Kapitel 16
Der Morgen dämmerte. Es war hell und klar, ein idealer Tag für einen langen Flug. Philippa rollte die Karte, die sie in der Bibliothek gefunden hatte, zusammen und band sie zusammen mit dem Paket, das die Hausdame für sie vorbereitet hatte, am Sattel fest. Lange bevor die anderen Frauen der Akademie den Speisesaal verließen, führte sie Soni auf die Flugkoppel. Die Stute tänzelte in der Sonne; sie freute sich auf den Flug nur mit ihrer Herrin, doch Philippa wünschte, sie hätte sich einen anderen Tag dafür aussuchen können. Gerade heute sollten die Jährlinge zum ersten Mal fliegen.
Den jungen Pferden wurden nacheinander die Flügelhalter entfernt, dann führten ihre Reiterinnen sie zur Flugkoppel und lösten die Halfterleinen. Philippa wusste sehr genau, wie viel Angst die Mädchen empfinden würden, wenn sie die Fohlen den Leitpferden überlassen mussten. Dieser erste Flugversuch war keine Kleinigkeit. Die Mädchen hatten allen Grund, ängstlich zu sein. Obwohl die Lehrer sehr scharf auf die jungen Pferde aufpassten und die Lehrpferde vorsichtig voranfliegen würden, war es ein gro ßes, aufregendes und gleichzeitig erschreckendes Abenteuer, das erste Mal zu fliegen.
Philippa sah zu gern, wie die Fohlen die Flügel zu ihrer ganzen Länge ausbreiteten, sie schüttelten, versuchsweise mit ihnen flatterten und die Ohren verwundert in Richtung ihrer Reiterinnen klappten. Seinem Fohlen beim ersten Flug zuzusehen, fühlte sich wohl ähnlich an, wie sein Kind bei den ersten Gehversuchen zu beobachten; es verursachte eine Mischung aus Angst, Stolz und ein bisschen Wehmut. Schließlich würden die Fohlen von einem Tag auf den anderen nicht mehr die abhängigen Wesen sein, die sie bislang gewesen waren. Die Oc-Hunde, die ihnen von ihrer Geburt an Gesellschaft geleistet hatten, würden sich von ihnen trennen. Und die Fohlen würden es ab jetzt verkraften, wenn sie ein oder zwei, wenn nötig sogar drei Tage von ihren Reiterinnen getrennt waren. Der erste Flug war gleichzeitig die erste Kostprobe von Freiheit und Macht.
Soni teilte Philippas gemischte Gefühle allerdings nicht. Sie streckte sehnsüchtig den Hals, und ihre Flügel bebten vor Freude, als sie Richtung Westen auf die Berge zuflog. Philippa legte eine behandschuhte Hand auf den Hals des Pferdes und erinnerte sich an Sonis ersten Flug.
Soni war ein ruhiges, ausgeglichenes Fohlen gewesen, das sich nur ungern bewegt hatte. Doch als das Lehrpferd an jenem Tag die Flugkoppel entlanggaloppiert war, war Soni aufgeregt hinter ihm hergerast. Sie hatte das ältere Tier in allem nachgeahmt, hatte die Flügel ausgebreitet und sich instinktiv dem Rhythmus des Leittiers angepasst. Wie ein junger Vogel hatte sie von der Flugkoppel abgehoben, war ein wenig getaumelt, war etwas abgesunken, dann wieder aufgestiegen, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Rasch hatte sie die Bedeutung des Windes über und unter ihren Flügeln entdeckt und auch die unglaubliche Kraft der Flugmuskeln, die auf ihrer Brust hervortraten.
Philippa hatte am Boden gestanden, kaum geatmet und vor Anspannung ihre Ellbogen umklammert. Ihr schien es, als wäre Soni erst nach einer Stunde zurückgekommen, dabei waren es nur wenige Minuten gewesen. Jährlinge begannen mit kürzeren Flügen und wagten sich dann mit jedem Flug an größere Strecken, bis zum ersten Mal der Flugsattel und später dann Sandsäcke als Ballast aufgelegt wurden, um die Flügel auszubilden und die Ausdauer zu stärken.
Philippa warf einen Blick über die Schulter. Sie konnte die Mansardendächer der Stallungen erkennen, aber die Morgensonne blendete sie. Sie blinzelte, als sie versuchte, einen Blick auf die Jährlinge zu erhaschen, die vielleicht gerade aufstiegen. Hesters Goldener Morgen würde als Erste fliegen, denn die Stute war die zuverlässigste von allen Jährlingen. Obwohl sie ein Kämpfer war, erinnerte sie Philippa an Wintersonne in jenem Alter. Sie war ausdauernd und ruhig, stark und selbstbewusst. Nach Goldener Morgen würde Kleine Prinzessin kommen, ein Nobelfohlen, dann Schwarzer Junge, noch ein Kämpfer, die beiden Boten Zarter Frühling und Meermaid und zum Schluss Isobel Burleihs Wolkenherz, ein wildes Hengstfohlen, das wiederum zur Gattung der Noblen gehörte. Eduard spekulierte darauf, dass Wolkenherz eines Tages wunderbare Fohlen zeugen würde, aber wenn die Mädchen erst anfangen würden, auf ihren Pferden zu fliegen, würde Isobel alle Hände voll zu tun haben, um Wolkenherz zu bändigen.
Philippa richtete den Blick wieder nach vorn, wo die von der Sonne verdorrten Hügel des Hochlands ihr den Weg wiesen. Vielleicht fand sie heute ja etwas heraus, das ihnen half, über die Zukunft von Larkyns Fohlen zu entscheiden.
 
»Sie hätte auf mich warten sollen.«
Lark erkannte Eduard Krisps krächzende Stimme. Sie hatte gerade eine Ladung Mist vom Boden in Tups Stall aufgegabelt und hielt jetzt mit der Heugabel über der Schubkarre wie erstarrt inne. Meister Krisp kam mit der Leiterin den Gang hinunter, und Lark war klar, dass er von Meisterin Winter sprach. Offenbar hatte man ihn darüber informiert, dass im Hochland ein Sattel aufgetaucht war.
Hastig stellte sie die Heugabel beiseite und trat vom Eingang weg tiefer in die Stallbox. Leiterin Morghen sagte: »Und jetzt auf einmal können Sie plötzlich fliegen, Eduard?« Lark hob erstaunt die Brauen, als sie die Schärfe in der Stimme der Leiterin bemerkte.
»Kein Grund, sarkastisch zu werden, Margret«, antwortete Meister Krisp. »Ich habe das alles wirklich satt.«
Sie kamen näher. Lark schnappte sich den Striegel und duckte sich hinter ihr Fohlen. Sie tat, als wäre sie vollkommen damit beschäftigt, einen Knoten aus seinem Schwanz zu entfernen.
»Es ist uns nicht gelungen, die Abstammung des Fohlens zurückzuverfolgen«, meinte Leiterin Morghen. »Aber die Schuld dafür können Sie nicht vor meiner oder vor Philippas Tür abladen. Und Sie brauchen Sie auch nicht bei sich zu suchen. Wir hatten das Gefühl, dass Eile geboten ist, weil der Sattel verkauft werden könnte. Möglicherweise ist er schon verschwunden.«
»Selbst wenn sie ihn findet, hat das noch nichts zu bedeuten.«
Lark hörte die Ungeduld in Margret Morghens Stimme, als sie antwortete. »Meister Hammloh fand den Fund immerhin so ungewöhnlich, dass er sich trotz der Ernte die Zeit genommen hat, den weiten Weg mit seinem Ochsenkarren hierherzukommen.«
»Bei Kallas Zähnen, er ist ein Bauer! Was weiß der schon, was ungewöhnlich ist und was nicht?«
»Ich fürchte, Eduard«, erwiderte Margret steif, »wenn Sie Ihre Vorurteile nicht ein wenig abbauen, werden wir niemals herausfinden, wer die Eltern des Fohlens sind!«
Lark richtete sich auf und sah die beiden über Tups Rücken hinweg an. Bei ihrem Anblick hob die Leiterin erstaunt die Brauen. »Haben Sie nicht eigentlich eine Reitstunde, Larkyn?«
»Ja, Leiterin. In einer halben Stunde.« Lark hätte beinahe einen Knicks gemacht, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Meisterin Stark und Meisterin Wolke hatten ihr sehr deutlich gemacht, dass Pferdemeisterinnen niemals einen Knicks machten, auch angehende nicht. Und außerdem hatte sie noch gelernt, dass man in Innenräumen niemals eine Reiterkappe trug und keine Schürze umband, sei die Arbeit auch noch so schmutzig. Schürzen, hatte Petra ihr von oben herab erklärt, waren etwas für Dienstmägde.
»Aha.« Leiterin Morghen schob sich in den Stall und trat neben Tup. Sie strich mit der Hand über sein Hinterteil, und als sie an einer Fessel angelangt war, hob er artig das Bein. Sie prüfte die Form seines Hufes und stellte ihn zurück ins Stroh. »Haben Sie das gesehen, Eduard?«
»Sie meinen den Huf?«
»Ja.« Die Leiterin richtete sich mit einem kleinen Seufzer auf, als hätte ihr die gebückte Haltung Schmerzen bereitet. »Er ist zu klein, zugegeben, aber es ist der Huf eines Kämpfers«, sagte sie entschieden. »Die Kruppe mit dem abstehenden Schweif ist die eines Noblen. Und dann wäre da natürlich noch seine Farbe.«
»Nur ein Bote ist mit neun Monaten noch so klein«, widersprach Krisp mürrisch.
»Zehn Monate«, korrigierte Lark.
»Vielleicht haben Sie sich im Datum geirrt«, entgegnete der Zuchtmeister.
»Nein«, widersprach Lark nachdrücklich. »Es war direkt nach Erdlin. Vier Monate, bevor die Ziegenjungen und Kälber geboren wurden. Letzte Woche ist er zehn Monate alt geworden.«
Margret Morghen zwinkerte Lark über den Rücken des Fohlens hinweg mit ihren grauen Augen zu. »Haben Sie die Jährlinge heute Morgen fliegen gesehen?«, fragte sie.
Lark drehte Meister Krisp den Rücken zu und schlang die Arme um Tups Hals. »Oh, Leiterin!«, rief sie. »Es war – es war wundervoll und schrecklich, alles auf einmal! Ich konnte kaum glauben, wie ruhig Hester geblieben ist! Anabel und Beril und Grazia und die anderen … Ich wäre genauso nervös gewesen wie sie. Da bin ich sicher! Aber die Pferde waren hinreißend, wirklich, und keines ist abgestürzt, und sie sind nicht einmal bei der Landung gestrauchelt! Und jedes Pferd ist seinem Leittier gefolgt – ich bin so glücklich, dass ich dabei war!«
Die Leiterin lächelte, und ein Netz aus Falten schien sich über ihr Gesicht zu legen. »Ich habe es von meinem Fenster aus beobachtet«, sagte sie. »Das versäume ich nie.« Sie tätschelte Tup und wandte sich wieder dem Zuchtmeister zu. »Eduard, haben Sie mit Friedrich über dieses Fohlen gesprochen?«
Seine finsteren Gesichtszüge wichen ehrlicher Trauer, als er antwortete: »Durchlaucht ist bettlägerig, Margret. Man sagt, dass er wohl bald sterben wird.«
»Also haben Sie mit Wilhelm geredet.«
»Ich habe es versucht, aber er bleibt unnachgiebig.«
»Will er, dass Tup als Zuchthengst dient?«, erkundigte sich Lark.
»Als wenn der etwas von den Blutlinien verstünde!«, knurrte Krisp.
»Vorsicht, Eduard!« Die Leiterin blickte sich hastig um, doch es hörte ihnen niemand zu. Die zweite und dritte Klasse waren auf der Koppel, die Jährlinge standen wieder auf der Weide. Lark wartete und hoffte, sie würde noch mehr in Erfahrung bringen, aber die Leiterin und der Zuchtmeister warfen sich nur schweigend einen vielsagenden Blick zu.
»Nun«, meinte die Leiterin nach einer Weile. Sie verließ die Stallbox und bedeutete Meister Krisp, ihr zu folgen. »Ob wir es nun kastrieren oder nicht, es wird Zeit, dass wir dem Fohlen einen ordentlichen Namen geben. Vielleicht wäre es am besten …« Ihre Stimme wurde mit jedem Schritt leiser, so dass Lark kaum noch etwas verstehen konnte. »Vielleicht sollten Sie das Fohlen einfach als Rückfall betrachten und es dabei belassen.«
»Das kann ich nicht, wenn Prinz Wilhelm es als Zuchthengst nutzen will«, widersprach der Zuchtmeister. »Wir müssen einen Namen finden, der zu den Blutlinien passt.«
Lark konnte nicht hören, was Leiterin Morghen antwortete. Sie legte die Wange an Tups Hals. »Mir ist das egal«, flüsterte sie. »Die können dich nennen, wie sie wollen. Du bist und bleibst mein Tup.«
 
Schweinchen trottete hinter Herbert über die Trockenkoppel. Der Stallbursche hatte Wort gehalten und einen Sattel gefunden, der dem Pony besser passte. Es war kein Flugsattel, sondern ein klobiges breites Ding mit einem dicken Sattelknauf, einem breiten flachen Vorderzwiesel, zahllosen Ringen und Bändern und einem doppelten Sattelgurt. Die Sattelgurte waren auf die größte Länge geschnallt, damit sie um den Leib des armen Schweins passten, und die Steigbügel bestanden aus Eisen. Lark musterte das Gerät voller Verachtung.
»Der sieht aus, als wäre er ziemlich unbequem.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, meinte Herbert. »Ich reite schließlich nicht.«
Als Lark näher kam, legte Schweinchen die Ohren an. So ähnelte das Pony noch mehr einem echten Schwein, mit den kleinen Augen und den stämmigen Fesseln. Lark seufzte und nahm die Zügel. »Ja, Ferkelchen. Wir sind beide nicht besonders glücklich damit, was?«
»Sie können auf Meisterin Stark warten«, bot Herbert an.
»Das macht den Sattel auch nicht besser.«
Beere preschte hinter den Ställen hervor und sprang in einem Satz über den Lattenzaun. Lark war froh, ihn zu sehen. Der Oc-Hund kam näher, drückte die Schulter gegen Larks Hüfte, hob die Lefzen und kommentierte Schweinchens angelegte Ohren mit einem Knurren.
Das Pony verdrehte die Augen, richtete die Ohren jedoch auf. Steif und breitbeinig stand es da. Der Sattelgurt schnitt so stark in sein Fleisch, dass die Haut des Tieres in Rollen darunter hervorquoll.
»Zähne!«, murmelte Herbert warnend.
»Ja«, antwortete Lark. Sie behielt Schweinchens Maul im Auge und zog die Zügel straff, als sie sich ihm näherte. Beere lief auf die linke Seite des Ponys, und Schweinchens Blick zuckte zu dem Hund. Schnell griff Lark in die Mähne. Sie kümmerte sich nicht weiter um die Steigbügel, sondern schwang sich auf den breiten Rücken des Ponys.
Es fühlte sich an, als hocke sie auf einem Felsbrocken. Das Leder unter ihren Beinen war steif. Sie schob die Stiefel in die Steigbügel, aber auch die waren hart, und das Sattelleder knarrte, wenn sie die Beine bewegte.
»Da kommt Ihre Lehrerin«, erklärte Herbert mürrisch. »Viel Glück!«
Lark hob den Blick und sah Irina Starks eindrucksvolle Gestalt, als die Pferdemeisterin durch das Gatter trat. Ihre hellen Haare hatte sie ordentlich unter die Reitkappe gesteckt, und natürlich war ihre Tracht makellos. Larks Wangen röteten sich heiß, als sie an sich heruntersah. Ihr Wams war zerknittert, ihr Gürtel war bei dem Sprung auf Schweinchens Rücken verrutscht, und natürlich waren ihre Haare wie immer zur Hälfte aus der Spange gerutscht.
Wenigstens saß sie schon im Sattel. Sie zog an Schweinchens Zügeln und flüsterte: »Ferkelchen, bitte hilf mir, ja?«
Schweinchen schüttelte gereizt den Kopf, dass das Zaumzeug klirrte. Beere hob wieder die Lefzen, doch Lark murmelte schnell: »Es ist alles in Ordnung, Beere. Das arme Schweinchen kann nichts dafür.«
»Also dann, Larkyn!« Meisterin Stark trat auf sie zu. Das Pony wich sofort einen Schritt zurück, und Lark hielt sich rasch am Sattelknauf fest. Meisterin Stark blieb stehen und musterte das fette Pony sowie seine unsichere Reiterin zweifelnd. »Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir Ihnen das Reiten beibringen können.«
 
Philippa flog zwei Stunden Richtung Nordwesten, dann hatte sie das Gefühl, Soni könnte eine Pause vertragen. Sie suchte die Hügel unter sich nach einer Weide ab, auf der die Stute sicher landen konnte. Sie fand eine lange, schmale Lichtung, und nachdem Soni zum Stehen gekommen war, entdeckte Philippa zu ihrer Freude einen kleinen Bach. Die Luft hier wirkte kühler und roch nach verbranntem Stroh und herbstlichen Blättern. Während Soni ausgiebig trank und graste, breitete Philippa ihre Karte auf einem schwarzen Felsen aus. Mit einem behandschuhten Finger fuhr sie die Strecke nach. Sie schätzte, dass sie noch eine Stunde bis nach Moosberg brauchte. Da die Sonne noch im Osten stand, konnte sie es vor dem Mittag bis dorthin schaffen.
Philippa aß Käse und Brot aus dem Paket, das die Hausdame ihr mitgegeben hatte, während Soni friedlich graste und mit dem Schweif die Fliegen vertrieb. Obwohl sie jetzt schon achtzehn Jahre miteinander ritten, war Philippa immer noch tief bewegt von dem Anblick des roten, in der Sonne glänzenden Fells der Stute, ihrer zarten, geweiteten Nüstern und den intelligenten Augen. Sie rief Soni zu sich, lehnte sich an ihre Schulter, ließ sich von der Herbstsonne wärmen und von dem angenehmen Duft des Pferdes trösten. »Ach, Soni«, murmelte sie. »Mein zuverlässiges Mädchen. Wäre es nicht schön, allem einfach davonzufliegen?« Soni schnaubte lautstark und schüttelte den Kopf. Philippa musste lachen. »Nein, du hast Recht. Die Arbeit hat immer Vorrang.«
Kurz darauf waren sie wieder in der Luft, und nach einer Stunde erschien die schwarze Bergspitze, die als Orientierungspunkt auf der Karte eingezeichnet war und das Bergdorf in zwei Teile trennte. Der Ortsteil Clellum lag im Norden vor einer schmalen, brachliegenden Weide, und südlich der Spitze befand sich der Flecken Moosberg.
Es war eine winzige Siedlung, die aus rund zwanzig Häusern mit Gärten und Holzställen bestand. Der Weg dorthin war so schmal, dass kaum zwei Karren darauf aneinander vorbeifahren konnten, und der Markt, von dem Broh Hammloh gesprochen hatte, musste wirklich sehr klein sein. Sie kreiste mit Soni über den Dachgiebeln. Im Osten des Dorfes sah sie, umringt von Pappeln und Espen, eine morastige freie Fläche. Philippa nahm an, dass es sich dabei um den Marktplatz handelte. Jetzt jedoch war er verlassen und breit genug, dass Soni dort landen konnte.
Sie drehte noch eine Runde und ging dann in einem steilen Winkel unter dem Berggipfel zu Boden. Soni galoppierte ein paar Schritte, fiel in einen Trott und blieb vor den Häusern stehen. Als Philippa gerade abgestiegen war und ihre Handschuhe ausgezogen hatte, rannte auch schon eine Schar Kinder aus den Häusern, die das geflügelte Pferd mit großen Augen aus ihren dreckigen Gesichtern bewunderten. Sie gafften voller Staunen, als Soni ihre Flügel Rippe für Rippe zusammenfaltete.
Philippa musterte sie und vermutete in einem größeren Jungen im Hintergrund, der einen ganz ähnlichen Strohhut wie Broh Hammloh trug, den Ältesten der Bande. »Kannst du mich zu eurem Vogt bringen?«, fragte sie.
Er starrte sie bloß mit offenem Mund an. Ein kleinerer Junge drängelte sich vor. »Das tue ich, Meisterin, wenn ich dafür einmal Ihr Pferd streicheln darf«, erklärte er.
Philippa lag eine strenge Antwort auf der Zunge, doch sie presste rasch die Lippen zusammen und verkniff sie sich gerade noch. Stattdessen betrachtete sie den Jungen. Er hatte dunkel gelocktes Haar, und sein sommersprossiges Gesicht erinnerte sie an Larkyn. Er war noch zu jung, als dass ein geflügeltes Pferd vor ihm zurückgescheut wäre. Bei diesem Gedanken hätte sie fast gekichert, aber sie unterdrückte es ebenfalls. »Zuerst bringst du mich zum Vogt«, erwiderte sie streng. »Während ich mit ihm spreche, darfst du Sonis Zügel halten.«
Der Junge grinste, wirbelte herum und lief die schmale Gasse zwischen den Häusern hinunter.
Philippa folgte ihm mit Soni an der Seite. Die Kinder folgten ihnen wie eine Gänseschar, unterhielten sich aufgeregt und riefen nach ihren Müttern, wenn sie an ihren Häusern vorbeikamen. Schließlich stand Philippa vor einem schmalen, zweigeschossigen Wohnhaus, das ein Schild als Sitz des Vogts auswies. Mittlerweile schien sich das ganze Dorf in der Gasse versammelt zu haben und sie zu beobachten.
Als sie dem Jungen die Zügel übergab und ihn ermahnte, sich nicht von der Stelle zu rühren, ging die Tür auf, und ein hutzeliger, gebeugter Mann mit spärlichen weißen Haaren tauchte im Rahmen auf. Philippa murmelte Soni einen Befehl zu, klemmte die Gerte unter den Arm und überquerte das karge Stück Wiese zwischen Weg und Haus.
Der alte Mann verbeugte sich tief. Philippa nickte. »Gu ten Tag. Sind Sie der Vogt?«
»Jawohl, Meisterin, das bin ich. Welche Ehre, die Farben des Fürsten bei uns zu sehen. Eine Pferdemeisterin! Willkommen in Moosberg!«
»Hier soll kürzlich ein Markt stattgefunden haben.« Philippa hatte nicht vor, ihre Zeit zu verschwenden.
»Ja, ganz recht«, erwiderte er und tastete sich vorsichtig die beiden Stufen von der Tür hinunter zur Wiese. Er wirkte so gebrechlich, dass ihn ein Windstoß hätte davonwehen können. Seine Augen waren wässrig und trübe, und Philippa fragte sich, wie viel er wohl noch sehen konnte. »Der Markt war erst letzte Woche. Er war sehr gut besucht. Unser Dorf war voller Menschen.« Er musterte sie aus seinen trüben Augen. »Ich glaube nicht, dass jemals zuvor eine Pferdemeisterin hier gewesen ist. Möchten Sie vielleicht eine Erfrischung? Kommen Sie herein, setzen Sie sich! Dickon, sag deiner Mutter, sie soll uns Apfelwein für die Pferdemeisterin bringen!«
Bei der Aussicht, seiner Spezialaufgabe beraubt zu werden, drohte Dickon, der Sonis Zügel hielt, in Tränen auszubrechen. Schnell sagte Philippa: »Nein. Nein, danke, Vogt. Machen Sie sich bitte keine Umstände. Ich brauche nur eine Information.«
Der Vogt deutete auf sein schmales Haus. »Möchten Sie nicht doch hereinkommen?«
»Nein.« Philippa blickte sich zu den Leuten um, die sie beobachteten und ihnen zuhörten. »Hier soll ein Sattel aufgetaucht sein«, sagte sie laut und deutlich. Sie bezweifelte, dass der alte gebrechliche Mann ihr eine große Hilfe wäre. »Ein Sattel, der auf dem Markt zum Verkauf angeboten wurde. Der Fürst würde gern wissen, was damit passiert ist.«
Der Vogt schien verwirrt. »Ein Sattel?«, erkundigte er sich.
Philippa machte eine Geste, die alle Dorfbewohner einschloss. »Hat irgendjemand von Ihnen diesen Sattel gesehen? Wissen Sie, von wem er verkauft wurde?«
Die Dorfbewohner, überwiegend Frauen und Mädchen, murmelten und schüttelten die Köpfe. Die Kinder tuschelten. Nur der kleine Dickon schien eine Idee zu haben. »Der Mann mit dem Sattel kam aus einem anderen Dorf oben in den Bergen, Pferdemeisterin!«, erklärte er. »Er hat mir erlaubt, den Sattel anzufassen, und da habe ich ihn gefragt, wo er herkommt.«
Philippa sah zu dem Jungen hinunter, der Sonis Zügel sorgfältig in seiner kleinen Faust hielt.
»Aus welchem Dorf kam er denn?«, erkundigte sich Philippa.
Dickon warf sich in die Brust, sich seiner Bedeutung bewusst. »Er kam aus Clellum. Das liegt da oben, den Berg hinauf.« Er zeigte nach Norden in Richtung der schwarzen Felsspitze.
»Ist das weit?«
»Sie brauchen nur um die Spitze herumzufliegen«, meldete sich der Vogt mit brüchiger Stimme zu Wort.
»Aber der Sattel ist nicht mehr da«, mischte sich Dickon ein. »Jedenfalls jetzt nicht mehr.«
Philippa fuhr zu ihm herum. »Nicht? Woher weißt du das?«
»Ein Mann hat ihn gekauft.« Dickon grinste über seine schmutzigen Wangen. »Ich habe ihn selbst gesehen.«
»Was für ein Mann?« Philippas Stimme wurde schärfer, und das Lächeln des Jungen erlosch. »Kennst du seinen Namen?«
Dickon schüttelte den Kopf. »Nein, Meisterin. Aber er trug dieselben Farben wie Sie, Schwarz und Silber.« Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Er hatte auch ein Pferd, ein hübsches braunes Pferd. Das hatte allerdings keine Flügel. Ach, und er trug eine …« Er schüttelte den Kopf, fand nicht das richtige Wort und deutete stattdessen auf seine schmale Brust. »Ein Kleidungsstück, bestimmt sehr wertvoll, und von oben bis unten blau und grün und rot bestickt. So etwas habe ich hier im Hochland noch nie gesehen.«
 
»Ich zapple auf ihm herum wie ein Fisch auf dem Trockenen!«, rief Lark Hester zu. Sie schleuderte ihre Handschuhe und ihre Mütze aufs Bett und hob verzweifelt die Hände. »Meisterin Stark hält mich für einen hoffnungslosen Fall!« Sie schrie vor Schmerz auf, als sie sich aufs Bett fallen ließ. Hester kicherte. »Tut es da hinten vielleicht ein bisschen weh?«, erkundigte sie sich.
»Mir tun sämtliche Knochen weh! Es ist vollkommen sinnlos. Ich hatte nie Schmerzen, wenn ich auf Char geritten bin. Allerdings bin ich auch nie von ihr heruntergefallen.«
»Das liegt nur an dem Sattel«, erklärte Hester und verzog das Gesicht. »Du musst dich einfach erst an ihn gewöhnen.«
»Er ist so hart! Als wäre er aus Holz!«
»Ich fürchte, einige Teile davon sind auch aus Holz. Meisterin Stark wird dir alles genau erklären.«
Lark knurrte und rieb sich die Schenkel. »Ich wünschte, sie würde mich einfach ohne Sattel reiten lassen. Es ist so viel leichter! Meisterin Stark sagt, man müsse ein Pferd mit den Schenkeln lenken, aber meine rutschen auf den Sattelschnallen hin und her, und die Steigbügel fliegen in alle möglichen Richtungen! Es war so viel schöner, als ich Char geritten habe, als ich ihre Muskeln, ihre Knochen und ihr Fell spüren konnte.«
Hester setzte sich neben sie und schüttelte den Kopf. »Das würde mir auch nicht leichter fallen.«
»Ehrlich nicht? Aber es kommt mir so einfach vor, irgendwie natürlicher. Das Gleichgewicht, die …«
»Natürlicher?« Petra Süß unterbrach sie in ihrem gedehnten Tonfall. »Vielleicht für eine Ziegenhirtin.«
Lark richtete sich auf. Ihre Tutorin stand am Fußende des Bettes, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und verzog verächtlich die Lippen. »Hören Sie endlich auf, mich so zu nennen«, fauchte Lark.
Petra blähte die Nasenflügel. »Hören Sie gut zu, Hammloh. Ohne Sattel zu reiten kann tödlich sein.«
»Wie meinen Sie das?«
Petra lachte freudlos auf. »Sie werden irgendwann fliegen, Dummerchen. Deshalb brauchen Sie etwas, woran Sie sich festhalten können! Wie wollen Sie denn sonst da oben Halt bewahren oder gar landen?«
»Ich laufe eher Gefahr, aus dem Sattel zu fallen«, murrte Lark, »wie heute Nachmittag.«
»Passen Sie auf, Hammloh. Wenn Sie von diesem kleinen Bastard fallen und sterben, ist das schlecht für die ganze Akademie«, erklärte Petra nachdrücklich.
Lark sprang auf. Ihren schmerzenden Hintern hatte sie vollkommen vergessen. »Ich würde niemals von Tup herunterfallen!«, schrie sie.
»Lass dich nicht ärgern«, murmelte Hester. »Du reagierst genau so, wie sie es beabsichtigt hat.«
Lark drehte Petra den Rücken zu, holte tief Luft und versuchte ihren Wutanfall unter Kontrolle zu bekommen. Petra zischte Hester zu: »Sie sollten aufhören, sich einzumischen, Morgen. Irgendwann muss sie es lernen.«
»Sie macht das schon sehr gut«, erwiderte Hester gelassen. »Keine von uns könnte Schweinchen reiten, ohne von ihm gebissen und getreten zu werden.«
»Schweinchen!« Petra lachte. »Wahrscheinlich macht es ohnehin keinen Unterschied, ob sie dieses kleine, wimmernde Fohlen reitet oder ein fettes, geschecktes Pony!«
Mit feuerroten Wangen wirbelte Lark herum. Hester machte rasch einen Schritt vor und baute sich zwischen Petra und Lark auf.
Petra fauchte: »Und bei Kallas Schweif, Hammloh, unternehmen Sie endlich etwas wegen Ihrer Mähne!«
Lark griff sich unwillkürlich an den Kopf. Wie üblich fielen ihr die Haare ins Gesicht. In dem Punkt hatte Petra Süß recht. Larks Haare weigerten sich einfach, in dem Knoten zu bleiben, ganz gleich, was sie versuchte.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Süß«, entgegnete Hester hochnäsig und übertrieb ihren adeligen Akzent, was ihr einen überraschten Blick von Lark einbrachte. Dann machte die Ältere eine abfällige Handbewegung, die gleichzeitig lässig und elegant wirkte. »Mamá kommt morgen mit der Kutsche, um Hammloh und mich zum Einkaufen abzuholen.«
Petra versteifte sich vor Neid. »Baronin Beeht kommt hierher?«
»Ja«, bestätigte Hester gutgelaunt. »Ich habe ihr erklärt, dass wir einfach eine anständige Haarspange für meine Freundin besorgen müssen.« Sie betonte das Wort »Freundin« dezent, aber unüberhörbar.
Petra errötete und wandte sich ab. Lark sah ihr nach, wie sie zu ihrer Pritsche stolzierte, und hatte beinahe ein bisschen Mitgefühl mit dem Mädchen.
»Vielleicht«, flüsterte Hester ihr zu, »hätte ich meine Mutter vorher darüber informieren sollen. Ich habe sie nämlich ehrlich gesagt noch gar nicht um ihre Zustimmung gebeten.«
»Wird sie denn böse sein?«, erwiderte Lark ebenfalls flüsternd.
»Aber nein. Sie liebt es, einkaufen zu gehen. Außerdem fragen wir noch Anabel, ob sie auch mitkommen möchte. Wir nehmen uns einfach einen Tag frei!«, erklärte Hester verschwörerisch grinsend.
Schule der Lüfte wolkenreiter1
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