Kapitel 39
Sie suchten einen weiteren Tag und dann noch einen. Nikh setzte seine Runden mit dem Ochsenkarren fort und befragte überall, wo er ihre Waren feilbot, die Leute, doch es kam nichts dabei heraus. In Wahrheit, meinte er eines Abends besorgt, bezweifle er, dass ein geflügeltes Pferd im Hochland aufgetaucht sei, ohne dass alle davon wüssten.
Inzwischen war Philippa vier Tage auf dem Unteren Hof, als sie sich gerade in ihrem Zimmer wusch und dabei ihr Spiegelbild in dem alten, angelaufenen Spiegel über der Kommode bemerkte. Sie hielt inne, und während das Wasser von ihren Händen in die Schüssel tropfte, betrachtete sie ihr eingefallenes Gesicht, die dunklen Ringe um die Augen und ihre spröden Lippen.
Ich sehe viel älter aus als siebenunddreißig, dachte sie. Die vielen Tage im Sattel, der wenige Schlaf und die Alpträume, die sie nachts quälten, hatten ihren Tribut gefordert.
Sie nahm das Handtuch vom Haken und wandte dem Spiegel den Rücken zu. Schließlich konnte sie an ihrem Aussehen nichts ändern, also war es das Beste, sich einfach nicht darum zu scheren. Dennoch bürstete sie sorgfältig ihre Haare, bevor sie sie zum Reiterknoten zusammensteckte, und massierte sich anschließend etwas Mandelcreme in die Gesichtshaut. Als sie ihre Reitertracht und die Stiefel anzog, mied sie den Blick in den Spiegel.
Auch Broh war die Anspannung der letzten Tage anzusehen. Er wirkte dünner und sprach von Mal zu Mal weniger, wenn sie sich beim Frühstück und Abendessen begegneten. Heute wollte er mit dem Ochsenkarren nach Nordwesten in die Bergdörfer fahren. Philippa, die die nächste Nachbarschaft bereits gründlich untersucht hatte, würde vorweg fliegen, am Gipfel des Berges beginnen, sich von dort hinunterarbeiten und die Wiesen und Täler so gut es ging aus der Luft erkunden.
»Ich bin schon einmal dort gewesen«, erzählte sie ihm, als sie schwarzen Tee tranken und pochierte Eier aßen, die Peonie zubereitet hatte. »Ich finde wieder nach Moosberg.«
Broh erhob sich vom Tisch und nahm seinen Hut vom Haken neben der Küchentür.
Philippa setzte ihre Kappe auf und folgte ihm hinaus in den Hof. Nach Tagen voll milden Sonnenscheins braute sich in den Bergen ein Frühlingsgewitter zusammen. Sie blickte finster zum Himmel hinauf. »Hoffen wir, dass es wenigstens nicht regnet.«
Broh folgte ihrem Blick. »Können Sie im Regen überhaupt fliegen?«
»Solange er nicht zu stark wird. Die Blitze machen die Angelegenheit ein bisschen schwierig. Und dann der unberechenbare Wind.«
Er knurrte zustimmend.
Soni war satt und erholt und begierig darauf zu fliegen. Philippa sattelte sie und führte sie hinaus auf den Weg. Broh stand dort mit dem Ochsenkarren. Nikh hatte sich einen anderen Karren geliehen und war bereits mit Milch und Butter unterwegs. Die Hammlohs hatten Philippa einen Steigblock bereitgestellt, doch sie ignorierte ihn. Sie sprang mit einem eleganten Satz auf Sonis Rücken und hörte Brohs anerkennendes Murmeln. Sie sah ihn zwar nicht an, aber seine Reaktion freute sie. Ihr gelungener Aufstieg aus dem Stand gab ihr ein bisschen Selbstbewusstsein zurück, was ihr nach dem Schock ihres Spiegelbilds sehr willkommen war.
Sie schob die Stiefelspitzen in die Steigbügel und wendete Soni. Als sie an dem Ochsenkarren vorbeitrabte, hob sie zum Abschied die Hand. »Viel Glück«, rief sie.
Broh tippte mit den Fingern an seine Hutkrempe und kletterte auf den Bock des Karrens. Soni trabte schneller, fiel in einen Galopp und trug Philippa kurz darauf in den kühlen grauen Morgenhimmel hinauf. Sie nahm von selbst Kurs nach Nordwesten. Offenbar wusste Soni, was sie vorhatten, dachte Philippa. Sie stellte sich vor, dass auch Soni jedes freie Feld absuchte, jede Lichtung, jeden Zoll des Bodens, auf dem ein geflügeltes Pferd und seine Reiterin gelandet sein mochten.
Sie legte ihre behandschuhte Hand auf Sonis Hals und murmelte durch den Wind: »Du bist ein prächtiges Mädchen, Wintersonne. Wollen wir heute unsere verlorenen Küken finden?«
Wie zur Antwort schlug Soni kräftig mit den Flügeln und hielt in gerader Linie auf die grünen Hügel zu.
Das Wetter blieb den Morgen über und bis in den frühen Nachmittag hinein freundlich. Philippa tat auch heute das Gleiche wie an den letzten beiden Tagen: suchen, landen, ausruhen und etwas essen, dann wieder starten und weitersuchen. Sie arbeiteten sich durch die Berge in Richtung Moosberg vor. Sie kamen an derselben Wiese vorbei, auf der sie vor ein paar Monaten gelandet waren, als Philippa nach dem Sattel gesucht hatte, der auf dem Markt zum Kauf angeboten worden war. Kurz bevor Soni den Boden berührte, hatte es zu nieseln begonnen. Der Regen machte das Gras rutschig und glitzerte auf der schwarzen Felsenklippe, welche die Wiese von dem unteren Feld trennte. Philippa knöpfte ihren Reitmantel bis zum Hals zu und führte Soni unter einen Baum, damit sie möglichst trocken blieb.
Die Stute senkte den Kopf und knabberte an dem Gras, das direkt unter den Zweigen wuchs. Philippa ließ sie grasen, während sie den Rücken an den harzigen Stamm lehnte und sich langsam daran zu Boden gleiten ließ. Sie war ganz steif vor Müdigkeit. Der Regen wurde stärker, prasselte auf die Blätter und durchnässte die kahle Erde um sie herum.
Sie schätzte gerade die Tageszeit nach dem schwächer werdenden Licht ein und beschloss, zum Unteren Hof zurückzukehren, als Soni den Kopf hochwarf, die Ohren aufstellte und wieherte.
Philippa kannte dieses Wiehern. Sie sprang auf, alle Müdigkeit wie weggewischt, und trat hinaus in den Regen, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit der Stute erregt hatte.
In der Ferne sah sie am grauen Himmel eine Fliegerin hoch über der Felsklippe kreisen. Sie bereitete sich offensichtlich gerade auf die Landung vor.
Philippa wirbelte zu Soni herum und sprang in den Sattel. Soni wendete auf der Hinterhand und galoppierte bereits die Wiese hinunter, als Philippa noch gar nicht richtig im Sattel saß. Während die Stute immer schneller wurde, drückte sie die Flügel gegen Philippas Waden. Bevor sie das Ende des Feldes erreicht hatten, rief die Pferdemeisterin: »Soni! Hopp!«, und sie erhoben sich in den Himmel.
Die andere Fliegerin war Irina Stark.
Die Umrisse ihrer Stute mit den breiten rotbraunen Flügeln und dem kurzen dicken Schweif waren unverkennbar. Irina flog immer mit leicht durchgedrücktem Rückgrat, als wenn sie nicht ganz sicher wäre, wo sie hinwollte.
In diesem Fall hatte Philippa keinen Zweifel, dass Irina trotz ihrer schlechten Haltung ihr Ziel sehr genau kannte. Sie würde sie zu Larkyn und dem schwarzen Fohlen führen.
Sonis Flügel bewegten sich ruhig und gleichmäßig. Jetzt, wo das Ziel feststand, war jegliche Müdigkeit wie weggeblasen. Philippa ging es ebenso. Sie beugte sich vor, spürte frische Kraft in Händen und Füßen. Der Regen wurde immer stärker. Als Soni Irina um den Felsen herum folgte, benetzte er ihr Gesicht, und Regentropfen verfingen sich in ihren Wimpern.
Jetzt sah Philippa das kleine, flache Haus, fast eine Hütte, das sich auf der anderen Seite an den Hang schmiegte und beinahe von einem schwarzen Felsvorsprung verdeckt wurde. Aus dem winzigen Schornstein stieg eine schmale graue Rauchsäule auf, vermischte sich mit dem Sprühregen und löste sich darin auf.
Im Windschatten der Hütte suchte ein kleines schwarzes Pferd Schutz vor dem Regen. Ein kleines, schwarzes geflügeltes Pferd.
»Bei Kallas Fersen!«, fluchte Philippa. »Wie konnte ich ihn übersehen?«
Eigentlich war das jedoch klar. Wäre sie nicht aus südlicher Richtung um die Klippe herumgeflogen und hätte Irina ihr nicht den Weg gezeigt, wäre Schwarzer Seraph geschützt durch Haus und Hütte ihrem Blick verborgen geblieben. Womöglich hätte sie ihn niemals gefunden.
Irina machte bei ihrem Landeanflug eine Schleife nach links, und Philippa und Soni vollführten dieselbe kreisförmige Bewegung. Sie würden direkt hinter den anderen beiden landen.
Der Regen lief aus Sonis Mähne und tropfte von Philippas Kappe. Er wurde mit jedem Augenblick stärker. Philippa blickte nach oben zu dem grauen Himmel. Als Irina wendete und sich auf die letzte Runde über der Wiese vorbereitete, entdeckten Pferd und Reiterin Philippa und Soni. Irina zuckte sichtlich zusammen, und die Flügel von Starker Lady flatterten einige Herzschläge lang im Wind. Soni breitete ihre eigenen Flügel weit aus und begann mit dem Gleitflug. Philippa spürte, dass Schwarzer Seraph die beiden Stuten entdeckt hatte und sie aufmerksam beobachtete. Sie riskierte einen Blick und sah, dass er unter seinem Schutz hervorgekommen war, den Kopf nach oben reckte und sie durch den Regen anstarrte.
Philippa sah wieder nach vorn und hielt vor Schreck die Luft an.
Irina und Starke Lady hatten den Landeanflug unterbrochen und begannen aufzusteigen; dabei schlugen sie einen Kurs ein, der direkt Sonis Flugbahn schnitt. Starke Lady schlug hastig mit den Flügeln, und Irina hatte sich weit über ihren Hals nach vorn gebeugt. Ihre Kämpferstute machte den Hals lang, flog direkt auf Soni zu und nahm mit jedem ihrer kräftigen Flügelschläge mehr Geschwindigkeit auf.
Unter ihnen wieherte Schwarzer Seraph schrill. Philippa spürte, dass Soni zögerte; das Zucken ihrer Ohren verriet Unsicherheit. Ihre Flügel trugen sie leicht nach oben. Seraph wieherte noch einmal, es war ein lang gezogenes, klares Wiehern.
Philippa ließ die Zügel locker, und Soni schlug heftig mit den Flügeln und stieg steil empor, um einen möglichen Zusammenstoß zu vermeiden. Die beiden flogen dicht aneinander vorbei, Soni oben, Starke Lady unten. Irina schlug mit der Gerte auf ihren Hals ein.
»Irina!«, schrie Philippa. »Was tun Sie da?«
Schwarzer Seraph wieherte erneut, als Soni im Nebel am anderen Ende der Wiese wendete. Irina drehte sich auf der entgegengesetzten Seite. Starke Lady wirkte vor dem schwarzen Fels der Klippe wie eine geisterhafte Erscheinung.
Philippa wollte Soni gerade das Zeichen zur Landung geben, als sie erschrocken begriff, dass der nur knapp verhinderte Zusammenstoß kein Zufall gewesen war. Irina hatte dieses Manöver absichtlich geflogen. Starke Lady hatte den kräftigen Körper und Hals eines Kämpfers, und sie wog fast doppelt so viel wie Wintersonne. Starke Lady würde einen Zusammenstoß in der Luft vielleicht über leben, Wintersonne nicht. Ebenso wenig wie Philippa.
Trotzdem musste sie vor Irina das schwarze Fohlen erreichen. Und Larkyn finden! Irina hatte nichts mehr zu verlieren. Sie war gewiss zu allem fähig!
Wieder flogen sie dicht aneinander vorbei, und wieder erhob sich Soni über Starke Lady. Philippa schrie Irina zu: »Verschwinde! Bist du verrückt geworden? Lass mich landen!«
Irina starrte sie nur trotzig an und hob ihre Gerte wie ein Schwert.
Diese Geste war eindeutig. Soni spürte es ebenfalls, und ihr Körper vibrierte vor trotziger Energie. Philippa hatte dieses Zittern bislang nur einmal erlebt. Damals hatte Soni Recht behalten, und auch diesmal lag sie richtig. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, und sie durften ihn auf keinen Fall verlieren, nicht nur ihretwegen.
Sie flogen noch einen Bogen über das Feld, dann zischten die Pferde mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen aufeinander zu. Philippa nahm den Kampf an.
Einer von uns wird heute sterben, dachte sie düster.
 
Lark saß auf Dorsas einzigem Stuhl, ihr Bein ruhte auf einem Stapel Feuerholz. Dorsa war zu einem Kranken ins Dorf gerufen worden und hatte die junge blonde Frau mit ihrem Kind bei Lark gelassen.
Der Tag war besser als der davor gewesen. Sie hatte überhaupt kein Mittel eingenommen und zum Mittagessen eine Schüssel Gemüsesuppe zusammen mit mehreren Scheiben von dem dicken braunen Brot und ein Stück Ziegenkäse gegessen. Zum ersten Mal seit ihrem Sturz fühlte sie sich klar. Die junge Frau arbeitete stumm wie immer am Spülbecken, doch ihr kleiner Sohn stand neben Lark und starrte sie an.
Sie lächelte ihn an. »Hast du denn auch einen Namen?«, fragte sie.
Er betrachtete sie nur mit offenem Mund. Sie wusste, dass er sprechen konnte, denn sie hatte gehört, wie Dorsa sich mit ihm unterhalten hatte, obwohl sein Gebrabbel kaum zu verstehen war. Sie schätzte ihn auf knapp zwei Jahre, fast so alt wie Tup. Sie hatte keine Ahnung, wann Kinder normalerweise anfingen zu sprechen oder ihren Namen kannten. Dorsa schien sich nicht darum zu kümmern, aber es kam Lark falsch vor, die beiden nur mit Mädchen und Kind anzusprechen; es war irgendwie erniedrigend.
»Soll ich dir vielleicht einen Namen geben?«, fragte Lark den Jungen.
Bei ihrer Frage blickte die junge Frau vom Spülstein auf und trat zu ihnen.
Lark sah sie an. »Ich weiß, dass Sie nicht sprechen können«, sagte sie. »Aber vielleicht können Sie schreiben? Verraten Sie mir, wer Sie sind und wie Ihr Kind heißt?«
Das Gesicht der jungen Frau hellte sich fast unmerklich auf. Sehr wahrscheinlich, dachte Lark, kann Dorsa nicht lesen. Viele Bergbewohner konnten weder lesen noch schreiben.
Sie sah sich um. Vielleicht gab es hier irgendetwas, womit sie schreiben konnte. Die junge Frau folgte ihrem Blick, schüttelte den Kopf und kniete sich vor den kalten Herd, um ein Stück Kohle herauszuholen. Sie beugte sich vor und schrieb etwas auf die Steine des Kamins.
Lark sah an ihrer Schulter vorbei. B-r-a-n-d-o-h-n. »Brandohn? Er heißt Brandohn?«
Die junge Frau nickte begeistert. Sie war so lebhaft, wie Lark sie bislang noch nie erlebt hatte. »Er weiß nicht, wie er heißt, oder?«, murmelte Lark. »Natürlich nicht, wenn er seinen Namen niemals gehört hat. Ich bin so …«
In diesem Augenblick wieherte Tup laut vor der Werkstatt.
Lark setzte sich auf und zuckte bei dem Schmerz in ihrer rechten Seite zusammen. Vor Angst schlug ihr Herz schneller. Tup wieherte noch einmal; es klang sehr beunruhigend. »Mädchen!«, rief sie. »Sehen Sie nach, ob … nein, helfen Sie mir hoch! Bitte, beeilen Sie sich!«
Ein weiteres Wiehern schrillte über die Wiese durch die Werkstatt. Als wolle er ihm antworten, wurde der Regen stärker und prasselte auf das dünne Dach der Hütte, spritzte bis in den Kamin hinunter und tropfte in die erkaltete Asche.
Die junge Frau warf einen besorgten Blick zur Werkstatt und beugte sich dann vor, um Larks Arm über ihre Schulter zu legen. Lark rappelte sich mühsam auf. Ihre rechte Seite brannte wie Feuer, aber das kümmerte sie nicht. Sie hüpfte auf dem linken Bein zur Tür. Ihr rechtes Bein fühlte sich an, als glühten heiße Kohlen unter dem Verband. Der kleine Junge starrte mit offenem Mund nach oben zu seiner Mutter und zu Lark, die sich unter Schmerzen zur Werkstatt bewegte, und begann plötzlich zu weinen.
Wenn Lark später an diesen Tag zurückdachte, würde sie sich stets an diese Kakophonie erinnern, bis in die letzte Kleinigkeit. Das Kind, das nach seiner Mutter schrie; der Regen, der auf das Dach der Hütte prasselte. Als sie es endlich bis nach draußen geschafft hatte, wurden ihre kurzen Locken sofort vom Regen durchnässt. Sobald er Lark aus der Hütte treten sah, raste Tup mit erhobenem Kopf und aufgestelltem Schweif über die Wiese und wieherte den Fliegern über ihm laut zu.
Trotz des grauen Regenschleiers wusste Lark sofort, wer die beiden Fliegerinnen waren. Sie erkannte die schlanke, aufrechte Gestalt von Meisterin Winter im Sattel von Wintersonne. Irina Stark war massiger, hing irgendwie auf ihrer Stute, die sich mühsam durch den Regen arbeitete. Aber was taten sie da? Wieso flogen sie so direkt aufeinander zu, als würden sie …
»Bei Kallas Zähnen!«, schrie Lark. »Sie kämpfen!« Genau das taten sie. Meisterin Winter und Soni sanken zu der regennassen Wiese herab, doch Irina Stark flog ihnen in den Weg und kam ihnen gefährlich nahe. Sie wä ren sicherlich zusammengestoßen, wenn Wintersonne nicht schnell nach links ausgewichen wäre. Sie schlug so schnell mit den Flügeln, dass es aussah, als schwimme sie durch den Regen.
In einer abrupten, ungelenken Drehung machte Starke Lady kehrt. An der Art, wie Irina flog, war deutlich ihre Absicht zu erkennen … Die Reiterin lehnte sich weit in die Kurve und schwang wütend die Gerte über ihrem Kopf.
»Tup! Komm zurück!«, schrie Lark, doch das Prasseln des Regens unterdrückte ihre Stimme. Tup raste unter Wintersonne über die Wiese, machte kehrt, wenn sie es auch machte, und galoppierte mit gestrecktem Hals über den unebenen Boden. Lark schrie immer wieder seinen Namen, er jedoch folgte seinem Leittier. Er sehnte sich sichtlich danach, endlich zu fliegen.
Als sich Lark matt vor Angst an die Schulter der jungen Frau sinken ließ, breitete Tup die Flügel aus, erhob sich in die Luft und nahm Kurs auf Wintersonne. Lark sah, dass Meisterin Winter zu ihm hinunterblickte und dann nach vorn zu Irina und Starker Lady starrte, die ihr erneut in den Weg flogen. Meisterin Winter warf einen kurzen Blick in die andere Richtung, und als sie Lark sah, war es, als springe ein Funke über, als verstünden sie sich selbst auf diese Entfernung hin.
»Ja, o ja!«, stieß Lark verzweifelt hervor. »Bringen Sie ihn in Sicherheit, bitte! Bringen Sie Tup weg!«
Als sie wieder auf Wintersonne zusteuerte, troff der Regen von den Flügeln von Starker Lady. Tup war hinter Soni und stieg schnell nach oben. Wenn Wintersonne und Starke Lady jetzt zusammenstießen, würde Tup mitten in diesen Aufprall hineingeraten. Lark umklammerte die stützenden Arme der jungen Frau, ihr Mund stand weit offen, Regentropfen hingen in ihren Wimpern und tropften ihr die Wangen hinunter. Die Flieger kamen sich näher und näher, bis Lark dachte, ihr müsse das Herz stehen bleiben. Doch im nächsten Augenblick führten Meisterin Winter und Soni die engste und gefährlichste Wende aus, die Lark jemals gesehen hatte, ja, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Die Große Wende war das schwierigste Flugmanöver der geflügelten Pferde. Sie vollzogen dabei eine Richtungsänderung um einhundertachtzig Grad, während sie gleichzeitig die Flugebene wechseln mussten, das heißt, höher stiegen oder sanken. Es war das perfekte Ausweichmanöver, mit dem ein Bote dem Angriff eines Kämpfers entkommen konnte, denn Boten waren leichter und viel beweglicher als Kämpfer.
Tup, der Soni folgte, vollführte ebenfalls eine perfekte Große Wende. Er stellte die Flügel schräg und bog seinen kleinen Körper so geschickt in den erforderlichen Winkel, wie es fast nur Vögel vermochten. Die beiden Pferde gewannen rasch an Höhe und wichen nach rechts aus, weg von Irina und ihrem Pferd.
Starke Lady versuchte, es ihnen gleichzutun; sie neigte sich heftig nach links und schlug hektisch mit den Flügeln, weil sie mit ihrem Gleichgewicht zu kämpfen hatte.
Irina Stark klammerte sich verzweifelt an den nassen Sattel und an die Mähne, doch der Winkel war zu steil.
Lark blieb ein Schrei im Hals stecken, als sie beobachtete, wie die Pferdemeisterin den Halt verlor und rücklings über das Hinterteil des Pferdes rutschte. Irina Stark riss noch einmal die Arme hoch, und dann … stürzte sie ab.
Die Gerte flog ihr aus den Fingern und wirbelte durch den Regen hinter ihr her zu Boden.
Lark erschauerte vor Schreck; alle Geräusche schienen gedämpft, als wäre sie unter Wasser, als sie beobachtete, wie Meisterin Stark durch die Luft stürzte, auf den nassen Boden aufschlug und regungslos liegen blieb.
Die nächsten Momente erlebte Lark in einer Art bleiernen Schockzustands. Sie zitterte, stützte sich auf den Arm der jungen Frau und blickte wie betäubt auf die reglose Gestalt, die einmal eine Pferdemeisterin gewesen war. Sie bemerkte kaum, dass Soni Tup zum Ende der Wiese führte, dort sanft sank und landete. Starke Lady flog mit frei schwingenden Zügeln hinter ihr her. Sie umkreiste wieder und wieder das Feld, als wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Dann rief sie nach ihrer Herrin. Sie begann immer heftiger mit den Flügeln zu schlagen, bis sie müde wurde und schließlich landete, wenn auch ungeschickt. Dann galoppierte sie zu Irinas Leiche und umkreiste sie, als wollte sie die Tote dazu bringen, wieder aufzustehen.
Meisterin Winter galoppierte zur Hütte, Tup folgte ihr. Sie war noch ein halbes Dutzend Längen entfernt, als Philippa bereits aus dem Sattel sprang und auf Lark zulief.
»Larkyn! Ich bin so froh, Sie lebend zu sehen. Ich kann gar nicht sagen …«
Abrupt brach Meisterin Winter ab und starrte das namenlose Mädchen an.
Lark bemerkte, wie sehr die junge Frau zitterte. Sie war leichenblass geworden und verzerrte das ganze Gesicht, als sie zu sprechen versuchte. Lark sah verwirrt Meisterin Winter an.
»Bei Kallas Fersen!«, rief Philippa verdattert. »Pamella Fleckham!«
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