons.

Claire sah Nick an. Er war jetzt ruhiger. »Tammys Krebs taucht nicht im Tumor Registry auf«, sagte sie und beobachtete, wie er reagierte.

»Was heißt das?«, fragte er und wandte ihr das Gesicht zu. Claire sah tiefe Sorge in seinen Augen.

»Jemanden mit einem aggressiven Krebs wie Tammys würde man einem Forum von Onkologen präsentieren«, erklärte Claire. »Ihr Fall war ungewöhnlich, und ihr Arzt würde normalerweise die klügsten Köpfe um ihre Ansicht bitten wollen.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Ian hat es für mich herausgefunden«, antwortete Claire. »Das war er vorhin im Klub am Handy, er hat mir gerade erklärt, dass das alles keinen Sinn ergibt.«

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Ich kam nicht dazu, ihn etwas zu fragen«, sagte Claire gereizt, »weil ich wegen Ihnen das Telefon fallen gelassen habe.«

Nick sah sie an. Er gab ihr sein Handy. »Rufen Sie ihn an«, sagte er.

»Er wird nicht rangehen, wenn er die Nummer nicht erkennt«, erwiderte Claire.

»Dann fragen wir ihn persönlich«, sagte Nick ruhig und drehte den Zündschlüssel um. Nicks Funkgerät auf dem Sitz zwischen ihnen krächzte plötzlich los.

»Midtown North Commander aus Queens.«

»Wagen acht-null-zwo auf dem Weg, Zentrale.«

Wagen 802 war die Umschreibung für Wilkes zivilen Crown Victoria. Nick griff zum Funkgerät. »Wagen sieben-zwo-drei für Zentrale«, sagte er.

»Sieben-zwo-drei«, kam die Antwort. »Zehn-zwo, Ihr Commander auf dem Bahnbetriebshof West Side. Andere Einheiten auf dem Weg.«

Nick sah Claire an. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, was das alles bedeutete.

»O nein«, sagte sie.

Savarese führte Claire und Nick an den Tatort. »Ein Streifenwagen hat sie gefunden. Die Beamten sagen, sie hat regelmäßig auf dem Strich oben in den 40ern angeschafft, aber sie wissen nicht, wie sie heißt. Ein Detective von Manhattan North kommt runter, um sie zu identifizieren.«

Dann fügte er noch eine Warnung an. »Vorsicht. Der Boss ist geladen.«

Nick kam nicht einmal mehr zu einer Antwort, weil Wilkes ihn entdeckt hatte und auf ihn zustürmte.

»Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«, fragte er.

Nick zeigte auf Claire. »Sie sagten doch, ich soll sie suchen, oder?«

Wilkes musterte Claires Aufmachung und beschloss, lieber keine Fragen zu stellen. »Wahrscheinlich gut, dass Sie da sind, Doc, weil er sich steigert.«

Er führte sie zu einer mit einer weißen Folie bedeckten Leiche. Wilkes zog die Plane weg.

Das Opfer war erneut ein blondes Mädchen in einem Outfit, das nach Prostituierter schrie: goldbesticktes Oberteil, Rock mit einem Seitenschlitz bis zur Taille. Wieder war ein mit einem holländischen Marineknoten befestigter Strick um ihren Hals geschlungen. Aber ihr Gesicht war eine rote, unkenntliche Masse.

»Er hat ihr das Gesicht weggeätzt«, bemerkte Nick grimmig.

»Als hätte er die Lauge einfach über sie geschüttet. Er wird schlampig, Nick«, sagte Wilkes.

»Oder er kommt mit seinem Latein langsam ans Ende«, ergänzte Claire.

Nick sah sich um. »Keine Anzeichen für einen Kampf.«

»Er nimmt sie in einem Wagen mit, begeht seine Tat und lädt sie hier ab«, meinte Wilkes.

Nick kniete neben der Leiche nieder und schnupperte ein paar Mal in die Luft. »Riechen Sie etwas?«, fragte er an Claire gewandt.

»Schon wieder Bittermandeln?«, fragte Wilkes.

»Ja.«

»Sie spinnen«, sagte Wilkes.

»Was hat dieser Verrückte wohl als Nächstes für uns auf Lager?«, dachte Savarese laut nach.

»Mich«, sagte Claire und würgte fast an dem Wort.