18

Nick trat zur Seite, als Detective Aitken mit einer großen Papiertüte, aus der eine weiße Steppdecke ragte, aus Ians Schlafzimmer kam.

»Wie viel noch?«, fragte er den jungen Mann.

»Das war der Rest«, antwortete Aitken. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Nick sah nach, ob er an alles gedacht hatte. Dann entdeckte er Ians Computermonitor auf der andern Seite des Raums, und er erinnerte sich, was Claire ihm am Vorabend über die verdächtigen Umstände erzählt hatte, die Tammys medizinische Unterlagen umgaben.

»Nehmen Sie den PC mit. Wenn er einen Laptop oder ein Tablet hat, packen Sie die auch ein.«

»Soll die Computerabteilung nach etwas Bestimmtem suchen?«, fragte Aitken.

»Ich will alles von der letzten Woche sehen«, sagte Nick in drängendem Ton.

»Wird sofort erledigt«, sagte Aitken und fügte vor Verlassen der Wohnung noch an: »Zumindest wird der Schweinehund nicht noch einmal zuschlagen.«

Endlich allein, sah sich Nick um. Es war so still wie vier Stunden zuvor, als er und Claire ihre grausige Entdeckung gemacht hatten. Claire stand so unter Schock, dass Nick einen Rettungswagen gerufen und sie überredet hatte, sich von den Sanitätern ins Manhattan City bringen zu lassen.

»Ich bin Ärztin«, hatte Claire gesagt. »Mit mir ist alles in Ordnung.«

»Wenn Sie das ernsthaft glauben, taugen Sie aber nicht viel als Ärztin«, hatte Nick erwidert.

Er merkte jetzt, wie leid ihm diese Bemerkung tat, und er dachte, dass er zu hart zu Claire gewesen war. Außerdem fragte er sich, wie es ihr wohl ging.

Nick ging zur Schlafzimmertür und warf einen letzten Blick hinein. Die Spurensicherung hatte die blutigen Sachen größtenteils mitgenommen, deshalb sah es nicht mehr halb so schlimm aus wie zuvor.

Tu es nicht, Jenny … Ich komme … Peng!

Nick schüttelte den Kopf und versuchte, das Bild zu vertreiben.

Ihre Augen standen weit offen, sie war sofort tot gewesen. Blut floss aus der Austrittswunde im Rücken und breitete sich über die weißen Laken aus.

Er blinzelte die Erinnerung fort. Claire würde denselben Horror durchmachen – und dieselben Schuldgefühl durchleben –, wie er es nach dem Selbstmord seiner Frau getan hatte. Dann fiel ihm ein, dass er damals anschließend hatte sauber machen müssen, was seine Frau auf dem Bett hinterlassen hatte.

Niemand sollte so einen Schmerz durchmachen müssen. Niemals.

Er zog sein Handy hervor und wählte.

»Peege«, sagte er in das Gerät, »hier ist Nicky. Du musst mir einen Gefallen tun. Heute. Und ich zahle dir, was du haben willst.«

Claire glaubte, zu träumen. Die gedämpften Geräusche des Krankenhauses, die Erschöpfung, die lausige Matratze, all das brachte Erinnerungen an ihre Assistenzarztzeit zurück, wenn sie sich in den frühen Morgenstunden in ein leeres Zimmer geschlichen hatte, um sich ein Viertelstündchen aufs Ohr zu legen.

Doch als sie die Augen aufschlug und der Nebel sich löste, erkannte sie, dass sie diesmal die Patientin war.

»Hallo, Claire.«

Benommen wandte sie den Kopf. Dr. Curtin saß in Sweatshirt und Jeans in einem Sessel an der Wand. Claire versuchte, sich aufzusetzen, da sie glaubte, vorzeigbar aussehen zu müssen. Curtin stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Nicht«, sagte er in der sanftesten Stimme, die sie je von ihm gehört hatte. »Sie müssen ruhen.«

»Was ist passiert?«, brachte Claire heraus.

»Sie standen unter Schock, als man Sie brachte«, sagte Curtin. »Deshalb habe ich Sie aufgenommen.«

»In der psychiatrischen Station?«

»In der allgemeinmedizinischen«, sagte Curtin. »Niemand von uns will, dass Sie eine Aufnahme in die Psychiatrie in Ihren Unterlagen stehen haben.«

Claire nickte. »Wie lange war ich weg?«

»Etwa sechs Stunden«, sagte Curtin. »Ich habe Ihnen Arivan und ein Schlafmittel gegeben.«

»Ian …«

Curtin nickte und nahm ihre Hand. »Ich habe seine Eltern angerufen. Wir kümmern uns um die Begräbnisvorbereitungen.«

Aus irgendeinem Grund sah ihr Mentor anders aus. Hager, ausgezehrt. Ians Tod forderte offensichtlich auch von ihm seinen Tribut.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Doktor?«

»Ja, ja, mir geht es gut. Im Augenblick mache ich mir viel mehr Sorgen wegen Ihnen.«

Curtin drückte zärtlich ihre Hand.

Er kann durchaus mitfühlend sein, wenn er will, dachte sie.

»Claire, bitte hören Sie mir zu. In all den Jahren, in denen ich diese Tätigkeit mache, hat nie einer meiner Stipendiaten so viel auf sich genommen, um nicht nur einem Patienten zu helfen, sondern auch, um andere vor ihm zu schützen. Ich halte mir viel auf meine Menschenkenntnis zugute, vor allem, was meine eigenen Studenten betrifft, aber ich hätte mich, was Sie angeht, nicht gründlicher irren können.«

Claire sah ihn fragend an.

»Sie haben mich des Irrtums überführt. Und das kommt nicht oft vor, wie Sie sicherlich wissen.«

Ein mattes Lächeln trat auf Claires Gesicht. »Zumindest räumen Sie das ein.«

Es war das erste Mal, dass sie so etwas wie Humor im Gespräch mit Curtin versuchte, und er musste lächeln.

»Sie müssen eine Weile aussetzen. Vielleicht sogar das restliche Jahr.«

»Aber … aber dann gerate ich in Rückstand«, stammelte Claire.

»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, versicherte Curtin. »Sie können nächstes Jahr wiederkommen, oder das Jahr darauf, wann immer Sie wollen. Solange ich dieses Programm leite, wird ein Platz für Sie frei sein. Und ich könnte nicht stolzer sein, Sie als Studentin und Kollegin zu haben.«

Claire wusste nicht, was sie sagen sollte. Curtin spürte es und stand auf, um zu gehen.

»Ich stelle Ihre Entlassungspapiere aus. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an.«

»Doktor?«

»Ja?«

»Danke«, sagte Claire. »Für alles.«

Curtin nickte auf eine Weise, dass sich Claire tatsächlich besser fühlte.

»All das tut mir sehr, sehr leid, Claire. Sie können sich nicht einmal vorstellen, wie sehr.« Er senkte den Blick, dann sah er sie wieder an. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.«

Er drehte sich um und ging hinaus.

»Dr. Curtin?«, rief sie ihm nach.

Er fuhr herum. »Ja?«

»Eine Sache gibt es …«

Claire öffnete die Tür zu ihrer Wohnung und wurde von Furcht gepackt, als sie hineinging.

»Es ist im Schlafzimmer«, sagte sie.

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn ich zuerst einen Blick hineinwerfe, meine Liebe«, sagte Dr. Lois Fairborn freundlich.

Claire nickte. Sie war froh, dass Fairborn dabei war. Nach Hause zu kommen und das Schlachthaus aufräumen zu müssen, das ihr Schlafzimmer war, hätte sie nicht durchgestanden. Sie hatte Curtin gefragt, ob er dafür sorgen konnte, dass Fairborn sie zu ihrer Wohnung begleitete. Curtin hatte es nicht nur zugesagt, sondern versprochen, selbst mitzukommen, falls Fairborn sich weigerte.

Was Fairborn natürlich nicht getan hatte. Der Vampir hatte in der Folge ihrer Therapiesitzungen einen ziemlichen Narren an Claire gefressen und fand, sie machten gute Fortschritte – und natürlich war sie aufrichtig um Claire besorgt.

»Claire? Soll ich zuerst hineingehen?«

Claire stand reglos in der Diele und fühlte sich, als würde sie am Rand einer Klippe hängen.

»Ja, bitte.«

»Wir stehen das zusammen durch, okay?«, sagte Fairborn aufmunternd.

Claire wusste Fairborns Ermutigung zu schätzen, aber sie hatte immer noch schreckliche Angst und wollte nicht weitergehen.

Sie hörte, wie Fairborn die Schlafzimmertür öffnete. Doch es folgte kein entsetzter Aufschrei, und es dauerte nur einen Moment, bis sie zurückkehrte.

»Kommen Sie mit«, sagte sie.

»Wollen Sie mir helfen, mich meiner Angst zu stellen?«

»Ich will Ihnen helfen, sie zu überwinden.«

Sie streckte die Hand aus. Claire ergriff sie zögerlich und ließ sich von Fairborn zum Schlafzimmer führen.

»Schauen Sie«, sagte sie.

Claire sah ihre Psychiaterin an, dann machte sie einige Schritte auf die Schwelle zu. Der Anblick erstaunte sie. Von der Szenerie, die sie am Morgen gesehen hatte, war nichts mehr übrig, als hätte eine höhere Macht sie einfach ausgelöscht.

Das Schlafzimmer war makellos sauber. Ihr Bett – Ians und ihr Bett – war ordentlich gemacht, mit derselben weißen Steppdecke darauf, die Stunden zuvor von Ians Blut getränkt gewesen war. Im ganzen Raum war jedoch nicht ein Tropfen Blut, nicht die kleinste Spur von den Geschehnissen zurückgeblieben.

Dann ging die Tür zum Badezimmer auf. Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren kam heraus. Claire hielt erschrocken die Luft an.

»Amy? Bist du das?«

»Hi, Claire. Spielen wir Himmel und Hölle?«

»Was tust du hier?«

Und dann verlangsamte sich alles. Ein zweites Mädchen kam aus dem Badezimmer. Claire stockte der Atem, als das Mädchen Amys Hand ergriff.

Sie sah sich selbst als Achtjährige vor sich.

Sie bewegte sich auf die beiden zu. Und die sahen sie.

»Hallo«, sagte Amy. »Alles okay mit dir?«

»Was ist los?«, fragte die kleine Claire.

Claire blickte in den Spiegel. Sie sah Tränen über ihr Gesicht laufen.

»Hast du dich verirrt?«, fragte die kleine Claire.

»Suchst du jemanden?«, fragte Amy.

»Ich suche dich«, sagte Claire und kniete vor Amy nieder. »Wo bist du?«

»Ich bin weggegangen«, sagte Amy. »Ein Mann hat mich mitgenommen. Er war böse.«

»Was hat er mit dir gemacht?«

»Das darf ich dir nicht sagen«, antwortete Amy mit Unschuldsmiene. »Er hat gesagt, ich darf es niemandem erzählen.«

Claire begann zu weinen. »Ich habe gesehen, wie er dich mitgenommen hat. Ich war dabei. Wohin hat er dich gebracht? Bitte sag es mir.«

»Weine nicht«, sagte Amy in tröstlichem Ton. »Er hat mir wehgetan, aber jetzt ist alles gut. Ich schlafe.«

Amy drehte sich zur kleinen Claire um. »Komm, Claire, gehen wir nach draußen.«

Die beiden lächelten sie an, gingen zum Badezimmer zurück und verschwanden durch die Tür.

»Nein! Bitte geht nicht! Noch nicht! Ich muss wissen, was passiert ist.«

Sie riss die Badezimmertür auf. Niemand war darin. Sie zog den Duschvorhang über der Wanne zur Seite, als würden sie Versteck spielen. Aber die Wanne war leer.

Und dann sah es Claire. Eine zweite Tür. Am anderen Ende der Badewanne. Sie stieg in die Wanne, öffnete die Tür und ging ohne zu zögern durch.

Sie befand sich vor ihrem alten Haus. Das Zuhause, in dem sie aufgewachsen war, und sie sah sich selbst als Achtjährige vor der Einfahrt mit Amy Seilhüpfen.

»Claire! Amy!«, rief sie ihnen zu.

Aber sie sprangen einfach weiter Seil. Als hätten sie sie nicht gehört. Als wäre sie nicht da.

Oder vielleicht sind es die beiden, die nicht da sind. Wie könnten sie da sein?

Eine unsichtbare Hand zog sie zurück durch die Tür in die Badewanne.

Sie hörte dieses Geräusch, wie ein Pumpen.

Sie sah nach unten. Eine Frau saß in der Wanne und pulsierte, als wäre sie im Begriff zu explodieren. Als wären eine Million Erinnerungen im Begriff, zu bersten und sie zu ertränken.

Claire fühlte, wie sie die Hand hob und ihren Kopf berührte. Er war offen, als hätte man die Motorhaube eines Wagens aufgeklappt.

Sie sah in den Spiegel. Ihr Schädeldach war fort. Es gab nur das pulsierende Gehirn über der Stirn, das zu platzen drohte.

»Alles in Ordnung, meine Liebe?«, hörte sie eine Stimme, die wie die ihrer Mutter klang.

Claire wandte den Kopf. Dr. Fairborn stand hinter ihr und sah sie besorgt an.

»Ich habe sie gesehen. Ich habe sie gesehen«, sagte sie.

»Wen?«, fragte Fairborn.

»Amy«, sagte Claire, als müsste Fairborn es wissen. »Das Mädchen, das ich getötet habe, als ich klein war.«

»Claire …«

»Sie war meine beste Freundin, und sie wurde vor meinen Augen entführt. Ich habe nichts getan, um es zu verhindern, und jetzt ist sie tot. Ich habe sie getötet. Und jetzt habe ich meinen Freund getötet, weil Todd Quimby eifersüchtig wurde.«

»Sie haben niemanden getötet«, versicherte Fairborn.

»Doch!«, rief Claire aus, und die Tränen flossen wieder. »Ich habe mich wie eine Hure hergerichtet – seine Hure –, weil ich wollte, dass Sie und Dr. Curtin mich respektieren.«

Alles drehte sich um Claire. Sie weinte jetzt hemmungslos. Fairborn führte sie ins Wohnzimmer und setzte sie auf das Sofa.

»Ich weiß gar nicht, was mit mir ist …« Claire schluchzte.

»Nichts ist mit Ihnen«, versicherte ihr Fairborn.

»Aber das mache ich sonst nie. Ich weine nicht …«

»Sie haben Ihre Gefühle sehr lange unter Verschluss gehalten, und jetzt drängen sie an die Oberfläche. Das Beste, was Sie tun können, ist, sie herauszulassen.«

»Bitte, sagen Sie mir, warum. Warum Amy? Warum Ian?«

»Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen, Claire. Aber das sind Fragen für eine höhere Macht.«

Claire sah sie empört an. »Also bitte. Wir sind Ärzte. Wir halten uns an die Wissenschaft, wenn wir Antworten suchen.«

Fairborn nickte freundlich. »Die Wissenschaft kann uns niemals verraten, warum Ihre Freundin Amy entführt wurde oder warum Todd Quimby …«

»Doch, das kann sie. Todd Quimby litt unter einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Er hätte auf die Medikamente ansprechen müssen, die ich ihm verschrieben habe.« Claire ließ den Kopf sinken und weinte noch heftiger.

»Sie suchen nach Antworten, wo es keine gibt«, sagte Fairborn.

»Was mache ich jetzt nur?« Claire heulte.

»Vergeben Sie sich.«

»Ich weiß nicht, wie.«

Fairborn hielt inne und überlegte, wie sie antworten sollte. Dann sah sie Claire an und fasste sie an beiden Händen. »Wissen Sie noch, wie Sie Quimby zum ersten Mal gesprochen haben? Wie Sie gekämpft und sich abgestrampelt haben und ihn schließlich dazu brachten, sich alles von der Seele zu reden? Er war ihr erster Patient in Rikers, und Sie haben einen Home Run geschafft.«

»Ja, und dann habe ich den Ball fallen gelassen.«

»Weil Sie auch nur ein Mensch sind, Claire. Wie wir alle. Wir können nicht vorhersagen, wie wir im nächsten Augenblick handeln werden, geschweige denn wie andere handeln werden. Wir möchten uns gern einreden, dass wir Verhalten erklären können, wenn wir genügend Informationen haben. Aber es gibt einen menschlichen Faktor – unsere Patienten erzählen uns nicht alles. Und Gott allein weiß, was sie sich selbst nicht verraten wollen. Oder was wir uns nicht verraten wollen.«

Claire sah Fairborn an, und ihr Blick flehte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte.

»Ich weiß, Sie leiden. Das wird nicht morgen vorbei sein und nicht übermorgen, auch nicht im nächsten Monat. Es wird mit der Zeit besser werden. Aber nur, wenn Sie aufhören, sich selbst die Schuld für das zu geben, was diesen Frauen zugestoßen ist. Und Ian. Und Ihrer Freundin Amy.«

Der Tonfall von Fairborns Stimme ließ Claire daran glauben, dass es möglich sein könnte.

»Ich werde es versuchen«, sagte sie und schloss die Augen, um die Welt und ihre Grausamkeit nicht sehen zu müssen.

Todd Quimby lag auf dem Obduktionstisch, seine Brust war in Y-Form aufgeschnitten, ein Opfer der Grausamkeit seiner Mutter, das dann darangegangen war, seine Wut an anderen auszulassen. Gerichtsmediziner Ross sah auf Quimbys Leiche hinunter und untersuchte das Herz des Mannes. Es sah normal aus für einen Mann seines Alters. Ross lächelte. Es wies keine Anzeichen für das Böse auf, das Quimby in sich getragen hatte. Keins der Mörderherzen, die Ross untersucht hatte, hatte je welche aufgewiesen.

Und dann sah sich Ross Quimbys Lungen an.

Merkwürdig, dachte er. Warum sind die Blutzellen in seinen Lungen geplatzt?

Ross beschloss, Proben des Wassers aus Quimbys Lunge zu nehmen und ins Labor zu schicken.

Vielleicht gibt es eine gute Erklärung dafür, dachte er. Die Wissenschaft wird mir die Antwort liefern, wie sie es immer tut.