24

Anfänglich noch mühelos begleitete die Ra den Bathyskaphen in die immer dicker werdenden Schichten der Jupiterluft hinab, gefolgt von einem Schwarm von Kameradrohnen. Bathyskaph − das war schon zum Zeitpunkt von Falcons Geburt ein archaisches Wort gewesen, und doch passte es, dachte er, denn was war dies anderes als eine Tauchfahrt in einen mächtigen Ozean?

Es dauerte nicht lange, dann durchstieß die Ra Wolkenschicht D und sank in zunehmende Dunkelheit hinein. Im Verlauf des Sinkflugs stiegen der Druck und die Temperatur stetig, und Falcon ließ sich von Trayne in regelmäßigen Abständen die Messdaten geben. Die unter ihrem mit erhitztem Wasserstoff gefüllten Auftriebskörper hängende Ra war natürlich auf ein ausgewogenes Verhältnis von Lufttemperatur und Druck angewiesen, um nicht unkontrolliert in die Tiefe zu stürzen. Die Ra war technisch höher entwickelt als die alte Kon-Tiki und konnte dank der in der ozeanischen Luft der Venus erprobten Technologien größere Tiefen erreichen, ohne Gefahr zu laufen, zerquetscht zu werden. Trotzdem hatten sie wenig mehr als zweihundert Kilometer zurückgelegt – Orpheus’ Abstieg hatte kaum begonnen –, als Falcon widerstrebend stoppte.

»In dieser Höhe können wir gefahrlos bleiben«, meldete er NGB-4 und durch sie dem Kontrollzentrum auf Amalthea. »Ich bedaure, dass ich dir nicht weiter folgen kann, Orpheus. All deine Systeme arbeiten einwandfrei, soweit ich sehe.«

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben, Commander Falcon.«

Auf dem Monitor lächelte Hans Young. »Wie all die wirklich guten Maschinen ist er darauf programmiert, höflich zu sein. Halten Sie Ihre Position, Ra, und machen Sie die Relaisausrüstung einsatzbereit.«

»Verstanden.«

Falcon und Trayne machten sich daran, die Ra in einen stationären Funkrelaisposten zu verwandeln. Um die Hülle herum entfalteten sich Antennen, darunter auch die langen Schlepp-Rezeptoren, über die Falcon an anderen Tagen mit seinen Freundinnen, den Medusen, kommunizierte. Aber sie behielten beide die Bilder von Orpheus’ Abstieg in eine immer dichtere Dunkelheit im Auge, im sichtbaren Licht, per Radar und sogar Sonar. Die meisten Kameradrohnen folgten ihm weiterhin, aber der Druckanstieg und die Hitze machten ihnen zu schaffen, und ein oder zwei schienen bereits den Geist aufzugeben und schickten nur noch leere blaue Bilder nach oben.

Ein entscheidender Moment kam, als Orpheus’ Ballonhülle abgeworfen wurde und wegtreiben durfte.

»Schon zu tief für eine Fahrt mit dem Heißluftballon«, murmelte Falcon. »Aber schauen Sie sich die Abstiegsgeschwindigkeit an. Sie hat kaum zugenommen, selbst ohne den Ballon. Der Luftwiderstand und der eigene Auftrieb der Tauchkugel reichen jetzt, um sie abzubremsen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Trayne stirnrunzelnd. »Ich hab’s ja gewusst, ich hätte diese Vorbesprechungen in Anubis nicht schwänzen sollen … Wie wollen sie Orpheus denn ohne den Ballon heimholen?«

Falcon musterte ihn. »Sie hatten bisher wohl nicht viel mit Maschinen zu tun, hm? Er kommt nicht mehr nach Hause, Trayne – ebenso wenig wie die Charons, die ihn nach unten bringen. Ebenso wenig, wie Mariner 4 jemals von ihrem Vorbeiflug am Mars zurückgekommen ist.«

»Was?«

»Spielt keine Rolle.«

»Das ist nicht ganz richtig, Commander«, widersprach Charon 1. »Bevor sein Fahrzeug letztendlich zerstört wird – oder vielmehr, bevor er zerstört wird, da es keinen Unterschied zwischen Fahrzeug und Passagier gibt –, wird Orpheus’ Identitätskomplex über die von uns eingerichteten Relaisstationen – darunter auch Ihre – hochgeladen, und hier in NGB-4 und auf Amalthea werden Kopien gespeichert. Ich weiß, dass diese Art der Replikation von Bewusstseinsinhalten für Menschen kein Trost ist, aber für uns genügt es, wenn die Kopie nicht vom Original zu unterscheiden ist. Sie sehen also, Dr. Trayne Springer, in gewissem Sinn wird er heimkommen …«

Auf mehreren Monitorschirmen flammte ein Lichtblitz auf.

Trayne schreckte hoch. »Was war das? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Falcon schüttelte den Kopf. »Er hat bereits die Thermalisierungsschicht erreicht. Da ist es so heiß, dass alles zerstört wird, was durch Hitze zerstört werden kann. Jedenfalls alles Organische. Das ist die ultimative Grenze für Jupiterleben.«

»Nun ja, die Grenze für die Lebensformen, von denen wir wissen, Commander«, korrigierte Hans Young vorsichtig. »Das ist ein Ziel des Abstiegs. Nachzusehen, was dort unten ist …«

In die größten Tiefen des Planeten vorzudringen war seit der Kon-Tiki einer von Howard Falcons Träumen gewesen. Er sehnte sich danach, Orpheus zu folgen. Aber er konnte nur hier warten und zusehen.

Unerbittlich stürzte die Sonde weiter in die Tiefe. Der Druck und die Temperaturen, die von ihr aufgezeichnet wurden, stiegen ständig und ließen einen Vergleich nach dem anderen hinter sich: ein höherer Druck als auf der Oberfläche der Venus, als im tiefsten Tiefseegraben der Erde.

Und als die Anzeige des Druckmessers auf zweitausend Atmosphären zukroch, gab die Sonde ein weiteres Geheimnis preis. Ihr Rumpf kollabierte unvermittelt, und diesmal war es Falcon, der dachte, sie wäre von einer Katastrophe ereilt worden. Aber die verbliebene Handvoll auf solche Tiefen spezialisierter Kameras zeigten, dass zwar die sphärische Hülle implodiert, aber so etwas wie ein offenes Gitterwerk erhalten geblieben war, eine raumfüllende, regelmäßige Anordnung von Stangen und Verbindungen.

»Jetzt erkennt man das Grundkonzept der Konstruktion«, sagte Hans Young. »Wir kämpfen nicht gegen den Druck, wir geben ihm nach. Obwohl die Jupiterluft das ehemalige Innere geflutet hat, verleihen die kleinen, sehr robusten Ballasttanks, die tief in die verbliebene Struktur eingebettet sind, dem Fahrzeug nach wie vor einen gewissen Auftrieb.«

»Und ich lebe auch noch«, meldete sich Orpheus. »In Diamantenchips heruntergeladen, ebenso wie die Charons. Wir fühlen uns wohl.«

»Angeber«, sagte Falcon leise.

Die Sonde stürzte durch eine Wolkenschicht nach der anderen, während aus der immer dicker werdenden Luft exotische Arten von Molekülen gerannen. Aber das Licht verblasste rasch, und bald blieben auch die letzten und widerstandsfähigsten Kameradrohnen zurück, sodass keine weiteren Bilder aus dem Spektrum des sichtbaren Lichts mehr hereinkamen.

In einer Tiefe von ungefähr fünfhundert Kilometern, etwa dort, wo man früher einmal Jupiters Oberfläche vermutet hatte, entdeckte Orpheus, der seine Umgebung mit Radar, Sonar und anderen Sensoren inspizierte, die Anwesenheit klumpiger, körniger Massen irgendwelcher Art, die in der Luft trieben. Quasifeste »Wolken« in einer Luft von unglaublicher Dichte, mutmaßte Falcon, die frühere Beobachter vielleicht zu dem Gedanken verleitet hatten, dies sei eine feste Kruste.

Bald darauf hatte Orpheus jedoch auch diese faszinierende Schicht durchstoßen, und er fiel noch tiefer. Die dichte Wasserstoffluft, durch die er nun stürzte, wirkte leer und leblos; ihr fehlte die sonnenhelle Pracht der hohen Medusenwolken. Zeit verging. Falcon war sicher, dass sich die Berichte über diese abenteuerliche Mission im gesamten Sonnensystem verbreiteten, aber er fragte sich, wie viele Zuschauer in ihren Kuppeln auf Triton oder in den Gärten der Erde abschalten würden, wenn die Informationen über diese trübe Phase der Mission im Schleichtempo der Lichtgeschwindigkeit zu ihnen gelangten.

Der nächste Meilenstein kam in einer Tiefe von tausend Kilometern.

»Druck achtzigtausend Atmosphären«, berichtete Orpheus. »Temperatur 527 Grad Celsius. Druck- und Temperaturprofile entsprechen bisher weitgehend den theoretischen Modellen. Allerdings wäre es zweckdienlicher, den Wasserstoff-Helium-Brei jetzt als Flüssigkeit statt als Gas zu bezeichnen …

Hier ist Orpheus. Wir haben die Übergangszone durchquert und Jupiters Ozean aus molekularem Wasserstoff erreicht. Die ersten intelligenten Lebewesen, denen das jemals gelungen ist.«

Falcon warf Trayne einen Blick zu. »Ich bin sicher, dass ich da einen Hauch von Stolz in seiner Stimme höre.«

Trayne zuckte die Achseln. »Warum auch nicht?«

»Die erste Etappe ist abgeschlossen. Eine weitere Hüllenschicht wird abgeworfen. Ich setze den Abstieg fort, während Charon 2 an dieser Zwischenstation bleibt.«

»Das kann ich bestätigen«, rief eine neue Maschinenstimme: Charon 2. »Ich bin bereit, meine Position hier zu halten und die damit verbundenen Pflichten zu übernehmen.«

Und Falcon war erstaunt darüber, was Charon 2 als Nächstes sagte:

»Geh mit Gott, Orpheus.«

Der Abstieg ging weiter.

Die Medusa-Chroniken
titlepage.xhtml
116C999F5D5D4F2D8D640F7EFB3408AA.xhtml
7BC7720C11E5416ABFF684B7B9126140.xhtml
87C104AA432F435D82255F3397BB1E74.xhtml
306325171B994F5B87D270DACF1CA0BA.xhtml
C6C02E4F34514F2094A4BAB24277A495.xhtml
D3A6BC2A40FF4175878201DC24D3D168.xhtml
6EB1C869E1434710928DD9CE1376D0CA.xhtml
0FAD1F4D179643A691B411C5437FAECD.xhtml
4F6DB246174C4A9E81115FCB7902FAC4.xhtml
078748868F904126AAEC5FCCDDD210FA.xhtml
7CD89E3618774CDBAC7178D62887FA11.xhtml
F376C852C1BC4525B4367D4335AD1EA8.xhtml
395673EA8CC842048999256DD062BB1A.xhtml
9C837AAB87844FF69A6578D3D1104588.xhtml
88B268FF05C349F98DD454E667CA0806.xhtml
6585CE5F44A34F578CFCD46398C145C9.xhtml
5775F5D556A24117B665083F7EC3341C.xhtml
E4B6D576552C4FBAAB8D1329BD9E1A64.xhtml
FDBD2EDA886A4E6791013E3A430C16AE.xhtml
C0126ECBD0554104B9EE48D402C58EE0.xhtml
06AF258915014C60BD3A1014C83B41EE.xhtml
B9DA5C4498404A589EC2C6A13DC8BB96.xhtml
66CB7B2477B048698ECD3AB9CE889C77.xhtml
A0453AAB324D4C409868AB286B30BBA2.xhtml
9A63A446F15D42A4AC415045B9603E98.xhtml
86DBA372C66C4862ACCB9642A41B5D5F.xhtml
67129CCA92AF483DBF654AE994A4D780.xhtml
60AD266DFFBB4DC7BD2062024382B52B.xhtml
0D435C0025644C1D9FC488E8ED91CB2B.xhtml
0E5AC4FB6CEE4CC6A7A19A965BAADF1B.xhtml
1FB5036E466D46C48ABCCBF47A0E7EF2.xhtml
D804B7FF5BDA45A5A77EB001A6AA452A.xhtml
1F3B9CDDC2C04CA49070B30F0F792A38.xhtml
D5A9FC93501E4593B657168AD2C8A590.xhtml
CB981A853CEB4F4CB059D6194B367C59.xhtml
5C536FA2014D4A1E9AD95971D78E78E3.xhtml
8C4505AB43B644E9956E3FC44932323B.xhtml
0CDA0F84A6FF47BAB05F478F2B5AFFCD.xhtml
6EC73188445E4F578CA841547E0E0ED8.xhtml
81D06D431C5D4DE7925CE2F4835CB832.xhtml
B353AA8FD6384EB2A725E5EE173927D8.xhtml
4D1A35839ECE47439CE3B982BB84F661.xhtml
1D3DCF787DA6464EA0216EED92C3C43A.xhtml
07AC4C08E89F42AD8FD00FBD8BF41EFB.xhtml
D82A04014C5044EE9FDD052E24B292D7.xhtml
B2CDF7C017A24DE8A52E901BB44180B6.xhtml
9649D7C8529A4B8696534C54DF98B6A1.xhtml
50F86E4C5AA7411C8D0D818C84EF74B7.xhtml
FD0BE4C21F4A47ED8A37128108277F00.xhtml
D64B9B0BB6BB428D888A6AED399C8E81.xhtml
3DD8F615F00D4AFE90AA6A0134B0E1BA.xhtml
81C55CA7E45A427688A1ADFCC0E52993.xhtml
CFDFFA6D35A84C5EBF84BC6CD07BDE6D.xhtml
E5827406F6D74836BEDCBAD7C392F15C.xhtml
3E78CC5181704B0EA8A7949BE7F29B3E.xhtml
00823BCA29B04C5AAAC8662E59720243.xhtml
C9756F4EC4CA4716BBBBF45932237985.xhtml
33CE42BDED694D66B1A1FBB61DCC0402.xhtml
CE7B8860B70B463F8ACF708C3ED725C7.xhtml
D60805A24363463FBC63A2BC440A840A.xhtml
FDB1BDA07C6B4D4CA05AD88A54935C08.xhtml
4094FE2F85FB4691BFB065E5AA3BB934.xhtml
23BF6402C4174AF2B4D5D22F5E94E68E.xhtml
04992F8948EE4C319997EA262C328945.xhtml
78D9194A9BED4381AB4354808D37A615.xhtml
FFBE766B03754CBC9B177911722273BE.xhtml
6FF48B7FF5064312A084CAA667B98779.xhtml
3868E30DE30C4F4690B52DB8390231AE.xhtml
A1945BB7D899476390AB56E14CD3277C.xhtml
F366C1072798433E80DC200F1DC36B10.xhtml
B4C3F63B9C2746ECB1EC8F20C793D698.xhtml
7F597D02D9594D5797B266659E490005.xhtml
39D568AA050F42CDBC9DE01E335E0EDB.xhtml
68430BBB18C246EF85EE7981A2655241.xhtml
B864BCEF938646EDB2F0F0E5D59EF74D.xhtml
4B7C0E957B2B49ABB3758F249DF43243.xhtml
EE64635BEEEA4ED9808BB96A8B1CD4B1.xhtml
F259EC4D1577433C9646F6EEC1189B30.xhtml
504723D0C98747C88AB62031AB3C1EC7.xhtml
D62F4138306C4B57A45D91141067DEA3.xhtml
3CD9CDEDC43044379054A7C8DFABEAC4.xhtml
F41188206C2E4D779E2ED34B52FD590E.xhtml
6401248DDF934B9CADBDDF493DAA655C.xhtml
BCF2C3327B2944A2B76E9F1A45CB746D.xhtml
E2452E05650A44E8B02C6C74BCD9D16F.xhtml
C4067327FBBD4C9DBD77998487289E70.xhtml
EA967CDD5FE04D2C8CE05287DC34983A.xhtml
0D2A9571B25A4BCFA1DB08A5C7BEF457.xhtml
EB1773A0ED394B5B91FC80DF90E00CD5.xhtml
B692F92AE7C84126BAC7475DEE980F66.xhtml
3D0F1563A1F14FE782495F4613A3FC94.xhtml
BA59CD8F083544918D1BD08B904342D3.xhtml
78779E86B5614328ABAEA6CF91F92FB9.xhtml
4B350653E6CF4F90B889211177946A88.xhtml
6C6875C233934CCC80D81A0895919B48.xhtml
AA5526E075C64F0EAD18A7133F1C1516.xhtml