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Claire sah aus dem Fenster, während Nick das Zivilfahrzeug durch die Menge der Rettungsfahrzeuge manövrierte, die sich beim Central Park Reservoire versammelt hatten. Eine Reihe Übertragungswagen von Nachrichtensendern stand nicht weit entfernt mit hoch in die Luft gereckten Antennen bereit, um in die Metropolregion hinaus zu senden, was immer an grausamer Story auf sie warten mochte.

Ein Serienmörder läuft frei herum. Er hat erneut zugeschlagen. Und er ist mein Patient.

War mein Patient, korrigierte sich Claire.

Curtin hatte ihr befohlen, sich den vorangegangenen Tag freizunehmen, und sie hatte ihn zu Hause verbracht, ohne die Wohnung auch nur einmal zu verlassen. Sie hatte lang aufgeschobene Lektüre nachgeholt und sich schließlich so weit entspannt, dass sie an Ian geschmiegt in einen tiefen Schlaf gesunken war. Dann hatte Nick Lawlers Anruf sie mitten in der Nacht geweckt und daran erinnert, dass an eine echte Entspannung erst wieder zu denken war, wenn Todd Quimby gefasst war.

Am Telefon war Nick sehr höflich gewesen, fast schon kleinlaut. Er dankte Claire für Quimbys Adresse und erklärte, dass Tommy Wessel lebensgefährlich verletzt worden war. Er tat Claire leid, sie wusste, wie schwer es ihm fallen musste, die schlechte Nachricht zu überbringen, und sie wartete auf die Bitte, die unweigerlich kommen musste.

»Es hat noch einen Mord gegeben«, sagte Nick. »Wir müssen diesen Quimby stoppen, und Sie kennen ihn besser als wir.« Dann bat er sie beinahe flehentlich, ihn zum Tatort zu begleiten. Trotz Curtins Ermahnung, sich herauszuhalten – er hatte ihr am Vortag erklärt, Quimby sei nun ein Problem der Polizei –, zögerte sie keinen Augenblick.

Sie legten die kurze Strecke von ihrer Wohnung zum Central Park schweigend zurück. Claire hatte seit Amys Verschwinden in keinem Polizeiauto mehr gesessen, aber das Erlebnis des Neuartigen verflüchtigte sich schlagartig, als sie sah, wie eine leere Bahre aus dem Wagen des Gerichtsmediziners geladen wurde.

Lieutenant Wilkes stieg aus seinem alten, zivilen Crown Victoria, als Nick neben ihm hielt. Er blickte finster zu Claire auf dem Beifahrersitz.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Wilkes, als Nick aus dem Wagen stieg. Wilkes trug Jeans und ein Sweatshirt, und sein normalerweise sorgsam frisiertes rotes Haar stand kreuz und quer; offenbar kam er direkt aus dem Bett.

»Quimbys Psychiaterin.«

»Sie bringen eine Psychiaterin an den Tatort mit?«

Claire war inzwischen ebenfalls ausgestiegen und hörte Wilkes Bemerkung. Sie beschloss, ihn mit Freundlichkeit zu schlagen. »Claire Waters«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Soviel ich weiß, kennen Sie meinen Boss, Paul Curtin.«

Wilkes gab ihr die Hand und zog ihr gleichzeitig die Beine weg. »Ja, ich kenne ihn«, sagte der Lieutenant. »Und wenn die Sonne aufgeht, werde ich ihn anrufen und ihm raten, sich selbst untersuchen zu lassen, weil er Sie hierherschickt.«

»Er weiß nicht, dass sie hier ist«, sagte Nick zu seinem Boss. »Ich habe sie angerufen.«

»Wir brauchen sie nicht«, sagte Wilkes, ohne sich darum zu kümmern, dass Claire direkt vor ihm stand. »Wir haben schon genug Probleme.«

»Was wir haben, sind drei tote Mädchen in zwei Tagen«, erwiderte Nick leise, aber nachdrücklich. Er gestikulierte zu Claire. »Wir wissen, dass ihr Patient diese Morde begeht. Vielleicht hat sie etwas Erhellendes beizutragen, was sein nächster Schritt sein könnte. Schlimmer als wir jetzt dran sind, kann es mit ihr nicht werden.«

Wilkes sah ihn an. Der alte Nick Lawler war wieder da, der Mann, der kein Nein akzeptierte und mehr als ein paar als unlösbar geltende Fälle gelöst hatte. Der Lieutenant machte Nick und Claire ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Ich hoffe, Sie können uns tatsächlich helfen, diesen Verrückten festzunageln«, wandte er sich an Claire. »Denn soviel ich gehört habe, ist er diesmal wirklich durchgeknallt. Sind Sie zimperlich, Doktor?«

»Wir haben im Medizinstudium Kadaver seziert«, sagte Claire. »Ich habe schon Tote gesehen.«

»Hier geht es nicht nur um Tod«, erwiderte Wilkes. »Hier geht es um Mord. Und glauben Sie mir, das ist ein großer Unterschied.«

Claire war überzeugt, dass sie damit umgehen konnte. »Ich bin forensische Psychiaterin, Lieutenant«, sagte sie. »Wenn ich nicht mit einem gewaltsamen Tod fertig werde, sollte ich mir wahrscheinlich einen neuen Beruf suchen.«

Wilkes kam zu keiner Antwort mehr, da Reporter, die sich an der Absperrung versammelt hatten, sich auf sie stürzten und sie mit Fragen löcherten.

»Wissen Sie schon, wie das Opfer heißt?«

»Ist es wieder ein blondes Mädchen?«

»Glauben Sie, es ist derselbe Kerl, der Catherine Mills ermordet hat?«

Claire wusste, dass sie besser den Mund hielt.

Wilkes blickte direkt in die Kameras. »Hey«, sagte er. »Sie sehen uns hier stehen.« Dann zeigte er zum Tatort. »Das heißt, wir waren noch nicht dort. Geben Sie uns eine Chance, okay? Sie bekommen Ihre Story, sobald wir wissen, was los ist.«

Er machte den drei Beamten, die Wache standen, ein Zeichen, und sie hoben das gelbe Absperrband an, um sie durchzulassen.

Der Speichersee lag direkt vor ihnen, allerdings war der Tatort selbst einige Dutzend Meter entfernt, vom Laub der Bäume und dichtem Gestrüpp vor Blicken verborgen. Gewitterwolken waren aufgezogen und hatten die Sterne ausgelöscht. Nick roch den bevorstehenden Regen und wusste, er musste schnell arbeiten, ehe alle Spuren weggespült sein würden.

Als sie den Joggingpfad am Ufer erreichten, dachte Claire daran, wie oft sie hier schon gelaufen war. Sie sah den Schein der Flutlichter, die den Tatort ausleuchteten, und hoffte, ihre vor Lieutenant Wilkes zur Schau gestellte Tapferkeit würde sich nicht als bloßes Gerede erweisen.

Sie bogen um eine Kurve. Ein Detective der Spurensicherung schoss Fotos vom Ufergelände. Claire bemerkte, dass das Gras plattgedrückt war und die Spitzen der Halme vom See fortwiesen.

Sie war im Wasser, und er hat sie herausgezogen. Warum das?

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Ross, der Medical Examiner, aus dem Gebüsch auftauchte. »Er ist es, eindeutig«, sagte er, als er Nick und Wilkes sah.

»Was hat er diesmal getan, sie ertränkt?«, fragte Nick.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Ross und führte sie zu der Leiche. »In ihren Atemwegen ist kein Wasser. Wahrscheinlich hat er sie erst ermordet, dann zu einem romantischen mitternächtlichen Bad in den See mitgenommen und schließlich hier herausgeschleift. Dieser Bursche ist wirklich verrückt.«

Sie kamen zu der Leiche, und Ross zog die weiße Plane fort, mit der sie bedeckt war.

Claire stockte vor Entsetzen der Atem. Nick packte sie, damit sie nicht fiel. Das Opfer war erneut eine blonde junge Frau. Quimby hatte ihr die Augen ausgeätzt, wie er es mit Catherine Mills und dem Opfer auf Coney Island getan hatte, und er hatte seine Signatur, das Seil mit dem holländischen Marineknoten, um ihren Hals zurückgelassen.

Doch dieses Opfer war triefend nass.

Und ihr langes Haar war kurz geschnitten. In Büscheln. Amateurhaft.

»Haben wir das Haar gefunden?«, fragte Nick.

»Die Spurensicherung hat es gefunden«, sagte Ross. »Rund fünfzig Meter entfernt.«

»Warum hat er es abgeschnitten?«, fragte Wilkes.

»Wegen mir«, antwortete Claire, die am ganzen Leib zitterte. »Er hat mich getötet.«

Wilkes warf Nick einen strengen Blick zu. »Wovon zum Teufel redet sie?«

»Sie hat recht, Boss.«

»Klare Wasser«, fuhr Claire fort, ohne den Blick von dem toten Mädchen zu nehmen. »So nennt er mich. Deshalb hat er sie in den See geschleift. Deshalb hat er ihr das Haar gestutzt, so wie ich meins geschnitten habe. Er wollte, dass ich Bescheid weiß.«

»Bescheid weiß worüber?«, fragte Wilkes.

»Dass Quimby hinter Dr. Waters her ist«, sagte Nick. »Dass sie die Nächste ist.«

»Oder dass dieser Mord meine Schuld war«, brachte Claire kaum vernehmlich heraus.

Nick wandte sich an Wilkes. »Können Sie mich hier vertreten?«

»Wieso, nehmen Sie etwa noch einen Tag frei?«, entgegnete der Lieutenant.

»Nein, ich bringe Dr. Waters in ihr Krankenhaus.«

Wilkes sah Claire an. Sie zitterte immer noch, und sie tat ihm im Grunde leid.

»Keine Sorge, Doc«, sagte er. »Wir lassen diesen Irren auf keinen Fall in Ihre Nähe, okay?«

Claire konnte nur nicken.

»Sie haben uns einen Riesengefallen getan«, fuhr der Lieutenant fort und meinte es aufrichtig. »Ich werde Paul Curtin anrufen und ihn bitten, Sie für uns freizustellen. Wenn Sie es sich zutrauen.«

»Ich habe keine andere Wahl«, sagte Claire.

Ein ungewöhnliches frühmorgendliches Gewitter rumpelte am Horizont, als Curtin die Tatortfotos vom Central Park durchsah. Dann steckte er sie wieder in ein Kuvert.

»Das kann ich nicht erlauben«, sagte er zu Nick und Claire.

Sie saßen in Curtins Büro. Lieutenant Wilkes hatte sein Versprechen umgehend eingelöst und Curtin noch vom Tatort aus angerufen, nachdem Nick und Claire aufgebrochen waren. Curtin hatte darum gebeten, die Fotos sehen zu dürfen, und Wilkes hatte einen Detective beauftragt, sie auszudrucken und ins Manhattan City zu bringen.

»Ich muss es tun«, flehte Claire. »Er ist jetzt hinter mir her.«

Curtin gab nicht nach. »Das ist genau der Grund, warum Sie sich heraushalten sollten«, sagte er ungerührt.

»Aber ich muss herausfinden …«, fing sie an.

»Nicht, indem Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen«, gab Curtin zurück.

»Aber was, wenn das Ganze meine Schuld ist?«, fragte Claire.

Curtins Ton wurde milder. »Nichts, was Sie getan haben, hat dazu geführt, dass dieser Kerl loszog und Frauen umbrachte. Das hat er schon getan, bevor Sie ihn kennenlernten.«

»Ich habe mir das Haar geschnitten«, erwiderte Claire. »Und Quimby hat dieses Opfer so hergerichtet, dass es aussah wie ich.«

»Hören Sie mir zu, Claire«, sagte Curtin und sah ihr direkt in die Augen. »Es ist ausgeschlossen, dass das, was heute Morgen passiert ist, in irgendeiner Weise Ihre Schuld war.«

Nick entschied sich für einen Versuch, das Schachmatt aufzulösen. »Dr. Curtin«, begann er. »Wir hätten uns tagelang, wochenlang, vergeblich den Kopf zerbrochen, warum dieser Irre das Mädchen ins Wasser gezerrt hat, nachdem er sie umgebracht hatte. Dr. Waters hat ungefähr fünf Sekunden gebraucht, um die Sache für uns zu klären.«

Curtin ließ sich nicht erweichen. »Unter anderen Umständen würde ich eine Studentin von mir mit Begeisterung mit Ihnen zusammenarbeiten lassen, Detective. Aber ich werde nicht eine große Zielscheibe auf Dr. Waters’ Rücken malen. Sie ist in meinem Programm, und ich bin für ihre Sicherheit verantwortlich.«

»Sie von dem Fall abzuziehen, wird Quimby nicht stoppen«, sagte Nick.

»Das ist richtig«, gab Curtin zurück, »und deshalb verlange ich, dass Dr. Waters geschützt wird, bis Quimby hinter Gittern ist.«

Nick stand auf. »Das hat mein Boss bereits angeordnet«, sagte er. »Sie wird sowohl zu Hause als auch im Krankenhaus bewacht werden.«

Claire war es leid, zuzuhören, wie die beiden Männer über sie bestimmten. »Ich sitze übrigens mit Ihnen hier am Tisch, falls es Sie beide interessiert, was ich denke«, sagte sie. »Und so oder so, ich brauche keinen Schutz.«

»Nun, Doktor«, sagte Curtin in diesem herablassenden Ton, den Claire hasste, »Sie haben hier nichts mitzureden. Ich werde keinen Stipendiaten in meiner Verantwortung verlieren.«

Claire wusste, er würde seine Meinung nicht ändern, und nickte widerwillig.

»Kommen Sie«, sagte Nick. »Ich fahre Sie nach Hause.«

Eine halbe Stunde später hielt Nick vor einem Wohnblock an der Upper East Side, nicht dort, wo Claire und Ian wohnten, sondern genau am anderen Ende der Stadt. Der Regen hatte aufgehört, und die Luft war frisch, vom Dreck der City reingespült.

»Ich dachte, Sie bringen mich nach Hause«, sagte Claire.

»Das tue ich«, erwiderte Nick und stellte den Motor ab. »In Ihr vorübergehendes Zuhause.«

Durch die Windschutzscheibe sah Claire, dass Ian mit einer Sporttasche zu seinen Füßen neben einer attraktiven Frau, die sie nicht kannte, auf dem Gehsteig stand.

»Die Stadt hat das Haus in den Achtzigerjahren von einem Drogendealer beschlagnahmt«, sagte Nick. »Wir halten hier Zeugen unter Verschluss. Sammy the Bull hat hier gewohnt, während er gegen Gotti aussagte.«

»Und die Frau neben meinem Freund?«

»Ihre Bewacherin«, erwiderte Nick.

Claire wollte gerade die Tür öffnen, als Nick ihre Hand packte. »Hören Sie«, sagte er. »Wir geben keine Einzelheiten über den Mord im Central Park an die Medien.«

»Ich soll also gegenüber Ian den Mund halten?«, vermutete sie.

»Alles, was er weiß, ist, dass sie als potenzielle Zeugin geschützt werden«, sagte Nick. »Sie müssen es dabei belassen.«

»Sie haben mein Wort, Commander«, scherzte Claire.

Nick musste lächeln. »Kommen Sie, ich stelle Sie vor.«

Sie stiegen aus dem Wagen. Claire rannte schnurstracks in Ians Arme.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, mach dir keine Sorgen«, antwortete sie, ohne ihn loszulassen.

»Dr. Claire Waters«, sagte Nick. »Detective Maggie Stolls.«

Claire streckte die Hand aus, mit der anderen hielt sie weiter Ian fest. Detective Stoll musste darüber lachen, als sie ihr die Hand schüttelte. »Ich bin Ihre Zimmergenossin, solange die Geschichte dauert«, sagte sie. Maggie hatte ein offenes, ehrliches Gesicht, das Claire auf Anhieb gefiel. Sie war groß und durchtrainiert, das dunkelbraune Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, was Claire an eine Tennisspielerin erinnerte, die sie im Fernsehen gesehen hatte.

»Maggie wird rund um die Uhr bei Ihnen sein«, sagte Nick. »Einschließlich Ihrer Zeit im Krankenhaus.«

Claire ließ Ian los und sah ihn an. »Du bleibst nicht hier?«, sagte sie.

Ian zeigte auf die Sporttasche. »Ich habe ein paar Sachen für dich zusammengepackt«, sagte er. »Aber sie wollen, dass ich bei uns zu Hause bleibe.«

»Dann sollten Sie lieber Ian beschützen«, verlangte Claire.

»Wir haben rund um die Uhr getarnte Leute in Ihrer Straße, für den Fall, dass Quimby dort auftaucht«, versicherte ihr Nick.

»Und wie sieht es mit Ihnen aus?«, fragte sie Nick. »Bleiben Sie bei mir?«

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Ian kurz das Gesicht verzog.

Ist er eifersüchtig? Claire gefiel die Vorstellung, dass Ian sie so sehr liebte, dass er auf einen andern Mann eifersüchtig war, mit dem sie Zeit verbrachte, auch wenn es nur dienstlich war.

Ein Kreischen aus Nicks Funkgerät unterbrach ihre Gedanken. »Wagen sieben-null-zwo«, kam es aus der Funkzentrale, »zehn-zwo, Ihr Kommando.«

»Zehn-vier, Central«, antwortete Nick. »Äh, Sie rufen mich in die Dienststelle zurück«, sagte Nick zu Claire und zeigte auf das Funkgerät. »Es ist gegen die Vorschriften, dass männliche Beamte weibliche Zeugen über Nacht bewachen. Und Quimby ist mein Fall, je schneller ich ihn festnagle, desto eher können wir Sie wieder in Ihr normales Leben entlassen.«

»Kommen Sie«, sagte Detective Stolls zu Claire, um die Spannung zu lösen. »Ich zeige Ihnen Ihre vorübergehende Bude.«

Claire sah Nick hinterher, als er zum Wagen ging. »Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, rief sie ihm nach.

»Das werde ich«, sagte Nick, stieg in den Impala und fuhr davon.