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Ich bin Commander Howard Falcon, ehemals Angehöriger der World Navy. Ich wurde im Jahr 2044 geboren. Meine Dienstnummer war … Nun, das trägt vermutlich nicht viel zur Feststellung meiner Identität bei, weil die meisten Unterlagen über meine frühen Jahre beim EMP-Bombenanschlag der Mnemosynen verloren gegangen sind.
Betrachten Sie mich als den Medusen-Mann. Wer immer dies hört, wird meine Referenzen als authentischer Zeuge hoffentlich akzeptieren.
Heute ist der 7. Juni 2784. Der Tag des Ultimatums.
Ein seltsamer Gedanke, dass ich vor all diesen Jahren wahrscheinlich der erste Mensch war, der gehört hat, wie dieses Datum laut ausgesprochen wurde, und mit Sicherheit der erste, der erfasst hat, was es für die ganze Menschheit bedeuten würde – und nun ist es so weit.
Es ist jetzt … ähm … kurz nach elf Uhr, Ephemeridenzeit – diese Zeitskala hat Adam benutzt, als er den Termin vor fünfhundert Jahren festgelegt hat. Noch dreieinhalb Stunden – aber ich werde versuchen, nicht mehr auf die Uhr zu schauen. Ausgerechnet heute ist mir nicht danach, einen Countdown mitzuerleben …
Doktor Dhoni, Hope, diese Nachricht ist insbesondere für Sie, falls sie jemals zu Ihnen gelangt. Eine merkwürdige Vorstellung, dass Sie diese Worte auf Ihrer Laputa im fernen Saturn frühestens achtzig Minuten nachdem ich sie ausgesprochen habe, zu hören bekommen werden. Und am Ende wird meine Stimme nur eine in jenem babylonischen Geschrei sein, das unmittelbar vor den schrecklichen Bildern, die sicherlich folgen werden, von hier entflieht. Aber, Hope, ich habe mir den Ort ausgesucht, wo ich diese letzte Pflicht erfüllen werde, während ich mit den Gedanken bei Ihnen bin.
Welchen Ort, fragen Sie? Ich befinde mich in einem Luftschiff und fliege über den Grand Canyon hinweg.
Ich weiß, ich weiß! Sie haben mir immer erklärt, ich solle nicht an den Ort meines Unfalls zurückkehren, die Flut der Assoziationen und so weiter würde mehr schaden als nützen. Vielleicht haben Sie recht – aber wenn ich es heute nicht tue, werde ich es nie wieder tun können, stimmt’s? Und was für ein Ort, um Zeugnis abzulegen …
Was mein Schiff betrifft, so habe ich einen brandneuen Auftriebskörper, unter dem – Achtung, jetzt kommt’s – die Gondel meines ersten Jupiterschiffes hängt, die Kon-Tiki. Das Original. Ich habe sie aus dem Smithsonian am Lagrange-Punkt geholt. Unglaublich, nicht wahr? Was wohl nach der Eroberung der Erde aus all diesen wunderschönen alten Schiffen wird? … Hoffentlich behandeln Adam und seinesgleichen sie mit Respekt.
Ich gebe zu, ich konnte nicht widerstehen, dieses rasch zusammengezimmerte Konstrukt auf einen ganz bestimmten Namen zu taufen – Gott segne die Queen Elizabeth V und alle, die mit ihr fahren –, und ich hoffe, all die peniblen Historiker, die sich das anhören, werden zur Kenntnis nehmen, dass dieses Schiff ebenso wie mein abgestürztes damaliges Luftschiff und dessen Vorgänger unter den Ozeandampfern jeweils das fünfte seiner Baureihe und nicht nach einer nichtexistenten Monarchin benannt ist …
Hier bin ich nun über dem alten Canyon, dieser gewaltigen Wunde im Antlitz der Erde. Ich habe beschlossen, die Aufzeichnung meiner Zeugenaussage als Ongtupqa zu kennzeichnen. So heißt der Canyon in der Hopi-Sprache. Ich hänge gerade über dem Mojave Point und sehe den Colorado, der sich durch das steilwandige Tal schlängelt, das er in diese alten Hochplateaufelsen gegraben hat, und die Schichten, die er dabei in den Wänden freigelegt hat. All dies im strahlenden morgendlichen Sonnenschein, mit scharfrandigen Schatten, wie ein riesiges Diorama. Ich weiß, auf anderen Welten gibt es Schluchten, die den Canyon in den Schatten stellen würden – im Caloris-Becken auf dem Merkur würde er sich verlieren, auf dem Mars wäre er lediglich ein Nebenfluss der Valles Marineris –, aber darum geht es nicht. Der Canyon befindet sich auf einer Menschenwelt und war zugänglich für Menschen, die mit nichts weiter als kräftigen Beinen, guten Lungen und ein wenig Mut ausgestattet waren. Aber wie meine Namenswahl schon andeutet, hat er natürlich auch eine menschliche Geschichte, die Jahrtausende vor der Entdeckung durch die Europäer begann, die wiederum selbst vor, oh, weit mehr als tausend Jahren stattfand, glaube ich. Die Pueblo-Indianer hielten ihn für einen heiligen Ort, eine Stätte für Pilgerreisen – und wer kann es ihnen verdenken?
Nun, der Canyon selbst ist noch viel älter. Vielleicht zehnmal so alt wie die Menschheit. Aber er wird uns nicht überdauern.«
»Irgendetwas geschieht …
Wenn Sie genau wissen wollen, wie viel Uhr es ist, werfen Sie einen Blick auf die Zeitanzeige.
Ich sehe die Schiffe der Maschinen jenseits des Himmels.
Sie sind wie silbergraue Wolken, glatte linsenförmige Gebilde hoch oben über dem Blau, und bewegen sich lautlos. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie viel Energie diese mühelose Bewegung verkörpert. Ich habe nie vergessen, was Adam mir von 90, dem Maschinen-Einstein, erzählt hat – und der lebte und starb vor sechshundert Jahren. Offenbar sind die Maschinen im Begriff, Raum und Zeit auf eine Weise zu beherrschen, die weit über unsere Technologie hinausgeht – und vielleicht auch unser Begriffsvermögen ein für alle Mal übersteigt …
Feuer am Himmel!
Meine Güte. Ich bin dankbar für die Schutzschichten zwischen meinen künstlichen Augen und diesen gewaltigen Blitzen. Und auch für die Härtung der Systeme dieser Gondel, die gebaut wurde, um Jupiters wilder Magnetosphäre zu widerstehen – sicher eine noch energiereichere Umgebung als der Krieg, der jetzt dort oben stattfindet.
Krieg, ja – ich glaube, das ist es, was ich sehe. Sie werden es besser wissen als ich. Mir war so, als hätte ich Schiffe gesehen, Lichtpfeile, die sich durch diese riesige Maschinen-Armada schlängelten – erstaunlich wendig, viel wendiger als die Acheron, die ich auf dem Merkur abstürzen sah. Unsere Schiffe gegen ihre. Ist es den Menschen gelungen, den asymptotischen Antrieb der Maschinen zu meistern? Falls ja, so haben wir lange genug dafür gebraucht. Ah, und jetzt pulsiert Licht, sicher das Resultat von Atomwaffen. Setzen wir immer noch Röntgenlaser ein? Ich hatte keine Kenntnis davon, dass es einen letzten, verzweifelten Versuch geben würde, die Erde mit militärischen Mitteln zu verteidigen. Ob unsere stärksten Waffen allerdings etwas gegen Schiffe von solcher Größe ausrichten können …
Die Schlacht ist offenbar schon vorbei. Die Schiffe der Menschen sind nirgends zu sehen, nicht von hier aus. Die Silberwolken der Maschinen scheinen unversehrt zu sein.
Zumindest haben wir es versucht.
Und jetzt kommen sie herunter.«
»Aus dieser Höhe sehe ich drei, vier, fünf Schiffe dort hängen, in der Ferne. Wenn ich hier, an diesem einen Ort, schon fünf zähle, wie viele sind dann zur Erde gekommen? Hunderttausende? Millionen?
Jetzt, da sie unterhalb des Himmels sind, sehen sie nicht mehr wie Wolken aus. Sie wirken schwer, greifbar, massiv. Im Grunde hässlich, trotz all ihrer glatten Eleganz. Sie gehören nicht hierher. Das ist unverkennbar. Und ich …
Uhff …
Ich bitte um Verzeihung. Etwas Neues ist geschehen. Ich habe eines der Schiffe beobachtet und gesehen, wie etwas – eine Art Regenbogen vielleicht – aus dem Innersten des Schiffes hervorgeflutet ist. Eine Wellenfront? Sie ist durch die Luft gewandert und in den Boden eingedrungen, und als sie bei meiner Position eintraf, hat die QE V unter ihrem Auftriebskörper heftig hin und her geschaukelt, und es hat sich angefühlt, als würde tief in meinem künstlichen Gedärm etwas verdreht. Ich lade medizinische Daten hoch. Prüfen Sie sie bei Gelegenheit. Ich zeichne weiter meine Eindrücke auf, solange ich kann …
Ein weiterer Impuls. Ich werde zählen, bis …
Noch einer.
Sie bringen die Landschaft in Aufruhr. Ich sehe Staubhosen oder so etwas Ähnliches am Rand des Canyons entlangrasen. Ein Vogelschwarm – oder sind es Fledermäuse? – steigt erschrocken auf. Auch in der Luft Verwirbelungen. Wolken brodeln über mir, und ich habe einen fernen Donnerschlag gehört. Ich habe den Eindruck, dass gewaltige Energien freigesetzt werden.
Noch ein Impuls, und wieder einer …
Ist dies ein weiterer Aspekt der hoch entwickelten Maschinenphysik? Wir haben lange über die theoretische Möglichkeit diskutiert, eine Designer-Raumzeit zu erschaffen, vielleicht mit einer Art kohärenter Graviton-Maschine, die Massenenergie und Schwerkraft nach Wunsch formt – zum Beispiel, um ein Wurmloch zu erschaffen oder solche Kunststücke wie überlichtschnelle Reisen zu ermöglichen, indem sie die Raumzeit dazu bringt, sich zu kräuseln, sodass man auf der dadurch entstehenden Welle surfen kann … Dass die von einer Massenenergie von der Größe der Sonne bewirkte Verzerrung einen Sternenlichtstrahl um nicht mehr als ein Tausendstel Grad ablenkt, ist ein reines technisches Detail.
Ist es das, was die Maschinen hier tun? Bringen sie die Tiefengeologie der Erde mit einer Designer-Raumzeit-Waffe durcheinander? Adam hat ja gesagt, sie hätten jede Menge Zeit gehabt, auf der Venus zu üben …
Sehen Sie das?
Ich versuche, das Schiff zu drehen, damit all meine Kameras und anderen Sensoren auf diese Eruption gerichtet sind. Aber es gibt jetzt Turbulenzen, und ich rechne jeden Moment damit, dass mich eine Stoßwelle trifft …
Sie ist vorbeigegangen. Ich bin noch da.
Ja, eine Eruption – aber sie ist ganz anders als jeder Vulkanausbruch, den ich je gesehen habe, sogar auf der leidgeprüften Io. Sehen Sie das? Es ist so etwas wie eine Säule aus flüssigem Gestein von mehreren Hundert Metern Durchmesser, die einfach aus dem Boden hervorbricht und senkrecht nach oben steigt. Eine glühend heiße Säule. Ich versuche, die Temperatur aus der Ferne zu messen …
Die Temperaturen sind typisch für den äußeren Erdkern. Unglaublich. Die Maschinen haben der Erde bereits tiefe Wunden geschlagen.
Während die Säule in die Luft emporsteigt – ich kann nicht erkennen, wie hoch –, verliert sie allmählich ihre Kohärenz und dehnt sich aus. Ein Teil des Materials fällt wieder zu Boden – und lässt alles Brennbare sofort in Flammen aufgehen.
Ich verschwinde von hier.
Jetzt steige ich schnell nach oben. Ich möchte nicht unter diesen Steinhagel geraten.
Während ich hochsteige, vergrößert sich mein Blickfeld, und ich sehe noch mehr dieser fantastischen Säulen. Sie stehen überall in der Landschaft, über Dutzende, Hunderte Kilometer hinweg. Die Brände breiten sich aus, wo das Feuer Nahrung findet, in den Wäldern. Unter mir beginnen das Dorf und die anderen Gebäude am Südrand des Canyons wie Fackeln zu brennen. Auch der Erdboden selbst scheint Qualen zu leiden. Er wird von Beben erschüttert, und ich sehe Staub emporsteigen; im Erdreich tun sich offenbar gewaltige Risse auf. Die Luft ist jetzt sehr turbulent und wird zunehmend von heißer Asche und Rauch getrübt …
Ich weiß, ich soll berichten, was ich mit eigenen Augen sehe, nicht kommentieren, was woanders geschieht. Aber ich überwache die weltweiten Nachrichtensendungen. Täten Sie das nicht? Diese Fontänen aus geschmolzenem … Kernmaterial oder was auch immer steigen auf dem ganzen Planeten empor. Die Brände breiten sich aus, überall auf der Erde brennen die Wälder. Ich sehe auch gewaltige Dampfwolken, die über Hotspots in den Meeren aufsteigen – die Gewässer werden also ebenso wenig verschont wie das Land. Die Städte – oder das, was von ihnen übrig ist – stehen in Flammen … was für ein Schauspiel! Ein Newsfeed zeigt eine Feuersäule, die im Herzen von Unity City steckt wie ein Bratspieß. Ob das wohl Absicht war? Sind wir dir immer noch wichtig genug für solche Gesten, Adam? Die Pyramiden! Ein Monument, das wir nicht retten konnten, in Trümmern, zerschmelzend. Ein erstaunlicher Anblick … erstaunlich und herzzerreißend.
Unter mir füllt sich der Grand Canyon mit einem neuen Fluss, diesmal aus Lava – als hätte sich der Colorado vollständig durch die Haut der Erde gegraben.
Aber die Sicht geht allmählich gegen null. Ich kann die QE V kaum noch kontrollieren. Es ist ein Wunder, dass der Rumpf noch nicht zerstört worden ist – obwohl ich Helium geladen habe, keinen Wasserstoff wie die arme, todgeweihte Hindenburg.
Ich glaube, ich habe genug gesehen, genug Zeugnis abgelegt – ob dies nun die Zerstörung der Erde ist oder ihre Verwandlung. Ich weiß jetzt, dass ich auch an den nächsten Phasen dieses Konflikts zwischen Maschinen und Menschheit teilhaben möchte − denn noch ist es nicht vorbei.
Ich leite die Zündungssequenz ein. Diese Gondel ist ein robustes altes Boot. Sie besitzt noch dasselbe ramponierte alte Tritium-Deuterium-Fusionstriebwerk, das mich aus der Atmosphäre des Jupiters herauskatapultiert hat. Damit – und mit etwas Glück – sollte ich auch von hier wegkommen.
Und wenn nicht, Doktor Dhoni, leiten Sie bitte eine Nachricht von mir an Adam weiter. Auf irgendeine Weise werden die Maschinen dafür bezahlen, was sie heute getan haben.
Ich höre das Knacken, mit dem der Fusionsreaktor anspringt …«
An diesem Tag machte Falcon eine Beobachtung, die er nicht aufzeichnete und über die er auch mit niemandem sprach.
In dem Moment zwischen dem Hochfahren des Fusors und der Zündung des Treibstoffs – nur einen Sekundenbruchteil lang – war er nicht allein in der Gondel der Kon-Tiki. Ein schwarzer Würfel mit einer Seitenlänge von einem Meter, glatt und ohne weitere Merkmale, bis auf eine krakelige Beschriftung.
In der Luft hängend. Im Innern der Kabine.
Da, und schon wieder weg.
»… Zündung! Mein Name ist Howard Falcon. Queen Elizabeth V, Ende.«