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Anfänglich noch mühelos begleitete die Ra den Bathyskaphen in die immer dicker werdenden Schichten der Jupiterluft hinab, gefolgt von einem Schwarm von Kameradrohnen. Bathyskaph − das war schon zum Zeitpunkt von Falcons Geburt ein archaisches Wort gewesen, und doch passte es, dachte er, denn was war dies anderes als eine Tauchfahrt in einen mächtigen Ozean?
Es dauerte nicht lange, dann durchstieß die Ra Wolkenschicht D und sank in zunehmende Dunkelheit hinein. Im Verlauf des Sinkflugs stiegen der Druck und die Temperatur stetig, und Falcon ließ sich von Trayne in regelmäßigen Abständen die Messdaten geben. Die unter ihrem mit erhitztem Wasserstoff gefüllten Auftriebskörper hängende Ra war natürlich auf ein ausgewogenes Verhältnis von Lufttemperatur und Druck angewiesen, um nicht unkontrolliert in die Tiefe zu stürzen. Die Ra war technisch höher entwickelt als die alte Kon-Tiki und konnte dank der in der ozeanischen Luft der Venus erprobten Technologien größere Tiefen erreichen, ohne Gefahr zu laufen, zerquetscht zu werden. Trotzdem hatten sie wenig mehr als zweihundert Kilometer zurückgelegt – Orpheus’ Abstieg hatte kaum begonnen –, als Falcon widerstrebend stoppte.
»In dieser Höhe können wir gefahrlos bleiben«, meldete er NGB-4 und durch sie dem Kontrollzentrum auf Amalthea. »Ich bedaure, dass ich dir nicht weiter folgen kann, Orpheus. All deine Systeme arbeiten einwandfrei, soweit ich sehe.«
»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben, Commander Falcon.«
Auf dem Monitor lächelte Hans Young. »Wie all die wirklich guten Maschinen ist er darauf programmiert, höflich zu sein. Halten Sie Ihre Position, Ra, und machen Sie die Relaisausrüstung einsatzbereit.«
»Verstanden.«
Falcon und Trayne machten sich daran, die Ra in einen stationären Funkrelaisposten zu verwandeln. Um die Hülle herum entfalteten sich Antennen, darunter auch die langen Schlepp-Rezeptoren, über die Falcon an anderen Tagen mit seinen Freundinnen, den Medusen, kommunizierte. Aber sie behielten beide die Bilder von Orpheus’ Abstieg in eine immer dichtere Dunkelheit im Auge, im sichtbaren Licht, per Radar und sogar Sonar. Die meisten Kameradrohnen folgten ihm weiterhin, aber der Druckanstieg und die Hitze machten ihnen zu schaffen, und ein oder zwei schienen bereits den Geist aufzugeben und schickten nur noch leere blaue Bilder nach oben.
Ein entscheidender Moment kam, als Orpheus’ Ballonhülle abgeworfen wurde und wegtreiben durfte.
»Schon zu tief für eine Fahrt mit dem Heißluftballon«, murmelte Falcon. »Aber schauen Sie sich die Abstiegsgeschwindigkeit an. Sie hat kaum zugenommen, selbst ohne den Ballon. Der Luftwiderstand und der eigene Auftrieb der Tauchkugel reichen jetzt, um sie abzubremsen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Trayne stirnrunzelnd. »Ich hab’s ja gewusst, ich hätte diese Vorbesprechungen in Anubis nicht schwänzen sollen … Wie wollen sie Orpheus denn ohne den Ballon heimholen?«
Falcon musterte ihn. »Sie hatten bisher wohl nicht viel mit Maschinen zu tun, hm? Er kommt nicht mehr nach Hause, Trayne – ebenso wenig wie die Charons, die ihn nach unten bringen. Ebenso wenig, wie Mariner 4 jemals von ihrem Vorbeiflug am Mars zurückgekommen ist.«
»Was?«
»Spielt keine Rolle.«
»Das ist nicht ganz richtig, Commander«, widersprach Charon 1. »Bevor sein Fahrzeug letztendlich zerstört wird – oder vielmehr, bevor er zerstört wird, da es keinen Unterschied zwischen Fahrzeug und Passagier gibt –, wird Orpheus’ Identitätskomplex über die von uns eingerichteten Relaisstationen – darunter auch Ihre – hochgeladen, und hier in NGB-4 und auf Amalthea werden Kopien gespeichert. Ich weiß, dass diese Art der Replikation von Bewusstseinsinhalten für Menschen kein Trost ist, aber für uns genügt es, wenn die Kopie nicht vom Original zu unterscheiden ist. Sie sehen also, Dr. Trayne Springer, in gewissem Sinn wird er heimkommen …«
Auf mehreren Monitorschirmen flammte ein Lichtblitz auf.
Trayne schreckte hoch. »Was war das? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
Falcon schüttelte den Kopf. »Er hat bereits die Thermalisierungsschicht erreicht. Da ist es so heiß, dass alles zerstört wird, was durch Hitze zerstört werden kann. Jedenfalls alles Organische. Das ist die ultimative Grenze für Jupiterleben.«
»Nun ja, die Grenze für die Lebensformen, von denen wir wissen, Commander«, korrigierte Hans Young vorsichtig. »Das ist ein Ziel des Abstiegs. Nachzusehen, was dort unten ist …«
In die größten Tiefen des Planeten vorzudringen war seit der Kon-Tiki einer von Howard Falcons Träumen gewesen. Er sehnte sich danach, Orpheus zu folgen. Aber er konnte nur hier warten und zusehen.
Unerbittlich stürzte die Sonde weiter in die Tiefe. Der Druck und die Temperaturen, die von ihr aufgezeichnet wurden, stiegen ständig und ließen einen Vergleich nach dem anderen hinter sich: ein höherer Druck als auf der Oberfläche der Venus, als im tiefsten Tiefseegraben der Erde.
Und als die Anzeige des Druckmessers auf zweitausend Atmosphären zukroch, gab die Sonde ein weiteres Geheimnis preis. Ihr Rumpf kollabierte unvermittelt, und diesmal war es Falcon, der dachte, sie wäre von einer Katastrophe ereilt worden. Aber die verbliebene Handvoll auf solche Tiefen spezialisierter Kameras zeigten, dass zwar die sphärische Hülle implodiert, aber so etwas wie ein offenes Gitterwerk erhalten geblieben war, eine raumfüllende, regelmäßige Anordnung von Stangen und Verbindungen.
»Jetzt erkennt man das Grundkonzept der Konstruktion«, sagte Hans Young. »Wir kämpfen nicht gegen den Druck, wir geben ihm nach. Obwohl die Jupiterluft das ehemalige Innere geflutet hat, verleihen die kleinen, sehr robusten Ballasttanks, die tief in die verbliebene Struktur eingebettet sind, dem Fahrzeug nach wie vor einen gewissen Auftrieb.«
»Und ich lebe auch noch«, meldete sich Orpheus. »In Diamantenchips heruntergeladen, ebenso wie die Charons. Wir fühlen uns wohl.«
»Angeber«, sagte Falcon leise.
Die Sonde stürzte durch eine Wolkenschicht nach der anderen, während aus der immer dicker werdenden Luft exotische Arten von Molekülen gerannen. Aber das Licht verblasste rasch, und bald blieben auch die letzten und widerstandsfähigsten Kameradrohnen zurück, sodass keine weiteren Bilder aus dem Spektrum des sichtbaren Lichts mehr hereinkamen.
In einer Tiefe von ungefähr fünfhundert Kilometern, etwa dort, wo man früher einmal Jupiters Oberfläche vermutet hatte, entdeckte Orpheus, der seine Umgebung mit Radar, Sonar und anderen Sensoren inspizierte, die Anwesenheit klumpiger, körniger Massen irgendwelcher Art, die in der Luft trieben. Quasifeste »Wolken« in einer Luft von unglaublicher Dichte, mutmaßte Falcon, die frühere Beobachter vielleicht zu dem Gedanken verleitet hatten, dies sei eine feste Kruste.
Bald darauf hatte Orpheus jedoch auch diese faszinierende Schicht durchstoßen, und er fiel noch tiefer. Die dichte Wasserstoffluft, durch die er nun stürzte, wirkte leer und leblos; ihr fehlte die sonnenhelle Pracht der hohen Medusenwolken. Zeit verging. Falcon war sicher, dass sich die Berichte über diese abenteuerliche Mission im gesamten Sonnensystem verbreiteten, aber er fragte sich, wie viele Zuschauer in ihren Kuppeln auf Triton oder in den Gärten der Erde abschalten würden, wenn die Informationen über diese trübe Phase der Mission im Schleichtempo der Lichtgeschwindigkeit zu ihnen gelangten.
Der nächste Meilenstein kam in einer Tiefe von tausend Kilometern.
»Druck achtzigtausend Atmosphären«, berichtete Orpheus. »Temperatur 527 Grad Celsius. Druck- und Temperaturprofile entsprechen bisher weitgehend den theoretischen Modellen. Allerdings wäre es zweckdienlicher, den Wasserstoff-Helium-Brei jetzt als Flüssigkeit statt als Gas zu bezeichnen …
Hier ist Orpheus. Wir haben die Übergangszone durchquert und Jupiters Ozean aus molekularem Wasserstoff erreicht. Die ersten intelligenten Lebewesen, denen das jemals gelungen ist.«
Falcon warf Trayne einen Blick zu. »Ich bin sicher, dass ich da einen Hauch von Stolz in seiner Stimme höre.«
Trayne zuckte die Achseln. »Warum auch nicht?«
»Die erste Etappe ist abgeschlossen. Eine weitere Hüllenschicht wird abgeworfen. Ich setze den Abstieg fort, während Charon 2 an dieser Zwischenstation bleibt.«
»Das kann ich bestätigen«, rief eine neue Maschinenstimme: Charon 2. »Ich bin bereit, meine Position hier zu halten und die damit verbundenen Pflichten zu übernehmen.«
Und Falcon war erstaunt darüber, was Charon 2 als Nächstes sagte:
»Geh mit Gott, Orpheus.«
Der Abstieg ging weiter.