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Nick saß an seinem Schreibtisch und hatte acht Aktendeckel vor sich, von denen sieben die Geschichte eines Lebens enthielten, das Todd Quimby gewaltsam beendet hatte. Die letzte und dickste Mappe gehörte Quimby selbst. Nick hatte fast das Gefühl, als würden ihn all diese Akten ansehen und ihm die gleiche Frage stellen, die er sich selbst ebenfalls stellte: Warum?

Er würde den Familien der sieben jungen Opfer erklären, dass Quimbys mörderischer Feldzug höchstwahrscheinlich einer tiefsitzenden Geisteskrankheit entsprang. Dann fragte er sich: Ist es meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten? Reicht es nicht, dass wir nach Gerechtigkeit für die Toten streben? Was immer Gott tut, er hatte seine Gründe dafür. Gute Menschen werden ermordet, gute Menschen begehen Selbstmord.

Gute Menschen werden blind.

Und doch konnte Nick nicht anders, als zu denken, dass in diesen Akten eine Antwort versteckt sein musste. Es lag in der menschlichen Natur, einen Grund finden zu wollen, eine Erklärung dafür, warum sieben unschuldige Menschen brutal ermordet worden waren.

Eine Woche nach Quimbys großem Finale, bei dem er drei Menschenleben in einer Nacht ausgelöscht hatte, war der Mann weiter ein Rätsel. Nick wusste, er würde für immer eines bleiben. Denn da Quimby tot war, würde ihn Nick nie verhören, kein Geständnis aus ihm herausholen können, in dem er zugab, was er getan hatte, sich vielleicht sogar damit brüstete, wie es schon vorgekommen war, mit einem kranken, schiefen Lächeln im Gesicht. Es würde keinen Prozess geben, bei dem die Angehörigen der Opfer sahen, wie Gerechtigkeit geübt wurde, indem Quimby von einer Jury dazu verurteilt wurde, den Rest seines erbärmlichen Lebens im Gefängnis zu verbringen.

Nick fühlte sich betrogen. Aber das Leben ist nun mal nicht fair.

Niemand wusste das besser als er.

Er hob den Kopf, seine nachlassenden Augen waren immer noch in der Lage, die Aktivitäten im Dienstraum wahrzunehmen, wo es heute Abend ruhig zuging. Wie in der ganzen Stadt, vermutete Nick, jetzt, da Quimbys elende Seele in der Hölle schmorte.

Im Lauf der Woche war Nicks Aktie als Polizist von null auf Heldenstatus in die Höhe geschossen. Er hatte Dutzende von Interviews gegeben, die Raubtiere von den Medien hatten ihren Rachefeldzug gegen ihn nach dem Tod seiner Frau völlig vergessen. Sein Heldenmut löschte ihre Feindseligkeit aus, als wäre Jenny Lawlers Selbstmord nie geschehen. Sie waren eine einzige Bande von Schleimscheißern. Nick lächelte über die Ironie bei der ganzen Geschichte.

Toller Held. Ich konnte nicht mal das verdammte Auto fahren.

Seine Gedanken wurden von einem gehefteten Stapel Papier unterbrochen, der auf seinem Schreibtisch landete. Nick schaute auf und sah, wie sich Lieutenant Wilkes zum Gehen wandte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Muss ich Ihnen jetzt noch das Lesen beibringen?«, brummte Wilkes.

Nick griff nach den Papieren. Es war ein Fax von der Gerichtsmedizin.

Todd Quimbys Autopsiebericht.

»Irgendwelche Highlights?«, rief er seinem Boss nach.

»Große Überraschung. Der Schweinehund ist ertrunken. Nichts Ungewöhnliches, wobei die toxikologischen Ergebnisse noch ausstehen. Todesursache: lausiger Autofahrer. Sie können Ihre Akten schließen und die Fälle unter erledigt abhaken.«

Die dicken Akten auf Nicks Schreibtisch waren in der Reihenfolge geordnet, in der die Taten geschehen waren. Instinktiv zog Nick die äußerste rechte heraus – Quimbys letzten Mord.

Detective Maggie Stolls.

Ein im Dienst getöteter Polizist hatte beim NYPD Anspruch auf ein sogenanntes »Inspektoren-Begräbnis«, auch wenn der Name seit Jahrzehnten als Witz angesehen wurde. Der Rang des Inspektors entsprach in etwa dem eines Obersten beim Militär, und in der Geschichte der New Yorker Polizei war nur ein einziger Inspektor je im Dienst ums Leben gekommen.

Dennoch war Nick in der Kirche an der Flatbush Avenue in Brooklyn gewesen, um zusammen mit Tausenden anderen Polizisten, darunter sogar welche aus Kalifornien, Maggies frühen Tod zu betrauern. Insgeheim stellten manche ihr Urteilsvermögen infrage, weil sie Quimby in das sichere Haus gelassen hatte, ohne Unterstützung anzufordern, und fanden, sie habe sich ihren Tod selbst zuzuschreiben. Die ein, zwei Blödmänner, die sich trauten, es in Nicks Hörweite zu sagen, fanden sich umgehend an die Wand gedrückt, wo Nick sich vor ihr Gesicht schob und ihnen versicherte, sie würden nie auch nur einen Bruchteil von Maggies Tapferkeit aufbringen.

Vielleicht nützt alle Tapferkeit der Welt nichts, wenn man es mit einem Verrückten zu tun hat, dachte Nick. Oder vielleicht rede ich mir das nur ein, weil ich mich für Maggies Tod verantwortlich fühle. Wenn ich nur früher dort gewesen wäre

»Entschuldigen Sie«, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Raums. »Ist Detective Lawler hier?«

Nick blickte alarmiert auf. Er kannte diese Stimme, und der Mann, dem sie gehörte, hatte nichts in New York verloren, und schon gar nicht in diesem Dienstzimmer.

»Ich bin Detective Savarese«, sagte Tony und wandte sich dem Eingang zu. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich mach schon, Tony«, sagte Nick und schoss zur Tür, um die Situation durch einen Präventivschlag zu retten. Die Stimme gehörte Dr. Mangone, seinem Augenarzt aus Boston. Von Claire Waters und seiner Mutter abgesehen, war er der einzige Mensch auf dieser Erde, der Nicks Geheimnis enthüllen konnte.

Nick versuchte, es so aussehen zu lassen, als hätte er Mangone erwartet. »Schön, dass Sie da sind«, sagte er und schüttelte dem Arzt die Hand. »Was halten Sie davon, wenn wir nach draußen gehen?«

Kurz darauf traten die beiden Männer vor dem Revier auf die Straße.

»Was zum Teufel tun Sie hier?«, fragte Nick.

»Dasselbe wollte ich Sie fragen«, erwiderte Dr. Mangone. Er war nicht weniger wütend als Nick.

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Viel machen Sie aber nicht her als Detective, wenn Sie darauf nicht allein kommen«, sagte der Arzt. »Ihr Bild ist überall im Internet. Gratuliere zur Ergreifung Ihres Serienmörders.«

»Und das gibt Ihnen das Recht, mir nachzuschleichen?«

»Es gibt mir das Recht, Sie davon abzuhalten, jemanden umzubringen.«

»Ich bringe niemanden um, Doc. Es geht mir gut.«

»Sie erblinden, und es wird nicht besser werden. Sie müssen Ihre Waffe abliefern.«

»Tut mir leid, Doc. Kommt nicht infrage.«

»Dann geben Sie sie um Himmels willen irgendwem. Es geht nicht an, dass Sie mit dem Ding herumlaufen.«

»Ich bin Polizist.«

»Sie sehen nachts verdammt noch mal nichts!«, brauste Mangone auf. »Ist Ihre Frau auf diese Weise gestorben?«

»Wovon reden Sie?«, schrie Nick ihn an.

»Haben Sie sie aus Versehen erschossen? Weil Sie sie nicht gesehen haben?«

Nick war klar, er durfte die Sache nicht weiter eskalieren lassen.

»Meine Frau hat meine Waffe in die Hand bekommen und sich damit erschossen. Ihr Tod hat nichts mit meinem Problem zu tun.«

»Es ist nicht mehr nur Ihr Problem. Es ist jetzt auch meins.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Nick, während er den Doktor vom Gebäude fortführte, als wären sie alte Freunde – für den Fall, dass jemand sie sah.

»Ich habe einen Eid geleistet, niemandem zu schaden«, begann Dr. Mangone. »Wenn ich Ihnen erlaube, weiter als Polizist tätig zu sein und eine Waffe zu tragen, bringe ich zahllose Menschen in Gefahr.«

»Wollen Sie mir drohen?«, fragte Nick ungläubig.

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, erwiderte der Arzt. »Aber ich habe folgenden Entschluss gefasst: Ich gebe ihnen einen Monat, den Dienst zu quittieren, in Ruhestand zu gehen, was auch immer.«

»Und wenn nicht?«, fragte Nick, obwohl er sehr genau wusste, was kommen würde.

»Oder ich rufe den Polizeiarzt an und erzähle ihm von Ihrem Zustand.«

Nick sah ihn mit demselben harten Blick an, mit dem er zahllose Täter kurz vor ihrer Überführung angesehen hatte. Dr. Mangone zuckte mit keiner Wimper.

»Das können Sie nicht tun«, war alles, was Nick herausbrachte.

»Ich kann es tun, und ich werde es tun«, entgegnete der Arzt. »Das ist eine Frage von Leben und Tod. Wenn Sie versehentlich jemanden erschießen, klebt Blut an meinen Händen. Damit kann ich nicht leben.«

Mangone entfernte sich, und Nick war klar, dass er jedes Wort ernst gemeint hatte. Er war ratlos.

Bis er erkannte, was er zu tun hatte.

Die Neonlampen haben eine merkwürdige Corona, dachte Nick, als er den Krankenhausflur entlangging. Er versuchte, sich in das übliche Leugnen hinsichtlich seines schlechter werdenden Sehvermögens zu retten, doch nach Dr. Mangones Ultimatum eine Stunde zuvor gelang ihm dies nicht mehr.

Nick bog um die Ecke und rannte prompt in einen Arzt, der ihm zusammen mit einem Kollegen entgegenkam. Um ein Haar hätte er den Mann zu Fall gebracht.

»Entschuldigung«, sagte er hastig, »ich habe nicht aufgepasst.«

»Vielleicht sollten Sie ein wenig langsamer machen«, erwiderte der Doktor. »Wir sind hier in einem Krankenhaus.«

»Tut mir leid«, sagte Nick und ging weiter. Das Büro, das er suchte, war nur noch ein paar Meter entfernt, die er rasch zurücklegte.

Aber als er vor der Tür ankam, sah er, dass das Namensschild entfernt worden war.

Er klopfte und wartete ein paar Sekunden auf eine Antwort. Es kam keine.

Er drehte den Türknopf; die Tür war nicht verschlossen, doch er hatte nicht mit dem gerechnet, was er sah, als sie aufging.

Das Büro war leer bis auf einen geräumten Schreibtisch und zwei Stühle. Als wäre nie jemand hier gewesen.

Als wäre Claire aus seinem Leben getilgt worden.

Er wusste auch jetzt noch nicht genau, was ihn dazu getrieben hatte, sie aufzusuchen. Doch aus irgendeinem Grund musste er es tun.

Als er in das leere Büro blickte, dämmerte ihm dieser Grund.

Sein ganzes Leben lang war Nick von Freunden umgeben gewesen, von seiner Familie, seiner Frau, ehe sie in den Tiefen ihrer Depression versank. Von der Bruderschaft seiner Polizeikollegen.

Dr. Mangones Versprechen, seinen Zustand publik zu machen, änderte alles. Seine Frau war tot. Seine Freunde würden es nicht verstehen. Und seine Kollegen bei der Polizei würden ihn dafür verfluchen, dass er ihr Leben wegen seiner schwindenden Sehkraft in Gefahr brachte. Sie würden ihm die Schuld an dem geben, was seinem jungen Partner Wessel in der Vorwoche auf den U-Bahn-Schienen widerfahren war.

Und sie hätten recht.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Er fuhr herum.

»Dr. Curtin«, sagte Nick.

»Detective …?«, riet Curtin.

»Lawler. Nick Lawler«, sagte Nick und streckte die Hand aus. Curtin ergriff sie.

»Ich nehme an, Sie suchen nach Dr. Waters«, sagte Curtin. »Geht es noch um den Fall?«

»Ich muss nur alles abschließen«, sagte Nick. »Und ich hatte noch ein paar Fragen.«

»Wie Sie sehen, ist Dr. Waters nicht mehr bei uns.«

»Was ist passiert mit ihr?«, fragte Nick.

»Sie wissen, was passiert ist«, erwiderte Curtin umgehend. »Sie waren dabei, nicht wahr?« Es klang eine Spur zu anklagend für Nicks Geschmack.

»Ja, ich weiß.«

»Dann wissen Sie auch, was sie durchgemacht hat«, sagte Curtin. »Dr. Waters setzt den Rest des Jahres aus. Sie wird nächstes Jahr im Juni wieder zu uns stoßen.«

Nick hatte nicht die Absicht, so lange zu warten. »Können Sie mir sagen, wie ich sie erreiche?«, fragte er.

»Das Krankenhaus gibt keine Informationen über Patienten oder Angestellte heraus.«

Nick dachte darüber nach. Der Mann hatte keinen Grund, sich wie ein Arschloch aufzuführen.

»Hören Sie, Doktor«, begann er, »ich weiß nicht, inwieweit Sie mich für das verantwortlich machen, was Dr. Waters widerfahren ist, aber ich habe nur meinen Job gemacht, und genau das versuche ich jetzt auch wieder.«

»Todd Quimby ist tot, Detective«, sagte Curtin. »Wobei könnte Ihnen Dr. Waters jetzt noch helfen?«

»Ich brauche ein paar Aussagen von ihr«, sagte Nick so neutral wie möglich, »damit ich diese Fälle ein für alle Mal abschließen kann.«

Ob Curtin seine Lüge durchschaute, war nicht klar. Vielleicht hatte er einfach Mitleid, denn der harte Gesichtsausdruck des Arztes wurde weicher.

Vielleicht sieht er, dass ich Hilfe brauche.

»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Curtin. »Ich lasse Ihnen von meiner Assistentin geben, was Sie brauchen.«

»Danke, Doktor«, sagte Nick sofort.

»Unter einer Bedingung«, sagte Curtin. »Falls Sie jemand danach fragt, haben Sie die Informationen nicht von mir bekommen.«