15
»Keine Ahnung, so 'ne alte Frau. Muss deine Sozialtante sein, Mann«, hörte Katherine den Jungen im Wohnheim sagen, der das Telefon abgenommen hatte.
Gleich darauf vernahm sie Joses Stimme. »Ja?«
»Hier ist Katherine.«
»Sind Sie schon meine Mentorin?«
»Ich habe den Antrag gestellt. Aber ich brauche deine Hilfe. Du musst etwas für mich tun. Du musst der Polizei sagen, was du mir über den neuen Freund erzählt hast, den Jonathan hatte, kurz bevor er verschwand. Die Anrufe, die er bekam, und alles, woran du dich sonst noch erinnern kannst. Ich weiß schon«, sagte sie rasch, bevor er protestieren konnte, »dass du die Cops nicht magst. Dies ist eine gute Ermittlerin. Sie versucht den Kerl zu schnappen, der Jonathan umgebracht hat. Du hast gesagt, du würdest ihn umbringen, wenn du könntest. Wenn du das wirklich willst, finde ich, du kannst zumindest mit ihr reden.«
»'ne Dopefahnder-Lady?«
»Nein, nicht vom Drogendezernat, sie ist bei der Mordkommission. Du kannst natürlich auch mit mir reden, dann muss ich ihr alles weitererzählen, und wenn sie dann Rückfragen hat, kann sie mir sagen, was ich dich fragen soll, und das Ganze dauert ewig. Dabei verschwenden wir viel Zeit.«
»Wessen Zeit verschwenden wir denn?«
»Jose. Er tötet den Nächsten, wenn ihn keiner aufhält. Meinst du, Jonathan würde wollen, dass noch einer ermordet wird, wenn du helfen kannst, es zu verhindern?«
»Okay, ich red' mit ihr.«
»Gut. Sie heißt Peggy. Peggy Malone. Sie wartet schon auf meinen Anruf. Dann kommt sie heute Abend vorbei, um mit dir zu reden.«
»Jetzt schulden Sie mir noch 'ne Pizza.«
»Geht klar. Hör mal, Jose, was du mir von Jonathan erzählt hast, sein Spruch über die Leere. Ich hab mich gefragt, ob du weißt, woher er solche Ideen hatte?«
»Klar doch. Bleiben Sie dran. Ich glaub, ich hab sie auf der Rückseite von diesem Zettel, den er mir gegeben hat.«
Er hat die Leere auf der Rückseite eines Zettels?
Jose war binnen kurzem wieder dran. »Ich hab ihn. Er gab mir doch so 'n Stück Papier, gefaltet wie ein Brief, wissen Sie, weil da der Sch… Kram über die Leere draufsteht, und auf der anderen Seite ist die Adresse und Telefonnummer von der Kirche.«
»Der Kirche?«
»Ja, Mann. Nein«, er hielt inne. »Keine Kirche, ein Zendo. Das war es. Ein Zendo. Jonnie ging da hin.«
Sie schrieb die Adresse und die Telefonnummer auf. Bevor sie auflegte, dankte sie ihm nochmals, dass er bereit war, mit Malone zu sprechen. Auf seine Nachfrage hin versprach sie ihm mit einem Seufzer, dass sie ihn zur Pizza einladen würde, wenn sie ihn das erste Mal als seine Mentorin besuchen kam.
Später fiel ihr ein, dass sie zu fragen vergessen hatte, ob er es war, der am Nachmittag, als sie im Gerichtssaal war, ein Dutzend Mal bei ihr im Büro angerufen und, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, wieder aufgelegt hatte. Wahrscheinlich war er es gewesen. Mit Sicherheit war er kein Typ, der gern mit Maschinen sprach.
◊
Er war herumgefahren, und er hatte Pläne gemacht. Beobachten und fahren und planen. Und er hatte zwei wichtige Dinge herausgefunden. Das eine war, dass das Haus von den Bullen bewacht wurde. Als er heute vorbeigefahren war, hatte er sie schon aus mehreren Blocks Entfernung gesehen. Dachten sie, er könnte sie in Zivil nicht erkennen?
Und am Tag zuvor war sie da gewesen. Es war so einfach. Er musste sie jetzt nicht mal mehr besuchen. Sie war zu ihm gekommen. Sie hatte direkt hinter ihm geparkt. Er hatte fast lachen müssen. Und dann war auch noch der Junge aus dem Haus gekommen und hatte mit ihr geredet. Beide auf einmal.
Sie mit dem Jungen zu sehen erinnerte ihn an alles, woran er sich nicht erinnern wollte.
Sie hatte kein Recht gehabt, zu tun, was sie getan hatte. Sie hatte ihm alles genommen. Und jetzt tat er alles, was er tat, ihretwegen.
◊
Sie wählte die Nummer, die Jose ihr gegeben hatte, und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht. Eine sanftstimmige junge Frau rief sie binnen einer Stunde zurück. Katherine tat ihr Bestes, um ihr Anliegen zu erklären. Das war nicht leicht, da sie gar nicht sicher war, worin genau es eigentlich bestand. Die Stimme der Frau war freundlich. »Da möchten Sie sicher mit Sensei reden.«
Katherine konnte hören, dass das eher ein Titel als ein Name war.
»Ich frage sie nach einem Termin und rufe Sie dann zurück.«
Innerhalb von Minuten rief die Frau wieder an und gab Katherine eine Zeit und eine Adresse durch.
Jonathan hatte versucht, mit ihr über Leere zu sprechen.
Sie kannte sich mit Schmerz aus, sie kannte sich mit Beschädigung aus. Sie wusste, dass Jonathan damit so gut wie möglich klarkommen musste. An dem Tag, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie den gutaussehenden Jungen bemerkt, weil sie mehrfach an der Bank vorbeigehetzt war, auf der er saß und las. Aber sein Fall wurde bis fünf nicht aufgerufen, und sie hatte den ganzen Tag über keine Zeit gehabt, herauszufinden, was er da machte.
Im Gerichtssaal wurden dann die Fakten heruntergeleiert. Seine Mutter hatte ihn und seinen Vater verlassen, als er noch ein Baby war. Sie war in der Crackszene verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Er hatte mit seinem Vater, der Schulhausmeister war, in einem rattenverseuchten Apartment gelebt und sprach immer noch respektvoll von dem Mann. Sein Vater war an Aids gestorben, als Jonathan zwölf war. Der einzige Verwandte, den er kannte, war der Bruder seines Vaters. Der Mann hatte widerstrebend eingewilligt, seinen verwaisten Neffen aufzunehmen, aber er hatte das nicht mit seiner Frau besprochen. Sie ließ ihren Groll darüber voll an dem Jungen aus, und Jonathans Onkel wagte nicht, dagegen vorzugehen.
Ein Nachbar hatte gemeldet, dass die Tante den Jungen schlug und hungern ließ. Sie erschien vor Gericht, um die Anschuldigung von sich zu weisen, und machte absolut kein Hehl daraus, dass sie den Jungen mit Wonne jedem überlassen würde, der ihn nehmen wollte, und zwar lieber heute als morgen. Der Fall war kurz und schmerzlos. Die Anklage gegen die Tante fallen lassen, den Jungen in die Obhut von ACS überführen.
Doch das Gerichtsgebäude war fast leer, als der Fall abgeschlossen war. Der für Jonathan zuständige Fallbetreuer war gar nicht erst aufgetaucht.
Katherine konnte schlecht nach Hause gehen und das Kind allein dort sitzen lassen. Der Kindernotdienst erklärte, sie könnten erst in ein paar Stunden jemanden vorbeischicken, der ihn abholte. Es war eine arbeitsreiche Nacht in der Stadt. Babys waren aus dem Fenster geworfen, Kinder im Central Park ausgesetzt worden, und im Lincoln Hospital wurden mehrere Fälle sexuellen Missbrauchs eingeliefert. Es war im Augenblick einfach niemand verfügbar.
Sie hatte ihn bei McDonalds auf der anderen Straßenseite zum Abendessen eingeladen. Als der Notdienst eintraf, um ihn abzuholen, hatte sie bereits einen Plan geschmiedet, wie sie ihm helfen konnte. Sie hatte ihm versprochen, sich als seine Mentorin zu verpflichten.
Jonathan mit all seinen Talenten hatte eine Chance, zu überwinden, was ihm bisher widerfahren war, darüber hinauszuwachsen. Und sie hatte den verzweifelten Wunsch, ihm das klarzumachen.
Jonathan hatte nochmals versucht, es ihr zu erklären. »Leere ist voller Möglichkeiten«, sagte er. »Oder vielleicht nenne ich es besser Transparenz.«
»Und Weiß ist Schwarz, und Schwarz ist Weiß«, hatte sie erwidert. »Du musst mir verzeihen, ich kann kein Glückskekschinesisch.«
Er hatte gelacht und dann gesagt, aber ja doch, Sie haben ganz recht, denn Weiß sieht leer aus, aber alle Farben sind darin. Und Schwarz scheint eine Farbe zu sein, ist aber in Wirklichkeit die Abwesenheit von Farbe. Aber das träfe es noch nicht ganz, sagte er. Es sei schwer zu erklären. »Ich verstehe es selber noch nicht.«
»Du verstehst es nicht«, hatte sie gesagt, »wie kannst du das dann von mir erwarten?«
Sie wusste, dass er wusste, dass sie einfach nur auf ihn eingehen wollte. Jose hingegen hatte wirklich versucht, es zu verstehen.
»Hey, Malone, du musst dir diese pain au chocolat-Dinger abgewöhnen. Wenn du die weiter so verdrückst, passt du nicht mehr in den Dienstwagen.«
Johnson einen Schreibtisch weiter prustete. Malone hatte noch einen weiten Weg vor sich, bevor das ein Problem werden konnte.
Malone überging den Spruch einfach. »Ich komme gerade von einem Besuch bei Barry Worth.«
»Was gefunden?«
Sie zuckte die Achseln. »Gutaussehender Typ, schickes Büro. Der macht sicher ein paar Hunderttausend im Jahr.«
»Warum also verlässt Mendrinos' Freundin den Geldsack und zieht in das Kabuff, wo sie jetzt lebt? Falls sie von seinem Geld was mitgenommen hat, sieht man jedenfalls nichts davon. Meinst du, sie hatte was mit Mendrinos, und ihr Mann ist dahintergekommen und hat sie auf die Straße gesetzt?«
»Russo, Russo. Trüben deine Vorurteile gegen Frauen jetzt dein Urteilsvermögen? Hör mir einfach mal zu. Ich habe Worth gesagt, dass ich nur ein paar Hintergründe zu einer Ermittlung untersuche. Kein Grund sich zu sorgen, seine Exfrau steckt nicht in Schwierigkeiten. Ob er jemanden kennt, der einen Groll auf sie hat.«
Sie biss wieder von ihrem pain au chocolat ab.
»Und? Sagst du mir nun endlich, was er gesagt hat?«
»Zweierlei. Er erklärte mir, er hat sich nur deshalb in den letzten Tagen öfters am Gericht aufgehalten, weil er mit dem Gedanken spielt, sich auf Strafrecht zu verlegen, und dort ein paar Recherchen durchgeführt hat. Und dann hat er sich gedacht, er schaut mal bei seiner Ex vorbei, nur ein kleiner Besuch unter Freunden, um zu zeigen, dass er ihr nichts nachträgt.«
»Na klar.«
»Klar, völlig klar. Dieser Typ macht sich niemals im Strafrecht den Anzug schmutzig. Aber das Wichtigste ist, ich hatte ihn gar nicht gefragt, was er im Gerichtsgebäude zu suchen hatte. Ich hab nämlich gar nicht gewusst, dass er da rumhing.«
»Gute Arbeit, Malone.«
»Warte, das ist noch nicht alles. Dann sagt er, was die Anrufe betrifft, er wollte nur mit ihr reden, um sie zu fragen, ob sie den Schmuck, den sie von seiner Mutter hat, behalten will, und dass er möchte, dass sie ihn behält, weil er ihr ja, wie schon gesagt, nichts nachträgt. Er hat ein paarmal angerufen, oder vielleicht auch öfter, aber nur, weil er wirklich will, dass sie den Schmuck bekommt. Er hat keine Nachricht hinterlassen, weil er ja weiß, wie beschäftigt sie ist.«
»Und du hast ihn gar nicht nach irgendwelchen Anrufen gefragt. Und ich sehe, dass die McDonald im Allgemeinen keinen Schmuck trägt. Und, wie sah er aus?«
»Wie zu erwarten. Nervös. Er strengt sich unheimlich an, hilfsbereit und offen zu wirken, als könnte er kein Wässerlein trüben, und man merkt die ganze Zeit deutlich, dass er am liebsten wegrennen würde.«
»Glaubst du, er ist es?«
»Ich kann in ihm partout keinen Serienkiller sehen. Obwohl, manchmal wird man ja überrascht. Genau dasselbe haben die Leute über Ted Bundy gesagt. Aber dieser Worth hat offenkundig Angst, dass wir wegen Stalking gegen ihn ermitteln könnten. Ich weiß nicht, wie ein kluger Typ wie er darauf kommt, jemand vom Morddezernat würde sich um so was kümmern. Vielleicht ist er derjenige, der McDonald kleine Liebesbotschaften hinterlässt, und es gibt zu Jack überhaupt keine Verbindung. Er kam mir vor wie ein Kerl, der nicht gern verliert, und es sieht so aus, als hätte er McDonald verloren.«
»Quatsch. Ich sag doch, er hat sie rausgeschmissen. Wie gesagt, gute Arbeit. Melde dich, wenn du mehr über ihn hast.« Russo sah sie bei seinen letzten Worten nicht mehr an. Er las schon wieder in irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch. Sie war entlassen.
»Russo.«
»Ja?« Ohne aufzublicken.
»An McDonald ist mehr dran, als du denkst. Sie hat ihn verlassen, da bin ich sicher. Und sie hat keinen Cent von dem Geld mitgenommen. Und ich glaube nicht, dass sie so abgebrüht ist, wie du denkst.«
»Du meinst, sie ist gar nicht die Eisprinzessin, die sie zu sein scheint?«
»Nein, nicht durch und durch.«
»Du irrst dich. Geh an deine Arbeit.«
Katherine fuhr zur Adresse des Zendo. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Was sie vorfand, war ein gewöhnliches schäbiges Mietshaus. Über der Gegensprechanlage im Eingang, leicht verdreckt wie die meisten hier, klebten unter den Klingeln kleine Papierstückchen, auf die die Namen der Bewohner gekritzelt waren. Auf einem stand Herz der Leere-Zendo. Sie klingelte und wurde hinaufgebeten.
Sie stellte sich den ›Sensei‹ als kleinen, runzeligen asiatischen Mann vor und war innerlich auf zynische Distanz gepolt. Wenn er in alle Geheimnisse des Ostens eingeweiht war, was ›lehrte‹ er dann hier in einer schmierigen Mietwohnung? Hatte er Rauch und Spiegel verwendet, um Jonathan von seinen Schularbeiten abzubringen? Und wenn er wirklich ein weiser Mann war, warum hatte er nicht versucht, Jonathan zu überzeugen, wieder zur Schule zu gehen, was doch unzweifelhaft das Beste für ihn war? Hatte er Jonathan seinem Mörder vorgestellt?
Eine runde, bleiche Frau mit rasiertem Schädel, mehreren Kinnen und verblüffend blauen Augen öffnete die Tür. Ihr strahlendes Lächeln war enervierend. »Wie schön, Sie endlich kennenzulernen«, sagte die Kahlköpfige. »Ich bin Hester O'Brian, und Sie müssen natürlich Katherine sein. Jonathan hat mir so viel von Ihnen erzählt.«
Hinter Hester befand sich ein kleiner Raum. Er war leer bis auf zwei Reihen schwarzer Kissen vor einem niedrigen Altar mit einer kleinen Buddhastatue und einer Vase mit Blumen. Eine Frau in schwarzer Robe saß mit verschränkten Beinen auf einem der Kissen, vollkommen still, das Gesicht zur Wand. Der Geruch von Räucherwerk lag schwer in der Luft. Katherines Augen tränten, ihre Nase begann zu laufen. Sie hoffte, dass das nicht in einen bösen Asthmaanfall ausartete.
Asiatische Männer passten besser zu dieser Schädelrasur. Katherine fiel es schwer, nicht dauernd auf die Beulen und Krater auf Hester O'Brians Schädel zu starren. Er sah aus wie die Oberfläche des Mondes. Katholische Nonnen trugen wenigstens diese Haubendinger.
Hester trug ein verwaschenes Sweatshirt in der Farbe ihrer Augen. Ihr sehr rundlicher Hintern war in Jeans gezwängt.
»Ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll. Die Frau am Telefon nannte Sie ›Sensei‹.«
»Bitte nennen Sie mich Hester.«
»Wie hat Jonathan Sie genannt?«
»Sensei. Aber er war mein Schüler. – Kommen Sie, wir wollen uns setzen und reden«, sagte sie und führte Katherine durch einen kurzen Flur in ein kleines Zimmer mit poliertem Holzfußboden. Ein Futon lag zusammengerollt in einer Ecke. Zwei Kissen waren auf einer Webmatte platziert. Das einzige weitere Möbelstück war ein kleiner, niedriger Tisch. Auf der Tischplatte waren ordentlich eine dicke Kerze, ein grüner Plastikdinosaurier und ein kleines gerahmtes Schwarzweißfoto von Susan Sarandon arrangiert. An der Wand über dem Tischchen hing ein Farbfoto von einem lächelnden Asiaten mit Falten und einer Robe.
Hester bedeutete Katherine mit einer Handbewegung, sich auf eins der Kissen auf dem Boden zu setzen. Sie sagte: »Ich hole uns etwas zu trinken«, und verließ den Raum.
Katherine fügte sich gedanklich schon mal in die Notwendigkeit, jetzt irgendeinen blassen grünen Tee zu nippen, der wie gekochte Wiese schmeckte und in zerbrechlichen Schälchen serviert wurde. Sie war ein wenig besorgt, dass ihre Ignoranz in zeremoniell korrektem Teetrinken zu solchen Anlässen absichtslos einen Affront herbeiführen könnte.
Der Raum war gemütlich, friedvoll und angenehm nüchtern. Ihre eigene Wohnung konnte in der Kategorie nüchtern eindeutig mithalten, doch da fehlte die Süße, obwohl sie nicht den Finger auf den Unterschied hätte legen können. Beide Räumlichkeiten waren in erster Linie leer, was war es also, das ihre eigene Behausung trostlos erscheinen ließ? Sie konnte sich gut vorstellen, wie es Jonathan gefallen haben musste, hierher zu kommen.
Hester erschien mit zwei Dosen Diätcola und zwei Plastikbechern mit Eis. Sie baute alles auf der Webmatte vor den Kissen auf.
»Kann ich Sie etwas fragen?«
Hester neigte den Kopf, als erteile sie die Genehmigung.
»Macht der Glaube an Wiedergeburt es leichter, zu akzeptieren, dass er tot ist? Glauben Sie, er kommt wieder?«
Hesters Augen röteten sich, Tränen rannen über ihre runden Wangen. »Nein«, sagte sie, während ihr die Tränen aus den Augen liefen und sie sie mit einer Papierserviette abtupfte. »Er ist weg.«
Katherine verspürte ein Aufwallen von Zorn. Was nützte das alles, die Statuen, der Weihrauch, die Kerzen, die ganze Kulisse?
Sie saßen eine Weile schweigend da. Hesters Tränen versiegten schließlich. »Ein Lehrer trifft einen solchen Schüler vielleicht einmal im Leben«, sagte sie.
»Wenn Jonathan Ihnen etwas bedeutete, warum haben Sie dann nicht versucht, ihn zu überzeugen, dass er die Schule weitermachen muss?«
»Er sagte, er könne das nicht. Er könne nicht dort bleiben, während die Kids in seinem Heim, in seiner Gegend so ein Leben führen müssen. Es war nicht so, dass er glaubte, es nicht verdient zu haben. Es war eher so, dass er fand, dass es allen zusteht. Und er mochte es nicht annehmen, solange es nicht jeder kriegen konnte.«
»Und was hat er erreicht, indem er hinschmiss?«
Hester hob die Hände. »Wenn er auf Sie nicht gehört hat, wie kommen Sie dann auf die Idee, er hätte auf mich gehört? Ich weiß nur, dass er das Leiden gespürt hat und etwas dagegen unternehmen wollte. Ohne für sich in Anspruch zu nehmen, was andere um ihn herum nicht haben können.«
»Dämlich, dämlich, dämlich.«
»Ich weiß nur, dass er nichts haben wollte, was andere nicht bekommen.«
»Aber was waren seine Pläne für die Zukunft?«
Hester rückte näher an Katherine heran und legte ihre kurze dicke Hand auf Katherines dünne. Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was er wollte.«
»Ich auch nicht.«
Ohne zu urteilen sagte Hester: »Ich weiß. In meiner Tradition sagen wir, ein Schüler braucht drei Lehrer. Den ersten, um ihn in die Arbeit einzuweihen, den zweiten, um ihn auf dem Weg voranzubringen, den dritten, um ihm zu helfen, Erleuchtung zu erlangen.«
»Wollen Sie damit sagen, ich war einer seiner Lehrer? Ich glaube kaum, dass ich dafür geeignet bin.« Sie holte tief Luft. »Wozu sind Sie denn gut, wenn Sie das alles gar nicht wissen?« Sofort tat es ihr leid, das gesagt zu haben.
Die andere Frau lächelte leicht und antwortete: »Ich nehme an, zu nichts.«
Nach einer kurzen Stille stellte Katherine die Fragen, deretwegen sie hergekommen war.
Hester hatte nicht die entfernteste Vorstellung, wo Jonathan seinen Mörder getroffen haben könnte. In den letzten Wochen vor seiner Ermordung war er nur noch selten im Zendo gewesen, sagte sie. Ihr Eindruck war, dass er etwas oder jemand anderes gefunden hatte.
»Wollen Sie damit sagen, er hat einen neuen Lehrer gefunden? Woran erkennt man, dass man den richtigen Lehrer gefunden hat?«
»Das ist natürlich das Knifflige dabei.« Sie versanken in weiterem angenehmem Schweigen.
»Ich wünschte, ich hätte Ihre Zuversicht«, sagte Katherine schließlich, »oder könnte wenigstens an Karma glauben. Sie glauben doch an Karma, oder? Jonathan hatte das nicht verdient, und manchmal hab ich das Gefühl, ich explodiere gleich vor lauter Wut.«
»Ich bin auch wütend. Ich versuche meine Wut zu transformieren, in meine Übungen und meine Lehren. Das schaffe ich natürlich nicht immer.« Hester lächelte schmerzlich.
»Ich will nichts transformieren. Ich will der Polizei helfen, den Kerl zu kriegen, der das getan hat.«
»Den Mörder fangen helfen, damit er nicht weitermorden kann, das ist lobenswert. Aber bitte, Katherine, lassen Sie sich nicht von diesem Zorn auffressen. Lassen Sie nicht zu, dass er noch mehr Leiden verursacht.«
Katherine stand auf. Hester fragte nach den Plänen für die Beerdigung.
»Ich habe noch nichts in die Wege geleitet. Sie halten seine Leiche im Leichenschauhaus fest. Ich habe erklärt, dass ich die Kosten trage. Sie versuchen noch, irgendwen von der Familie im Süden ausfindig zu machen. Wenn ich eine Trauerfeier organisieren kann, würden Sie dann sprechen?«
»Das wäre eine Ehre.«
Dann platzte es aus Katherine heraus. »Warum haben Sie einen Plastikdinosaurier auf Ihrem Altar?«
»Wussten Sie, dass tibetische Mönche manchmal rituelle Gegenstände aus menschlichen Skelettteilen benutzen? So etwas wie eine Zeremonienschale aus einer Schädeldecke?«
»Typisch Zen, eine Frage mit einer Frage zu beantworten. Nein, das wusste ich nicht, und es kommt mir sehr morbide vor. Aber dieser Dinosaurier war nie ein lebender Mensch.«
»Nein. Aber die Dinosaurier haben hier gelebt, solange ihre Spezies existierte. Sie wussten nicht, wo sie herkamen. Und sie wussten nicht, dass ihre Welt enden würde.«
»Und das soll mir helfen, mich besser zu fühlen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich verstehe es immer noch nicht, aber egal. Was macht Susan Sarandon hier?«
»Ihr Gesichtsausdruck auf dem Foto erinnert mich an den Bodhisattva des Mitgefühls, Guanyin. Sie erinnern mich auch an sie. Ihre Arbeit.«
»Wie bitte?«
»Das Leiden ist endlos, ich gelobe es zu beenden. Das ist das, was Sie tun.«
»Endlos. So fühlt sich ein übler Tag in der Fallaufnahme an.«
Hester brachte Katherine zur Tür. »Sie sind hier immer willkommen. Jederzeit.«
»Danke«, sagte Katherine. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder herkommen würde. Aber sie hatte jetzt das Gefühl, zu verstehen, warum Jonathan so oft hier eingekehrt war.