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Mendrinos kam ans Telefon. »Was haben Sie für mich?«

Sie musste ihn bei irgendetwas unterbrochen haben. Seine Stimme klang brüsk. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es gibt da was.«

»Gut. Wir sollten uns treffen und darüber reden. Ich muss hier noch einiges regeln. Wie wär's, wenn Sie in ein oder zwei Stunden einfach vorbeikommen?«

»Ich habe nachher einen Termin in Manhattan.«

»Ich will Ihnen natürlich keine Umstände machen.«

Netter Versuch, dachte sie. Er würde keinen Gedanken an ihre Bequemlichkeit verschwenden. »Meine Verabredung wird nicht lange dauern. Vielleicht können wir uns später treffen, wenn Sie hier auch fertig sind.«

»In Ordnung. Da Sie sowieso nach Manhattan müssen, warum treffen wir uns nicht da?«

Brian war nirgends zu sehen, als sie mit Miss Bennett zum Spazierengehen vor die Tür trat. Vielleicht hielt sein kleiner Schwarm ihn ja für ein Weilchen beschäftigt, so dass sie sich mal auf wichtigere Dinge konzentrieren konnte. Miss Bennett trabte in Richtung des Parks, der den Fluss säumte, und Katherine folgte ihr gedankenverloren. Nur zu gerne wäre sie noch länger alleine draußen im Zwielicht geblieben, aber sie musste bald wieder nach Hause.

Dicke Äste überdachten die stille Straße. Die Häuser waren in diesem Abschnitt ein gutes Stück von der Fahrbahn zurückgesetzt. Merkwürdig, dass sie in einer so dicht besiedelten Gegend dermaßen allein sein konnte. Sie mochte das, und sie mochte die Stille und die Dunkelheit.

Sie überlegte, ob sie Barry anrufen und ihm sagen sollte, dass er ihr die Unterlagen mailen möge. Sie konnte wenig tun, um die Wunden zu heilen, die sie ihm unvermeidlich zugefügt hatte. Aber sie konnte ihm wenigstens die Befriedigung verschaffen, zu demonstrieren, wie gut er ohne sie zurechtkam.

Miss Bennetts scharfes Gebell schnitt in ihre Gedanken. Der kleine Hund zerrte an der Leine vorwärts und bellte wie besessen.

»Ruhe!«, befahl Katherine, und Miss Bennett hörte sofort auf zu bellen, zerrte aber weiter. Katherine zog sanft an der Leine, und Miss Bennett blieb stehen, aber Katherine fühlte, wie sie vor Aufregung bebte. Sie sagte sich, dass es hier nichts zu fürchten gab, aber ihr Puls schnellte in die Höhe, als sie das Geräusch rennender Füße hörte. Sie starrte ins Halbdunkel und machte eine Gestalt aus, die durch die Schatten auf sie zugestürmt kam.

Brians Stimme rief: »Katherine, Miss Bennett!« Sie ließ die Leine los, und Miss Bennett schoss davon, um ihn zu begrüßen. Als Katherine bei den beiden ankam, sprang Miss Bennett immer noch an Brian hoch.

»Was gibt's denn?«

Brian rubbelte Miss Bennetts Ohren. Er sprach zu dem Hund, aber Katherine bekam genug von seinen Worten mit. »Ach, meine Eltern machen heftig Stress. Sie haben mich vollgequatscht, und ich konnte nicht los, ehe sie damit fertig waren.« Es war etwas Neues und Sicheres in Brians Stimme. Die weinerliche Frequenz, die sie zittern und flattern ließ, war verschwunden.

Aber er schwebte auch nicht mehr in den Wolken wie gestern Abend noch. Natürlich musste seine kleine Seifenblase irgendwann platzen, aber Katherine hätte ihm gewünscht, dass es ein bisschen länger dauerte. Die Halbwertszeit des Deliriums der ersten Liebe hat deutlich abgenommen, seit ich jung war, dachte sie. »Du hast deinen Eltern von deinem Freund erzählt?«

Er richtete sich schnell auf. »Nie im Leben! Es ist nur …«

Sie sah zu, wie seine Miene sich verschloss, um seine Gefühle zu verbergen. Also hat er jetzt gelernt, wie das geht. Sie kannte das von allen erwachsenen Männern, aber Brians Gesicht hatte seine Gefühle immer geradezu schmerzhaft deutlich verraten.

»Meine Mutter ist hinter mir her.«

Vielleicht hatte Katherine Mr. Campbell zu schnell in der Rolle des Bösewichts gesehen und Mrs. Campbell in der des Fußabtreters. »Was will sie denn von dir?«

»Ach, nichts. Die Schule hat angerufen, weil ich heute nicht da war.«

Ein paar Tage verliebt, und schon bricht er die Regeln. »Was hast du denn erwartet? Du gehst nicht zur Schule, da regt deine Mutter sich auf, so läuft das im Leben.« Sie war überrascht von ihrem eigenen aufsteigenden Ärger. Im Grunde war das doch gar nicht ihr Problem.

Er blickte zu Boden, zog die Hände in die Jackenärmel und schob sie wieder heraus. Für einen Moment sah er wieder aus wie das linkische Kind, das er bis vor ein paar Tagen gewesen war.

Eigentlich wollte sie mit alldem nichts zu tun haben. Aber sie hatte Brian zur Freiheit ermutigt, wenn auch widerstrebend. Daher war es nun an ihr, ihm auch die Grenzen dieser Freiheit aufzuzeigen. Sie war beileibe nicht glücklich darüber. Alles, was sie zu Brian sagte, zog sie noch tiefer in den Treibsand seines Lebens. Das kam eben davon, wenn man sich reinhängte, wo man gar nichts zu suchen hatte.

»Du weißt doch, wenn deine Mutter nicht dafür sorgt, dass du zur Schule gehst, kriegt sie Ärger. Was fällt dir überhaupt ein, nicht zur Schule zu gehen?« Sie klang wie eine präzise Kopie ihrer Mutter, und das machte ihr Angst.

»Das ist die einzige Zeit, in der ich mit Rob zusammen sein kann.« Der Trotz in seiner Stimme schabte an ihren Nerven. Wenn sie sich solche Halbwüchsigentexte anhören wollte, hätte sie auch gleich Barry glücklich machen können, indem sie selbst ein Kind bekam.

»Also schön, du willst mit Rob zusammen sein. Aber du musst dir überlegen, wie du das hinkriegst, ohne die Schule zu schwänzen. Denn das bringt dich nur noch mehr in Schwierigkeiten.«

»Was glauben Sie denn? Meinen Sie vielleicht, die lassen zu, dass er mich zu einem Rendezvous abholt?«

»Kannst du ihn nicht in … was weiß ich … in einem Coffeeshop treffen?« Sie hörte selbst, wie lächerlich ihre Worte klangen.

»Sie verstehen das nicht. Ich muss zu ihm. Die wissen doch rein gar nichts von Liebe«, fügte er bitter hinzu.

Sie hatte vergessen, dass alle Teenager glaubten, erstmals in der Geschichte der Menschheit die wahre Liebe erfunden zu haben. »Brian, du musst dich beruhigen und das Ganze gründlich durchdenken.« Hat sich je ein Teenager beruhigt, nur weil ein Erwachsener es ihm gesagt hat? »Nur noch ein paar Jahre, dann bestimmst du über dich selbst, gehst irgendwo aufs College und kannst machen, was du willst. Aber in der Zwischenzeit – wenn du bis dahin nicht vorsichtig bist, kannst du gewaltigen Ärger bekommen. Deine Eltern könnten dich sogar zum Familienrichter schleifen. Du musst das alles langfristig betrachten.«

Brian trat einen Schritt zurück. Er sah wirklich viel älter und selbstbewusster aus als nur einen Abend zuvor. »Warum? Warum darf ich nicht geliebt werden? Warum soll jeder Liebe haben können, nur ich nicht?« Er drehte sich um und rannte weg.

Sie rief ihm nach, aber er blieb nicht stehen. Glaubst du, du bist der Einzige mit diesem Problem? hätte sie ihm am liebsten hinterhergeschrien. Sie versuchte nicht, ihn einzuholen.

Sie hätte ihm auch noch gern gesagt, dass seinen Eltern, so verblendet sie auch sein mochten, durchaus an ihm lag. Ihnen lag genug an ihm, um ihm ein Zuhause zu geben, ihn auf eine Privatschule zu schicken und ihn religiös zu erziehen.

Schluss jetzt. Brians Eltern mussten das irgendwie hinkriegen.

Joe, der Pförtner, sah verlegen aus, als er sich ihr in den Weg stellte, sobald sie die Lobby betreten hatte. »Ich lasse Mr. Worth wissen, dass Sie da sind.«

Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie in dem Haus, wo sie fast zehn Jahre gewohnt hatte, vom Pförtner angekündigt werden musste.

»Bitte.« Sie stand neben dem kleinen Mann, während er oben bei Barry anrief. Joe hatte diesen Posten schon gehabt, als sie und Barry einzogen. Sie war ihm zehn Jahre lang fünf Tage pro Woche täglich mehrmals begegnet. Und wusste fast nichts über ihn. Sie wusste nicht, wo er wohnte. Ob er Frau und Kinder hatte.

»Ihre … Ms. McDonald ist hier«, sagte er in die Sprechanlage. Dann: »Er sagt, Sie können raufkommen, Ms. McDonald.«

»In Ordnung. Ich kenne den Weg.« Sie konnte nicht sagen, ob Joe die Ironie zu würdigen wusste.

Als sie auf den Fahrstuhl wartete, glitt die Tür auf und entließ eine Frau mit rasiertem Kopf und einen Mann mit allerlei Piercings in Nase und Augenbrauen. Das Pärchen hatte hier schon gewohnt, als sie und Barry einzogen, auch wenn die Frau damals noch viele lange, schöne Zöpfe gehabt hatte. Beide gingen ohne das geringste Zeichen des Erkennens an ihr vorbei. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie je ihre Namen gehört hatte.

Barry öffnete die Tür, bevor sie sie erreichte. Er hatte seinen Anzug gegen Jeans und einen hellblauen Sweater getauscht, fast im Ton seiner Augen. Er trug auch neue Slipper. Früher war er nach Feierabend immer im Jogginganzug rumgelaufen, und sie fragte sich: Erwartete er noch jemanden, oder hatte er in ihrem ehemaligen Schlafzimmer vor dem Spiegel gestanden und entschieden, dass dies die angemessene Garderobe war, um danebenzustehen, wenn seine künftige Exfrau die Scheidungspapiere unterschrieb?

Seine Begrüßung war noch freundlicher, als sie erwartet hatte. Er küsste sie auf die Wange, als sie an ihm vorbeiging. Ihr war bewusst, dass sie schauspielerten, andererseits hatte sie in ihrer Ehe jahrelang nichts anderes getan. Sie würde schon noch einen weiteren Abend überstehen.

Sie hatte ein paarmal mit ihm telefoniert, ihn aber nicht mehr gesehen, seit sie ausgezogen war. Ihr war ungemütlich bewusst, wie sehr sie ihn an jenem Tag verletzt hatte. Sie hatte seine Reaktion völlig falsch eingeschätzt, denn sie nahm an, ihre Ehe sei für ihn längst ebenso gestorben wie für sie selbst. Dass sie jahrelang aneinander vorbeigelebt hatten, Tag für Tag in tödlicher Routine, und dass Barry nun auch noch fand, das müsste fortgesetzt werden, ging über ihren Horizont.

Sie hatte einst geglaubt, ihn zu lieben, und er hatte gesagt, er liebe sie. Und seinem Weltbild zufolge heirateten Menschen eben. Sie hatte keinen besseren Plan gehabt. Und dann gab es weitere Dinge, die verheiratete Leute eben taten. Sie kauften sich schnieke Buden und machten Skireisen und aßen mit anderen Paaren zu Abend. Und bekamen Babys. Eines Tages war ihr klar geworden, dass für sie in diesem Plan gar kein Platz war. Barry hatte nicht sie geheiratet, er hatte seine Vorstellung von einer Ehe geheiratet.

Seine Tränen und sein Flehen hatten sie schockiert, aber das brachte ihren Entschluss nicht für eine Sekunde ins Wanken. Sie betrachtete seine Reaktion vielmehr als Beleg, dass sie das einzig Richtige tat. Wenn er so wenig von ihr wusste, dass es ihn derartig überraschend treffen konnte, dann wusste er gar nichts von ihr.

Sie fuhr fort, das wenige zu packen, das sie mitzunehmen gedachte. Er wurde wütend und vergriff sich im Ton. Nie hätte sie gedacht, dass er solche Ausdrücke zu ihr sagen könnte. Sie hatte also auch nichts von ihm gewusst. Und das war an sich schon Grund genug zu gehen.

Sie hatte den Eindruck, der Verlassene zu sein machte ihn weit wütender als der Umstand, dass Katherine sich von ihm trennte. Er würde bald jemanden finden, um sie zu ersetzen, da war sie sicher.

Heute hatte er sich völlig unter Kontrolle. Sie setzte sich auf das Sofa, ohne seine Einladung abzuwarten, und bemerkte dann erst ihren Fauxpas. Er bot ihr ein Glas Wein an und stellte damit das korrekte Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber wieder her. Sie sagte Ja, ein Glas Weißen hätte sie gern.

Er kehrte mit dem Wein zurück, in einem Glas, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Sein Benehmen war völlig entspannt. Wenn er das so durchziehen konnte, war er über den Berg. Für einen Augenblick sah sie wieder sein Gesicht vor sich, als er sie am Arm packte, um sie mit ihrem letzten Karton am Gehen zu hindern. Der dunkelrote Bluterguss mit dem exakten Umriss seiner Hand hatte ein paar Wochen gebraucht, um zu verschwinden.

Er erzählte irgendein Anekdötchen von Leuten, die sie ebenfalls gekannt hatte. Sie vermisste sie nicht, und was sie erlebt hatten, war ihr egal. Sie hatte niemandem von denen gesagt, dass sie ihn verließ, und es war ihr auch gleichgültig, was er ihnen erzählt hatte. Ein paar der Frauen hatten Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, aber sie hatte nicht zurückgerufen.

»Wo sind die Papiere?«, unterbrach sie ihn mitten im Satz. Kurze Irritation huschte über sein Gesicht, doch anscheinend konnte er das einfach runterschlucken. Er zeigte auf den Esstisch. Nichts, was sie tat, würde ihn je wieder überraschen, dachte sie.

Der Tisch war leer und frisch poliert, er schimmerte im Licht der Deckenlampe. Auf ihm lag ein Stapel Papiere, exakt rechtwinklig zur Tischkante ausgerichtet. Hastig schoss sie aus dem Sofa hoch und unterschrieb auf den Linien, die mit einem X markiert waren.

Er eskortierte sie zur Tür und wünschte ihr eine gute Nacht, als wäre ihr Benehmen tadellos gewesen, als hätten sie einen vollendet kultivierten Abend miteinander verbracht.

Schon beim Fahrstuhl, drehte sie sich ein letztes Mal zu ihrer alten Wohnung um. Barry stand im Türrahmen und beobachtete ihren Abgang. Sie hatte noch nie zuvor Hass in seinen Augen gesehen.