Kapitel 17
Die Sterne glitzerten am schwarzen Himmel, als
Soni mit ausgestreckten Flügeln zu den weiten Feldern von Fleckham
hinabglitt. Es war ein langer Flug vom Hochland hierher gewesen,
und die Hitze des Tages war einer eisig klaren Nacht gewichen.
Philippa war sonnenverbrannt und gereizt. Sie wäre viel lieber nach
Hause geflogen, hätte sich im Leseraum erholt, die Stiefel
ausgezogen und die Füße hochgelegt. Aber sie war wütend. Und sie
wollte persönlich mit Wilhelm sprechen, so lange sie noch vor Wut
kochte.
Von oben aus betrachtet wirkte Fleckham seit
ihrer Jugend unverändert, denn die neuen Stallungen waren versteckt
hinter dem Buchenhain und vom Haus aus nicht zu sehen. Als Mädchen
hatte Philippa oft Wilhelm, Pamella und den sanften Bücherwurm
Frans in Fleckham besucht, war mit ihnen ausgeritten oder hatte
Bälle besucht. Damals hatten die erleuchteten Fenster die Nacht
erhellt, und immer war Friedrich dabei gewesen und hatte die jungen
Leute lächelnd betrachtet.
Obwohl Fürst Friedrich schon vor Philippas
dreizehntem Geburtstag Amt und Titel übernommen hatte, hatte er
immer Zeit für sie gehabt, ihr ein Buch geliehen, das er
interessant fand, oder sie nach ihrer Meinung zur Politik gefragt.
Auch ihre Mutter hatte stets versucht, sie für intellektuelle Dinge
zu begeistern. Ihr Bruder hatte sie für anmaßend
gehalten. Nur Friedrich hatte an sie geglaubt und das unter Beweis
gestellt, als er sie an Wintersonne gebunden hatte, die in seinen
Stallungen zur Welt gekommen war.
Philippa lenkte Soni über den weißen Kies des
Hofes hinweg und an den dunklen, mit Läden verschlossenen Fenstern
vorbei. Auf einmal wurde ihr mit Schrecken bewusst, dass sie jetzt
fast so alt war wie Friedrich damals.
Ein Stallbursche kam zu ihr und bat sie um
Verzeihung, weil kein Stallmädchen da war. Philippa musste Soni
selbst in eine Stallbox führen, ihr den Sattel abnehmen und sie
trocken reiben. Der Stallbursche hatte einen Eimer mit Wasser und
etwas Hafer vor dem Stall bereitgestellt. Philippa hielt inne und
beobachtete, wie Soni an ihrem Fuß knabberte. Dann straffte sie
sich, gab sich einen Ruck, verließ den Stall und ging zum Haus
hinüber.
Ein Diener verbeugte sich und führte sie durch
die breiten Türflügel in die riesige Eingangshalle. Fleckham war
immer ein offenes, großzügiges, hell erleuchtetes Haus gewesen,
dessen kostbares antikes Mobiliar und Eichenböden poliert wurden,
bis sie glänzten. Jetzt jedoch strahlte das Haus etwas Bedrückendes
aus. Es brannte lediglich eine Lampe im Eingang, und sämtliche
Türen, die von der Eingangshalle abgingen, waren geschlossen.
»Pferdemeisterin«, begrüßte sie der Verwalter,
»bedauerlicherweise empfängt Prinzessin Constanze keine
Besucher.«
»Ich bin gekommen, um mit Prinz Wilhelm zu
sprechen.«
»Verstehe.« Er streckte die Hand aus und nahm
Reitmantel und Mütze in Empfang. »Sie haben Glück. Seine Hoheit ist
heute Abend zu Hause. Ich werde ihn sofort informieren.«
Philippa bedankte sich mit einem Nicken und
blieb allein mitten in der Halle zurück, als der Diener ihre Sachen
auf einen Beistelltisch legte und dann würdevoll die Treppen
hinaufschritt. Sie schlenderte umher, während die Einsamkeit und
Leblosigkeit von Fleckham auf sie einwirkten. Sie musste Friedrich
unbedingt noch einmal besuchen, und zwar schnellstens. Vielleicht
konnte sie ihn überzeugen, für eine Weile hierher zurückzukommen,
wo er vor seiner Ernennung zum Herrscher so glückliche Jahre
verlebt hatte.
»Oh, Philippa, welche Ehre.«
Sie sah zur Treppe. Wilhelm stand einige Stufen
über ihr. Er war fast genauso gekleidet, wie dieser Straßenjunge es
beschrieben hatte, in Schwarz und Silber und mit einer kostbaren
Weste. Sein weißblondes Haar glänzte silbern im Licht der Lampen.
»Hoheit.« Philippa senkte den Kopf und bemerkte den verwirrten
Ausdruck, der über sein Gesicht huschte.
»Wenn Sie gekommen sind, um Constanze zu
besuchen, muss ich Ihnen leider sagen, dass …«
Philippa unterbrach ihn ungeduldig. »Ich kenne
Ihre Frau doch kaum, Wilhelm. Nein, ich wollte zu Ihnen.«
Er lächelte eisig. »Tatsächlich«, erwiderte er.
»Und ich dachte, mein Diener hätte vielleicht etwas falsch
verstanden. Gibt es denn etwas Geschäftliches zu besprechen?« Er
schritt die letzten Stufen hinunter, öffnete die Doppeltüren zum
Studierzimmer und schloss sie hinter sich, sobald Philippa
eingetreten war. Es brannte weder ein Feuer im Kamin, noch waren
die Öllampen entzündet. Wilhelm strich ein Streichholz an und hielt
es an die Kerzen in einem mehrarmigen Leuchter. Ihr Licht hellte
die Dunkelheit ein wenig auf. Wilhelm blieb mit dem Rücken zu dem
kalten Kamin stehen, legte einen Ellbogen auf das Sims und deutete
mit der anderen Hand beiläufig auf einen Stuhl. »Möchten Sie sich
setzen?«
»Nein, danke.« Philippa sah ihn an und spürte,
wie die Erschöpfung sie überkam. Sie hatte genug von diesen
Spielchen. Als sie ihn musterte, bemerkte sie die Falten um Mund
und Augen, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Aber
wahrscheinlich zeigte auch ihr Gesicht diese Altersspuren. »Was
wissen Sie über das kleine schwarze Fohlen, was Sie Eduard
verschwiegen haben?«
Obwohl er sich nicht bewegte, registrierte sie,
wie er sich anspannte. In dem eisigen Schweigen hörte sie das
Ticken der großen Uhr in der Halle.
»Meine teure Philippa«, antwortete Wilhelm
schließlich, nahm den Arm vom Kaminsims und zog mit beiden Händen
die Weste glatt. »Sie berufen sich offensichtlich auf unsere alte
Bekanntschaft, und das verstehe ich auch. Deshalb sehe ich Ihren
Ton nicht als beleidigend an.«
»Ich bin viel zu müde für solche Spielereien,
Wilhelm«, fauchte sie. »Ersparen Sie uns beiden Zeit. Ich weiß,
dass Sie in Moosberg waren, und ich weiß, dass Sie auf dem dortigen
Markt den Sattel gekauft haben. Was können Sie mir darüber sagen?
Wem gehörte er, und wie ist der Mann an ihn gekommen?«
Seine Stimme wurde trügerisch sanft. »Glauben
Sie nicht auch, dass ich Ihnen das längst erzählt hätte, wenn ich
der Ansicht wäre, dass Sie es wissen müssten?«
»Wieso sind Sie ins Hochland gereist?«
Er schürzte leicht die Lippen. »Für uns ist
jeder Bezirk von Oc von Bedeutung.«
Philippa schnaubte verächtlich, zog die
Handschuhe aus dem Gürtel und faltete sie, während sie nervös auf
und ab
ging. »Ich bin nicht mehr das naive Mädchen, das Sie vor zwanzig
Jahren mit Ihrem höhnischen Gelächter aus diesem Haus vertrieben
haben. Sie führen etwas im Schilde, und wie ich Sie kenne, ist es
etwas Gemeines.«
Er kniff die Augen zusammen. »Vorsicht,
Philippa.«
»Verflucht sei die Vorsicht!«, erwiderte sie
gefährlich ruhig. »Wieso sollten Sie den weiten Weg ins Hochland in
ein Dorf auf sich nehmen, von dem Sie vorher vermutlich noch nie
gehört haben?«
Wilhelm stieß sich vom Kamin ab, ging auf sie zu
und baute sich dicht vor ihr auf. Er beugte sich vor, so dass sie
seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Merkwürdig, dass sie
sich als junges Mädchen nach dieser Nähe gesehnt hatte. Jetzt
drehte sich ihr dabei fast der Magen um.
»Reizen Sie mich nicht, Philippa. Das wäre nicht
klug.«
Sie trat einen Schritt zurück und starrte ihn
an. »Sie können mich nicht wie so viele andere einschüchtern,
Wilhelm. Sie haben keine Macht über mich.«
»Oh, das denke ich doch.« Er lächelte und
verschränkte die Arme vor der Brust. »Dieses Mädchen, das mit dem
kleinen schwarzen Fohlen an die Akademie gekommen ist – wie heißt
sie noch gleich? Larkyn, glaube ich. Ja, genau, Larkyn Hammloh. Ihr
und ihren Brüdern gehört ein wunderschöner Hof im Hochland … ein
Hof mit langer Tradition. Es wäre doch eine Schande, wenn sie ihn
nach all der Zeit verlieren würden.«
»Das würden Sie nicht wagen!« Philippa stemmte
die Hände in die Hüften. »Das würde Friedrich nicht
zulassen.«
»Mein Vater ist viel zu krank, um etwas zu
unternehmen.«
»Aber der Rat der Edlen würde die Familie einer
Fliegerin beschützen.«
»Diese Göre ist es nicht wert, an ein
geflügeltes Pferd gebunden zu werden«, zischte er.
»Da bin ich anderer Ansicht, aber das spielt
auch keine Rolle, denn sie ist bereits an das Fohlen
gebunden.«
Wilhelm lächelte sie höhnisch an. »Sie spricht
Hochland-Dialekt und benimmt sich wie ein Bauernmädchen.«
»Außerdem versteht sie es, auf eine Art mit
Pferden umzugehen, die Sie nie begreifen werden!«
Wilhelm errötete so stark, dass die dunkelroten
Flecken auf seinen Wangen selbst im dämmrigen Kerzenschein deutlich
zu erkennen waren. »Sie haben überhaupt keine Ahnung, Philippa!«,
stieß er schrill hervor.
»Aber, Wilhelm«, sagte Philippa sanft und
lächelte unwillkürlich. »Sie sind ja eifersüchtig. Eifersüchtig auf
ein einfaches Bauernmädchen.«
»Ich warne Sie, Philippa!«
»Ach was! Unsinn. Sie können mir nichts anhaben,
und das wissen Sie! Denn ich bin die Reiterin eines geflügelten
Pferdes, etwas, das Sie niemals werden können, und das macht den
Unterschied, richtig? Darum ist es schon immer gegangen!«
Er richtete sich auf, und seine Augen funkelten
wie schwarze Diamanten. »Sie gehen zu weit, Philippa. Daran werde
ich mich erinnern, wenn ich erst Fürst bin. Natürlich werde ich
einiges verändern, und diese Veränderungen werden auch die Akademie
betreffen.«
»Warum haben Sie diesen Sattel gekauft,
Wilhelm?«
Er starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick
ungerührt, und eine ganze Weile standen sie so reglos voreinander.
Schließlich richtete er den Blick zur Decke und sagte mit
geheuchelter
Gleichgültigkeit: »Sie wären gut beraten, sich aus dieser
Angelegenheit herauszuhalten, Pferdemeisterin.«
»Der Stammbaum eines geflügelten Pferdes ist
Sache der Akademie«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wie alles, was
mit den Tieren zu tun hat.«
Wilhelm hob spöttisch die Brauen. »Also
wirklich.« Er wedelte schlaff mit der Hand. »Wir interessieren uns
einfach nur für unser Volk. Selbst für das aus dem Hochland.«
»Sie wollen es mir also nicht verraten?«
Statt zu antworten, ging Wilhelm zur Tür,
öffnete sie, hielt sie auf und sagte dann eisig: »Vielen Dank für
Ihren Besuch, Meisterin Winter. Ich werde meiner Gemahlin Ihre
Grüße übermitteln.«
Philippa warf einen Blick durch die Tür und sah
den Diener in der Halle stehen und neben ihm die gebeugte Gestalt
von Slathan, Wilhelms persönlichem Diener, der wie immer einen
Kapuzenmantel trug. Als sie an Wilhelm vorbeitrat und von dem
Diener Reitmantel und Mütze entgegennahm, verbeugte sich Slathan
tief und musterte sie unter seinen buschigen Brauen. Sie kehrte ihm
den Rücken zu und trat hinaus in die Nacht.
»Folge ihr«, sagte Wilhelm zu Slathan, nachdem
sich die Türen hinter Philippa geschlossen hatten und der Diener
verschwunden war. Slathan grinste und zeigte seine langen gelben
Zähne. »Ich kann doch nicht fliegen, Ihre Hoheit.«
»Sei nicht albern. Du sollst aufpassen, dass sie
sofort abfliegt und nicht anfängt, hier herumzuschnüffeln.«
»Sie wird ihn niemals finden«, erklärte Slathan
voller Zuversicht. »Ich habe ihn unter den anderen in der
Sattelkammer versteckt. Niemand wird den Unterschied
erkennen.«
»Philippa hat sicher die neuen Ställe bemerkt.
Sie mag keine Schönheit sein, aber dumm ist sie nicht. Ich will
nicht, dass sie hier unbeaufsichtigt herumspaziert.«
»Es gibt doch nichts zu sehen, oder? Zumindest
noch nicht«, erwiderte Slathan.
»Tu einfach, was ich dir sage. Wenn sie weg ist,
komm sofort wieder zu mir. Es gibt Arbeit für dich.«
»Ja, Hoheit.«
Slathan drehte sich um und verschwand durch den
Dienstbotenausgang unter der Treppe. »Slathan«, rief Wilhelm hinter
ihm her. »Eins noch. Wer ist unser Mann an der Akademie?«
Slathan ließ ein kehliges, dreckiges Lachen
ertönen. »Peehbel. Er arbeitet in der Küche. Aber wir haben auch
eine Frau auf unserer Seite.«
»Ausgezeichnet, Slathan.« Wilhelm war überrascht
und erfreut. Er strich mit den Händen über seine Weste. »Wie haben
Sie das denn bewerkstelligt?«
»Eine der Pferdemeisterinnen war … nun, Sie
würden es ungeduldig nennen, Hoheit. Sie war der Meinung, sie hätte
eine Beförderung verdient, sobald sie von der Grenze zurückkäme. Es
war nicht schwer, sie zu überzeugen. Ein Wort in ihr Ohr
genügte.«
»Aber können wir ihrer denn … sicher sein?«,
wollte Wilhelm wissen.
Slathan nickte und tippte sich mit einem nicht
gerade sauberen Finger an die Nase. »Ihre Familie ist vor einigen
Jahren in Schwierigkeiten geraten«, erklärte er. »Dass die Tochter
im Dienste des Fürsten steht, war der einzige Grund, warum ihr
Vater nicht ins Gefängnis wanderte.«
Wilhelm nickte zufrieden. »Das ist wirklich sehr
nützlich, Slathan. Gute Arbeit. Wie heißt sie?«
»Stark. Irina Stark.«
»Sehr praktisch.« Wilhelm strich sich
nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Wenn mein Vater stirbt,
werden wir sie natürlich nicht mehr brauchen.«
Slathan zuckte mit den Schultern. »Es ist nur
eine Rückversicherung, Hoheit. Nur eine Rückversicherung.«