Kapitel 2
Als Philippa in die Küche trat, nahm sie die
Kappe ab, faltete sie zusammen und sah sich dabei in dem Raum um.
In einer Ecke tickte eine altertümliche Pendeluhr. Ein riesiges
Spülbecken aus Stein wurde auf beiden Seiten von zwei abgenutzten
Arbeitsflächen eingerahmt, und den Mittelpunkt des Raumes bildete
ein kahler Holztisch. Über dem Spülbecken hingen diverse verbeulte
und abgenutzte Töpfe und Pfannen.
Das Mädchen, Larkyn, hob den Deckel des Herds
und legte ein paar Zweige in die Asche. Als sie brannten, füllte
sie Wasser in einen Kessel und setzte ihn auf die Flamme. Der
ältere Bruder – Broh, ein weiterer Name, den Philippa nicht kannte
– stocherte in der offenen Feuerstelle und zog dann einen Stuhl für
sie hervor. »Setzen Sie sich, Meisterin.«
»Danke, Meister Hammloh.« Er nickte kaum
merklich. An seinem verbissenen Gesichtsausdruck erkannte sie, dass
zumindest er verstanden hatte, wie ernst die Situation für die
Familie war.
Mickelwitt saß am anderen Ende des Tisches auf
einem Stuhl, der nicht zu dem von Philippa passte. Überhaupt passte
hier kein Stuhl zum anderen, obwohl ihr Zustand recht passabel war.
Sie fand den ihren sogar erstaunlich bequem, als hätten
Generationen von Hammloh-Hintern dem Holz die richtige Form
aufgedrückt. Gerüche vergangener
Mahlzeiten hingen in den zerschlissenen Vorhängen und wehten durch
die offenen Balken des Dachstuhls. Verschlossene Gefäße, Tüten und
Körbe mit diversen Zutaten standen in den offenen Regalen. Philippa
hatte keine Ahnung, wozu sie gut waren, allerdings hielt sie sich
auch nur selten in Küchen auf.
Larkyn stand an einer Arbeitsfläche und füllte
Teeblätter in eine Kanne. Philippa wartete, bis die Brüder sich
gesetzt hatten, Broh und der jüngere, Nikh. Ein dritter Bruder war
angeblich unterwegs, er arbeitete offenbar in einem Steinbruch oder
etwas Ähnlichem. Philippa legte ihre Schirmmütze auf den Tisch und
wandte sich an Broh, der wohl das Familienoberhaupt war. »Wir haben
es mit verschiedenen Problemen zu tun, Meister Hammloh. Zum einen
ist Larkyn zu jung.«
Das Mädchen wirbelte mit geröteten Wangen herum.
»Ich bin vierzehn«, protestierte sie.
Sie war wirklich ein hübsches Ding, auch wenn
ihr schwarzes Haar verfilzt und voller Stroh war und sie stärker
nach Pferd roch als das Fohlen selbst. Ihre Augen waren blau wie
Rittersporn, der die Gärten der Akademie einfasste, und ihre Haut
war blass und rein. Das Mädchen würde sich zweifellos irgendwann
ihren Bräutigam nach Belieben aussuchen können.
Philippa schürzte die Lippen. »Vierzehn. Im
Hochland mag man in dem Alter vielleicht heiraten und einen Haufen
Kinder in die Welt setzen. Aber auf der Akademie …«
Mit einem dumpfen Geräusch krachte die riesige
Faust von Broh Hammloh auf den Tisch.
»Akademie?«, fragte er mit tiefer, dunkler
Stimme. Seine Schwester stand wie angewurzelt da; alle Farbe war
schlagartig aus ihren Wangen gewichen.
»Akademie!«, krächzte auch Mickelwitt.
Philippa biss die Zähne zusammen. Diese Menschen
aus dem Hochland hatten den Ernst der Lage ganz eindeutig nicht
begriffen. Sie entschloss sich dazu, ihren Ärger an dem Vogt
auszulassen, und fixierte ihn mit strengem Blick. »Ich komme viel
zu spät, Mickelwitt. Das Fohlen hat bereits seine Prägung
erhalten.«
Broh Hammloh war so groß wie Philippa und von
kräftiger Statur. Als sie ins Haus gekommen waren, hatte er den Hut
mit der breiten Krempe abgenommen und einen erstaunlichen Schopf
schwarzer, schon leicht ergrauter Haare entblößt, die im Nacken
unsauber geschnitten waren. Seine Augen waren dunkel, und Philippa
vermutete, dass sich von dem Blick, den er ihr jetzt zuwarf,
bestimmt eine Menge Landarbeiter einschüchtern ließen.
»Erklären Sie sich!«, brummte er.
Sie hätte auf seinen Ton beleidigt reagieren
können, doch sie tat es nicht. Dieser Bauer war selbstbewusst und
kannte seinen Platz in der Welt. Und immerhin sprachen sie hier
über seine Schwester. Hätte sich ihr eigener Bruder damals doch nur
halb so beherzt für sie eingesetzt!
Der Kessel fing an zu pfeifen, und das Mädchen
nahm ihn hastig vom Herd. Sie goss das kochende Wasser in die
Kanne, nahm einen kleinen Fetisch vom Haken über der Spüle und
schwenkte ihn über der Teekanne hin und her. Geschickt bewegte sie
die zierlichen Hände; offensichtlich gehörte diese Tätigkeit zu
ihren alltäglichen Pflichten. Philippa beobachtete sie und fragte
sich, wo wohl ihre Eltern waren.
»Lark!«, befahl Broh. Das Mädchen kam mit der
Teekanne in den Händen zu ihnen. Mit dem Fuß zog der Bruder einen
Stuhl hervor, und nachdem sie die Kanne in der
Mitte des Tisches abgestellt hatte, nahm sie Platz. Broh richtete
den Blick seiner dunklen Augen wieder auf Philippa, beugte sich
schweigend nach vorn und wartete. Das Mädchen hatte die rosa Lippen
leicht geöffnet und wartete ebenfalls.
Philippa seufzte und schlug die Füße in ihren
Reitstiefeln übereinander. »Sie haben zugelassen, dass eines der
geflügelten Pferde, die ausschließlich dem Fürsten gehören, sich an
Sie bindet«, setzte sie an.
In Larkyn Hammlohs tiefblauen Augen war keine
Spur von Schuld zu erkennen, als sie erklärte: »Tiere mögen mich,
Meisterin. Ziegen, Kühe, Hühner. Sogar der große Ochse dreht sich
auf dem Weg nach mir um und will einen Blick von mir erhaschen.
Schließlich bin ich durch und durch ein Bauernmädchen.«
»Das ist schwerlich zu übersehen«, erwiderte
Philippa trocken. »Leider macht eine derartige Empfehlung wohl nur
wenig Eindruck auf den Fürsten. Und auf seinen Zuchtmeister genauso
wenig.« Sie nahm von Nikh, der ebenso dunkel, nur kleiner und
gelenkiger war als sein Bruder, einen schweren, getöpferten Becher
entgegen. Das Feuer im Herd knisterte, und eine angenehme Wärme
waberte über den gefliesten Steinboden.
»Ich gehe davon aus, dass Sie um die Seltenheit
der geflügelten Pferde wissen«, fuhr Philippa fort. Mickelwitt
nickte und schlürfte seinen Tee. Die drei Hammlohs blickten sie
dagegen unverwandt und schweigend an. Diese Hochländer verspürten
offenbar nicht den Drang, eine Stille immer gleich mit Geplapper
füllen zu müssen. Philippa fand das erstaunlich angenehm, und sie
wünschte sich fast, die Lage wäre nicht so heikel.
Doch das war sie. Sie drehte den Becher in den
Händen.
»Jedes geflügelte Pferd ist von unermesslichem Wert für den
Fürsten, für die Edlen des Rates, ja, für alle Einwohner von Oc.
Die Mädchen, die eine Verbindung mit ihnen eingehen dürfen, werden
mit großer Sorgfalt ausgewählt. Diese Dinge werden nie dem Zufall
überlassen.«
»Nein, natürlich nicht, Pferdemeisterin«,
mischte sich der Vogt ein.
Philippa konnte sich gerade noch beherrschen,
nicht auf den Tisch zu schlagen, um diesen verflixten alten Mann
zum Schweigen zu bringen. Sie beschied sich damit, ihn böse
anzufunkeln, woraufhin er auf seinem Stuhl zusammensackte. An die
Hammlohs gewandt, fuhr sie fort: »All diese Mädchen kommen aus
guten Familien.«
»Ich möchte behaupten«, schaltete sich Nikh
unbekümmert ein, »dass Sie im ganzen Fürstentum keine bessere
Familie als die Hammlohs finden werden. Wir arbeiten hart, haben
keine Schulden und einen guten Ruf. Uns gehören das Land und dieses
Haus. Was würden Ihresgleichen und Ihre Durchlaucht ohne solche wie
uns wohl anfangen? Auch Mädchen aus ›guten Familien‹ brauchen
Fleisch, Milch und Eier!«
Mickelwitt hielt die Luft an, doch Philippa sah
Nikh an. »Natürlich, Meister Hammloh. Bitte entschuldigen Sie. Ich
habe mich etwas … unglücklich ausgedrückt.« Sie zögerte und
überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. »Ich bin zuversichtlich,
dass ich die Leiterin der Akademie davon überzeugen kann, dass
keiner von Ihnen diesen Vorfall hier beabsichtigt hat.«
Der jüngere Hammloh lachte. »Beabsichtigt!«,
gluckste er. »Wir hätten uns so etwas nicht einmal vorstellen
können!«
»Pass auf, was du sagst, Nikh«, warnte ihn Broh.
Nikh grinste seinen älteren Bruder an.
»Die Stute haben Sie vermutlich bereits
begraben, neh me ich an?«
Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen,
und es ließ traurig den Kopf hängen. »Auf der Nordweide«,
antwortete Broh Hammloh. »Wir mussten es tun.«
»Ja. Ich verstehe. Aber der Zuchtmeister möchte
eine Beschreibung der Stute. Uns liegt keinerlei Hinweis vor, dass
ein Pferd der Blutlinien vermisst würde.«
»Sie war halbtot, als Lark sie fand«, erklärte
Broh.
»Lark kann großartig mit Tieren umgehen. Sie hat
wirklich ein Herz für alle möglichen Viecher«, setzte Nikh
hinzu.
»Sie war klein«, antwortete Larkyn erstickt,
»eine Falb stute mit schwarzer Mähne und Schweif. Wir haben sie
Char genannt, weil ihr Fell aussah wie der Rauch, der im Herbst aus
den Schornsteinen kommt.« Sie schniefte und wischte sich mit dem
Ärmel die Nase. »Sie war auf ihre Art so süß, Meisterin. Als sie
wieder bei Kräften war, konnte ich mit ihr überallhin reiten,
obwohl ich keinen Sattel und kein Zaumzeug hatte.«
Philippa wandte den Blick ab, als sie das eben
Gehörte verarbeitete. Ohne eine Erklärung abzugeben, stand sie
plötzlich vom Tisch auf und trat ans Küchenfenster. Die Zweige
eines Rautenbaums, der von Frühlingsknospen übersät war, hingen vor
dem Fenster herab. Philippa blickte daran vorbei in den Hof.
Soni stand noch dort, wo sie sie zurückgelassen
hatte, und döste mit herabhängenden Flügeln in der Sonne. Gen Süden
erstreckten sich freie Felder. Im Norden führte ein Weg durch das
Weideland, auf dem sich bereits das erste Grün zwischen den grauen
Schneeflecken hindurchkämpfte. »Wo liegt der Schwarze Fluss von
hier aus?«
Larkyn sprang auf und stellte sich neben sie.
Sie zeigte in Richtung Norden. »Der Fluss bildet die Grenze unserer
Farm.«
»Und dort haben Sie sie gefunden?«
»Ja. Ich habe die Ziegen grasen lassen.«
»Wann war das?«
Das Mädchen legte den Kopf schief und überlegte.
»Im Spätsommer«, sagte sie schließlich. »Die Blutrüben waren schon
eingelagert und das Schilfrohr wurde gerade geerntet. Es ist
vielleicht sieben Monate her.«
Philippa presste die Lippen zusammen und dachte
unwillkürlich an den Vorfall vom Ende des vergangenen Sommers, an
jenes Ereignis, das den langen dunklen Winter vorweggenommen zu
haben schien und Fürst Friedrich das Herz gebrochen hatte. Sie
stützte sich an der Kante des Spülbeckens ab. Es fühlte sich alt
an, auf dieselbe Art, wie die Akademie alt war. Jeder Stein, jeder
Ziegel, jede Fliese waren unzählige Male gesäubert und repariert
worden, von Generationen gepflegt, die sich der Vergangenheit
verpflichtet fühlten. Sie blickte zu dem dunklen Dachstuhl auf und
fragte sich, wie lang die Hammlohs wohl schon auf dem Unteren Hof
wohnten.
Gefolgt von dem Mädchen, kehrte sie an den Tisch
zurück. Irgendjemand hatte auf einer Platte Brot und Käse
angerichtet sowie einen Teller mit Schinken und eine Schale mit
Wecken bereitgestellt. Die Männer bedienten sich, doch das Mädchen
schien keinen Appetit zu haben.
Philippa nahm ihren Becher. »Können Sie lesen,
Larkyn?«, fragte sie.
»Lesen?« Die Augen des Mädchens funkelten
geradezu vor Empörung. »Natürlich kann ich lesen!«
Philippa unterdrückte ein Schmunzeln. Der Vogt
konnte
das natürlich nicht unkommentiert lassen. »Larkyn Hammloh, hüte
deine Zunge!«, warnte er und fuhr zu Philippa gewandt fort: »Ich
habe sie selbst in der Dorfschule unterrichtet,
Pferdemeisterin.«
»Wir sind kein dummes Bergvolk.« Das war Broh.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ohne Philippa aus den Augen
zu lassen.
»Verstehen Sie mich richtig«, erwiderte sie. »Es
gibt viele Menschen, die nicht lesen können.« Wenn sie den ältesten
Hammloh auf ihre Seite ziehen wollte, musste sie ihm gegenüber
Vorsicht walten lassen. Sonst müsste sie sich auf die Macht des
Fürsten berufen, und das wollte sie nicht, nicht Broh Hammloh
gegenüber.
»Ich kann lesen und schreiben und rechnen.
Obwohl ich das meiste zu Hause gelernt habe!«, erklärte Larkyn mit
einem Seitenhieb auf Mickelwitt. Philippa amüsierte sich, als sie
sah, wie dessen fleischige Wangen rot anliefen.
»Nun gut«, sagte sie und stellte ihren Becher
entschieden auf dem Tisch ab. »Das wäre also geklärt.«
»Was?«, fragte Nikh Hammloh.
Philippa mahlte mit dem Kiefer. Sie war bald mit
ihrer Geduld am Ende. Sie musste einen Weg finden, dies alles dem
Fürsten, der Direktorin und dem Zuchtmeister zu erklären. Doch am
schwierigsten schien es, die Angelegenheit den Hammlohs
klarzumachen. Ihr Blick ruhte auf Larkyns blassem Gesicht, als sie
erklärte: »Wenn ein junges Mädchen ein geflügeltes Pferd an sich
bindet, dann gilt diese Bindung für die Ewigkeit. Man kann sie
nicht mehr rückgängig machen. Was bedeutet, dass Sie auf die
Himmelsakademie gehen werden, um dort zu trainieren.«
Es versetzte Philippa einen schmerzlichen Stich,
als sie die Hoffnung in den Augen des Mädchens aufleuchten
sah. Larkyn war aufgesprungen, ihr Mund stand offen, und ihre
Augen schimmerten vor lauter Aufregung fast violett. »In die
Himmelsakademie?«, flüsterte sie. Wie im Traum drehte sie sich zu
Broh um und ließ sich dann langsam zurück auf den Stuhl sinken. Als
hätte jemand eine Kerze ausgeblasen, erlosch schlagartig das
Leuchten in ihren Augen. »Oh«, sagte sie leise und wiederholte es
noch einmal. »Oh. Aber … nein. Nein, ich kann nicht.« Sie wandte
sich wieder an Philippa. »Meine Brüder brauchen mich hier.«
Philippa schnaubte. Diese Leute verstanden aber
auch wirklich überhaupt nichts, und das zerrte mächtig an ihren
Nerven. Sie wandte sich an Broh und breitete resigniert die Hände
aus: »Ich verstehe das Problem, Meister Hammloh, aber der Fürst
wird es nicht verstehen, und er hat sich dem Rat gegenüber zu
verantworten. Jedes Pferd aus den Blutlinien trainiert mit seiner
Reiterin an der Akademie. Wir können nicht zulassen, dass ein
geflügeltes Pferd auf einer Farm im Hochland aufgezogen wird.
Allein der Verlust wäre eine Katastrophe, von möglichen Nachahmern
einmal ganz zu schweigen.«
»Dann schicken Sie doch das Fohlen auf die
Akademie und lassen Lark hier, wo sie hingehört«, meinte
Nikh.
Philippa war der drohende Blick, den Lark ihrem
Bruder bei diesen Worten zuwarf, nicht entgangen. »Ganz
offensichtlich wissen Sie nichts über die geflügelten Pferde«,
sagte sie.
»Wieso auch? Im Hochland gibt es solche Wesen
nicht«, gab er schroff zurück.
»Allerdings.« Sie nickte. »Ich versuche, es
Ihnen zu erklären. Geflügelte Pferde sind ganz anders als Pferde,
die keine Flügel besitzen, selbst wenn sie von derselben Mutter
und demselben Vater abstammen. Sie reifen schneller heran und sind
intelligenter und empfindsamer als ihre flügellosen Gefährten.
Zudem bindet sich ein geflügeltes Pferd ohne Ausnahme auf ewig.«
Ihr Blick wanderte zu Larkyn. »Das Fohlen kann nicht hierbleiben,
und es kann auch nicht ohne das Mädchen sein. Es würde sterben. So
etwas ist durchaus schon vorgekommen.«
Langes Schweigen folgte ihren Ausführungen. Nikh
wischte sich die Krümel von den Fingern, und Broh strich sich
nachdenklich über das Kinn. Lark starrte ihren unberührten
Teebecher an und kaute auf ihrer Unterlippe.
Etwas ruhiger fuhr Philippa fort: »Obwohl ich es
nicht gern erwähne, muss ich Sie wohl daran erinnern, welche Strafe
auf unstatthafte Einmischung in die Blutlinien dieser Pferde
steht.«
»Unser Hof würde konfisziert«, sagte Broh.
»Mindestens.«
»Wir werden verbannt«, übertrumpfte Nikh
ihn.
»Gut möglich.«
Philippa lehnte sich zurück und ließ den
Hammlohs Zeit zum Nachdenken. Als Mickelwitt den Mund öffnete und
ansetzte, etwas zu sagen, hob sie den Zeigefinger und gebot ihm
Einhalt. Nicht dass die Familie in dieser Angelegenheit etwa eine
Wahl hatte. Aber sie hoffte, dass die Brüder selbst zu der
richtigen Entscheidung finden würden, ohne dass ihnen das jemand
unter die Nase reiben musste.
»Ist sie dort denn sicher?«, brummte Broh.
»Es gibt selbstverständlich gewisse Risiken,
Meister Hammloh, die sich jedoch mit den Privilegien die Waage
halten. Die Pferdemeisterinnen von Oc folgen in der Rangordnung
unmittelbar dem Fürsten und den Edlen des
Rates. Und natürlich müssen …«, ihr Blick schweifte aus dem
Fenster zu den silberfarbenen Zweigen des Rautenbaumes, »… es
müssen gewisse Opfer gebracht werden.«
Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass die
Augen des Mädchens wieder leuchteten. Larkyn sah ihre Brüder am
Tisch an. »Broh«, sagte sie. »Nikh. Was wollt ihr denn machen, wenn
ich gehe? Wer wird für euch kochen, die Ziegen und Kühe melken und
die Hühner füttern?«
Mickelwitt holte wieder Luft, aber Philippa
bedeutete ihm mit zusammengekniffenen Augen zu schweigen. Inzwi
schen wäre sie sogar bereit gewesen, ihn mit einem Hieb der Gerte
zur Räson zu bringen, wenn er sich nicht endlich ruhig
verhielte.
Broh Hammloh beugte sich zu seiner Schwester
vor. »Lark, es wird nicht leicht. Aber …« Er zögerte, als müsste er
erst die richtigen Worte finden. »Mama hat sich auf dem Hof zu Tode
geschuftet. Und du siehst ihr so ähnlich.«
Das Mädchen biss sich wieder auf die
Lippe.
»Es wäre eine gute Sache«, Broh lehnte sich
zurück, als wolle er seinen Worten eine gewisse Endgültigkeit
verleihen, »dich nicht zu schnell altern zu sehen.«
Larkyn traten erneut die Tränen in die Augen.
Als Philippa Bruder und Schwester so miteinander erlebte, überkam
sie ein schmerzliches Gefühl, und ihr schnürte sich fast der Hals
zu. Dabei war ihr sehr wohl bewusst, was das für ein Gefühl in ihr
war. Blanker Neid. Sie biss die Zähne zusammen.
»Du willst also, dass ich es tue?«, fragte
Larkyn.
»Du musst!«, platzte Mickelwitt heraus. »Es ist
schließlich nicht so, als hättest du …«
»Zum letzten Mal, Mickelwitt: Halten Sie den
Mund, Sie alter Narr!«, fauchte Philippa. Die Hammlohs starrten sie
an, und Lark errötete. »Larkyn«, sagte Philippa knapp, »wollen Sie
auf die Himmelsakademie gehen?«
Das Mädchen zögerte nur einen kurzen Augenblick.
»Ja, das will ich. Und ich will mit Tup zusammen sein.«
Bei diesem unwürdigen Namen verzog Philippa das
Gesicht, aber sie nickte. »Dann werden wir besprechen, was zu tun
ist. Zuallererst einmal müssen Sie damit aufhören, bei dem Fohlen
im Stall zu schlafen.«
»Aber ich kann es doch nicht allein lassen! Es
wimmert die ganze Nacht.«
Philippa erhob sich vom Tisch, zog die
Handschuhe aus dem Gürtel und streifte sie gemächlich über. »Auf
der Akademie schlafen die Mädchen in den Betten im Schlafsaal, und
die Pferde sind in den Ställen untergebracht, wo sie auch
hingehören. Die Oc-Hunde bleiben bei ihnen, bis sie keine
Gesellschaft mehr brauchen. Haben Sie einen Hund?«
»Nein«, überlegte Lark. »Aber wir haben Ziegen.«
Philippa, die gerade ihre Schirmmütze auseinanderfaltete, verbarg
rasch ihr Gesicht dahinter. Wäre die Situation nicht so unwägbar
gewesen, hätte sie gelacht. »Also gut«, erklärte sie, während sie
sich zur Tür wandte und ihre Kappe aufsetzte. »Dann muss eine Ziege
genügen. Und Sie brauchen Reitstunden.«
»Ich kann reiten. Ich bin auf Char
geritten.«
Philippa riss nun endlich der Geduldsfaden, und
sie wirbelte herum. »Ohne Sattel über das Land zu trampeln, Kind«,
stieß sie nachdrücklich hervor, »ist nicht gleich reiten. Sie
müssen lernen, Sattel und Zaumzeug zu benutzen, die Disziplin
verstehen lernen… Sie sind wahrhaftig bemerkenswert ungeeignet für
die Akademie, und dennoch dürfen Sie auf keinen Fall
scheitern.«
Lark richtete sich ganz gerade auf. »Wieso,
Meisterin Winter?«
Philippa zögerte. Dies hier war der schwierigste
Teil. Gewöhnlich wurde den Mädchen das erklärt, lange bevor sie
ihrer Obhut übergeben wurden. Sie spie die bitteren Worte aus, als
wollte sie das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Geflügelte Pferde binden sich kein zweites Mal. Verliert ein
geflügeltes Pferd seine Reiterin, stirbt es. Wenn Sie also
versagen, wird Ihr Fohlen eingeschläfert. Eine andere Möglichkeit
gibt es nicht.«