21
Als Mendrinos reinkam, saß Katherine auf ihrem Stuhl vor ihrem Kartentisch. Ihre Beine baumelten über die Armlehne, die Füße leicht bandagiert. Der Sanitäter hatte darauf bestanden, alle Schnitte gründlich zu säubern, mit einer Pinzette die kleinen Glassplitter zu entfernen und ihr die Fußsohlen mit Antiseptikum einzupinseln, bevor er Mullbinden drum herumwickelte.
»Sie hätten mich sofort anrufen sollen.«
Sie zuckte die Achseln. »Wir sollten aufhören, uns immer so zu treffen.«
Er beachtete ihren lahmen Witz nicht. »Russo sagte mir, der kleine Campbell hat den Rutland-Mord gestanden.«
Sie nickte nur. Durch die Küchentür war ein Teppich aus Scherben und Blut zu erkennen.
»Alles so weit in Ordnung?«
Sie nickte wieder. »Brian hat sich beim Reinklettern geschnitten.«
»Ich bin gleich wieder da.« Er drehte sich um und ging hinaus. Nach ein paar Minuten kam er zurück. Sie saß immer noch auf ihrem Gartenstuhl und ließ die Beine baumeln.
»Wird er als voll schuldfähig angeklagt?«, fragte sie.
»Für diese Entscheidung ist es noch zu früh. Aber ich nehme an, dass sie es zumindest versuchen werden. Es liegt zu viel öffentlicher Druck auf diesem Fall.«
»Ich hab ihm gesagt, er soll nicht mit der Polizei reden, sondern warten, bis er einen Anwalt hat. Aber er wollte nicht. Er musste alles loswerden. Er konnte die Schuld nicht ertragen. Er sagte, er hat es zeitweilig geschafft, zu glauben, er hätte es gar nicht getan. Aber nachdem die Leiche gefunden wurde, konnte er sich das nicht mehr einreden.«
»Hat er Sie verletzt oder bedroht?«
»Nein. Er hat nur auf meinem Küchenfußboden gesessen und geweint. Er wollte nur mit mir reden, bevor er sich stellte. Er meinte, er hat sonst niemanden.«
»Und warum hat er dann nicht an Ihrer Tür geklingelt, statt einzubrechen?«
Sie zuckte wieder die Achseln. »Wahrscheinlich hätten seine Eltern ihn gehört, wenn er zur Vordertür raus wäre. Also ist er durch die Verandatür raus, über den Innenhof und durch mein Küchenfenster rein.«
Ihre Hände lagen mit gespreizten Fingern auf der Tischplatte, als wollte sie mit ihrem ganzen Gewicht darauf balancieren. Ihre Handgelenke waren so dünn und die Venen daran so blau, dass er wegsehen musste, während sie weitersprach.
»Es war Rob, der ältere Mann, der darauf bestanden hat, dass Brian zu einem Therapeuten geht. Er hat sich Sorgen um Brian gemacht. Aber Alice, ich meine Dr. French, musste den Fall melden, sobald sie erfuhr, das es zur Verführung eines Minderjährigen gekommen war.
Nur dass Brian eben denkt, dass es wahre Liebe war. Tja, nun wollten ihn aber alle überzeugen, dass er das Opfer sexuellen Missbrauchs ist. Dr. French, die Polizei, seine Eltern und Ihre Kollegen von der KiddieNet-Sonderkommission. Sie haben ihm eingetrichtert, als erster Schritt zu seiner Heilung sei es unabdingbar, dass er mit den Ermittlern kooperiert.
Dieser Rob ist vorbestraft. Er hat genau dasselbe schon mit anderen Jungs angestellt. Und als die Detectives ihm das erzählt haben, ist Brian zusammengebrochen. Er dachte natürlich, er wäre der Einzige.«
Ihre Stimme zitterte, als wollte sie gleich selbst anfangen zu heulen.
»Am Ende konnte er Rob dann doch nicht reinlegen. Er sagt, er kann sich nicht erinnern, jemals im Leben glücklich gewesen zu sein, außer in den kurzen Zeitspannen, die er mit Rob zusammen war. Der gab ihm das Gefühl, es wäre in Ordnung, er selbst zu sein, sagt er.
So dachte er nun, dass er dazu verdammt ist, einsam zu bleiben und von jedem gehasst zu werden, der ihm je etwas bedeutet hat. Er ist überzeugt, dass er an allen mindestens ein Mal Verrat begangen hat. Und dann hat er ein Verbrechen verübt, das sein Problem für ihn löst. Er muss nun nicht mehr herausfinden, wie er der sein kann, der er ist, und wie man in einer Welt leben kann, die das, was er ist, verabscheut. Er geht einfach nur ins Gefängnis.«
»Er hat immerhin Sie.«
»Das wird ihm ja mordsmäßig viel nützen.«
»Aber er ist hergekommen, um Ihnen alles zu erzählen. Es hätte viel schlimmer kommen können. Er hätte sich umbringen können. Er hätte auch noch ein Kind ermorden können.«
Sie starrte blind geradeaus, als ob sie ihn gar nicht gehört hätte. »Ich glaube ihm. Dass er es nicht gewollt hat. Der Junge stand vor seiner Tür, sagt er, und da hat Lenny ihn so an sich selbst erinnert. Dieser schlaksige blonde Knabe. Für Brian war das wie ein Spiegelbild des Hohns.
Er hat den Jungen reingeholt und vergewaltigt, bevor ihm überhaupt klar wurde, was er da tat. Er kriegte seine Wut nicht mehr in den Griff. Er hat nicht gewusst, dass er solchen Jähzorn in sich hatte. Und nachdem er den Jungen vergewaltigt hatte, verachtete er ihn dafür, dass er so schwach und wehrlos war, und verachtete sich selbst für das, was er getan hatte, und wusste, jetzt, wo er so weit gegangen war, konnte er nie wieder zurück in sein altes Leben. Nichts würde je wieder so sein, wie es vorher gewesen war. Da hat er den Jungen erwürgt. Er hat den Jungen erwürgt«, wiederholte sie, als könnte sie es immer noch nicht recht glauben.
»Die Hintertür des Geräteraums war nicht abgeschlossen. In diesem Punkt muss Mr. Donnelly gelogen haben. Ich schätze, er hatte Angst, dass sein Chef böse wird, wenn er von dieser Nachlässigkeit erfährt. Brian hat sich eine Schubkarre geholt und sie durch die Verandatür in die elterliche Wohnung gefahren. Er hat die Leiche hineingelegt und mit Müllsäcken bedeckt. Dann hat er sie über den Innenhof in den Geräteraum geschoben. Da bestand natürlich die Möglichkeit, dass einer der Nachbarn gerade zu Hause ist und ihn durchs Fenster sieht, aber das ist wohl nicht passiert. Und das war's. Ende der Geschichte.«
»Werden seine Eltern ihm einen guten Anwalt besorgen?«
»Ich glaube, kein Anwalt der Welt ist gut genug, um ihn da noch rauszupauken.«
»Tut es Ihnen leid, dass er der Polizei alles gestanden hat?«
Sie zuckte die Achseln. »Er konnte mit der Schuld nicht leben.«
Eine Weile saßen sie schweigend da.
»Ich sollte heute Nacht bei Ihnen bleiben.«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sie wollte jemanden um sich haben, egal wen, irgendwen, der sie von dem Schmerz ablenkte, den sie in Brians Augen gesehen hatte, von ihren Erinnerungen an Jonathan, ihren Ängsten um Jose. Und hinter alledem natürlich ihrer Sehnsucht nach Seth, danach, dass er am Fußende ihres Bettes saß und alles wiedergutmachte. Sie wollte den bitteren Geschmack in ihrem Mund für eine Weile vergessen.
Schließlich stand sie auf und ging vorsichtig auf ihren bandagierten Füßen ins Schlafzimmer. Diesmal folgte ihr Mendrinos.
Sie zog sich aus, ließ alles auf den Boden fallen und legte sich aufs Bett. Es schien Jahre her, dass sie vom Geräusch brechenden Glases erwacht war.
Mendrinos zog seine Sachen aus und breitete sie sorgfältig über eine der Kisten an der Wand. Dann streckte er sich vorsichtig neben ihr aus. Nach einer Weile legte er einen Arm um sie und streichelte mit ungeheurer Zärtlichkeit ihren Rücken. Sie seufzte und lehnte sich entspannt an seinen Körper. Seine Hand glitt über ihren Rücken und durch ihre Haare.
Da presste sie sich an ihn, packte zu und umschlang ihn, krallte ihre Nägel in seinen Rücken und biss in seine Lippen. Warf sich in den Akt, als ob es ein Feuer wäre. Sie hatte es verzweifelt eilig, und er auch, beide grob und gierig. Dann, im letzten Moment, stockten sie beide.
Keiner sprach, aber er hielt sie in den Armen, und sie entspannte sich langsam wieder. Die Wildheit wich aus ihr, und sie weinte.
Am nächsten Morgen erwachte sie sehr langsam. Immer wieder tauchte sie fast auf, spürte seine Körperwärme neben sich in ihrem Bett und ließ sich wieder hinabgleiten in die behagliche Betäubung des Schlafs. Bis der Tag sie irgendwann endgültig hochzog.
Er lag wach neben ihr und starrte an die Decke. Sie setzte sich auf und zog ihr Sweatshirt über, ohne ihn anzusehen. Keiner von ihnen sprach. Sie drehte ihm den Rücken zu und blickte aus dem Fenster über den Innenhof, während er in seine Sachen stieg.
»Ich muss nach Hause und mich umziehen«, brach er schließlich die Stille.
Sie zuckte die Achseln. »Ich kann dir keinen Kaffee machen.«
»Aber das wusste ich, als ich blieb.«
Sie lächelte über den Versuch eines Witzes, und er lächelte zurück.
Keiner von ihnen versuchte den anderen zu berühren, bevor er ging.
Sie kam an diesem Tag zu spät zur Arbeit.
Annie war schon unten im Gerichtssaal, aber auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch wartete Steve Green auf sie.
»Hey, Ms. McDonald«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann überreichte er ihr eine Bleistiftzeichnung auf dickem braunem Packpapier.
Die Technik war grob, aber der Stil vertraut. Das Motiv war die Folterung eines Hundes durch eine kleine männliche Figur.
»Lamar Hicks«, sagte er. »Hier drin sind noch viel mehr davon. Ich bin überrascht, dass ich sie aufgehoben habe.«
»Ich nicht. Sie machen Ihre Arbeit gut und gründlich.«
Sie starrte auf die Zeichnung in ihrer Hand. Dann sah sie ihn an.
»Was denken Sie? Ich habe meine Meinung, aber ich muss Detective Russo anrufen und will ihm sagen, was Sie denken.«
Er hob den Blick und sah ihr direkt in die Augen. »Ich bin sicher, dass es Lamar war, der Ihnen diese Zeichnung zukommen ließ. Warten Sie.« Er suchte eine Weile in der Akte, die er vor sich hatte, und reichte dann ein brieftaschengroßes Foto über den Tisch. Die Schulfotografie eines dünnen, schmächtigen Jungen. »Das ist er. Das ist Lamar zu der Zeit, als wir seinen Fall bearbeitet haben.«
Sie betrachtete das Bild und konnte sich nicht erinnern, diesen Jungen je gesehen zu haben. Sie erinnerte sich an den Fall, und sie erinnerte sich genau an die Zeichnungen, aber sie hatte absolut keine Erinnerung an Lamars Gesicht.
Sie umging Mendrinos und rief Russo direkt an. Sie erzählte ihm, was Steve gefunden hatte. Seine Reaktion fiel unverbindlich aus. Es war klar, dass sie mehr brauchte, um ihn zu überzeugen.
Als sie aufgelegt hatte, wandte sie sich an Steve, der immer noch wartend vor ihr saß. »Wir werden einen Psychiater oder Psychologen oder Kunstexperten brauchen, egal, nur irgendwer der uns eine professionelle Expertise liefert, dass dies«, sie deutete auf die Zeichnung, »von derselben Person gezeichnet wurde wie das hier«, und sie schwenkte eine Fotokopie der Zeichnung, die jemand unter ihrer Tür durchgeschoben hatte.
Steve sah auf seine Uhr und stand auf. »Es ist schon spät, aber ich werd mich dahinterklemmen.«
Als er rausging, klingelte das Telefon. Sie nahm ab, und Mendrinos sagte: »Du glaubst also, es ist derselbe Typ.«
»Ja. Eindeutig. Ich bin ganz sicher.«
»Worauf gründet sich dein Urteil? Kannst du irgendein spezifisches Detail anführen?«
Sie betrachtete die Zeichnung, die vor ihr lag. »Nein. Es gibt keine Einzelheit, auf die ich den Finger legen könnte. Es ist einfach nur so, dass mein Bauchgefühl auf diese Zeichnungen genau gleich reagiert. Ich weiß, dass es derselbe Kerl ist. Ich weiß es.«
»Das reicht aber nicht, damit wir einen Durchsuchungsbefehl bekommen.«
»Der Fallbetreuer ist schon unterwegs, um ein professionelles Gutachten aufzutreiben.«
»Gut. Bleib in Verbindung.«
Diane steckte ihren Kopf durch die Tür. »Mädchen, hat das Wort ›Mittagspause‹ für dich irgendeine Bedeutung?«
»Ich kann nicht weg. Ich muss noch diese Akte hier durchackern, bevor Detective Malone sie abholen kommt.«
»Ja, aber alle Arbeit …«
»Warte mal. Kannst du einen Moment reinkommen?«
»Na klar.« Sie ließ sich auf Annies Bürostuhl nieder und schlug ihre langen dünnen Beine übereinander, wodurch sie Katherine an einen dieser grazilen Vögel erinnerte, die im Wasser stehen. »Über wen wollen wir denn herziehen?«
»Mendrinos hat die letzte Nacht bei mir verbracht.«
Diane beugte sich vor und klatschte mit der flachen Hand auf einen Aktenstapel. »Hab ich dir nicht gesagt, du musst dich mal flachlegen lassen?«
»Aber ich dachte, du und Mendrinos, ihr wärt ein Paar.«
»Wer hat das gesagt? Und wenn es jemand gesagt hat, wieso schläfst du dann mit ihm? Erinnere mich in Zukunft daran, meine Liebhaber von dir fernzuhalten.« Sie lachte. »Nein, im Ernst, wie kommst du darauf?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Wir hatten mal ein paar Verabredungen, aber das ist Jahre her.«
»Was ist passiert?«
»Nichts. Mich gibt's nur im Paket, weißt du. Meine zwei Mädchen gehören zu mir. Ich hab nicht die Energie, mich um einen Mann zu kümmern und die beiden großzuziehen.«
»Muss Mendrinos gehätschelt werden?«
»Nein, im Gegenteil. Ich schätze, er würde das hassen. Aber ich hab einfach keine Zeit für solche Albernheiten. Sicher, ich gönn mir ab und zu einen Kerl, aber ich bringe niemanden in das Leben meiner Mädchen. Die haben genug mitgemacht. Sie brauchen keine Männer, die kommen und gehen. Und welcher Mann möchte schon mein Teilzeitspielzeug sein?« Sie blickte nachdenklich ins Leere. »Sicher, manche schon, aber nicht Dan. Dan will mehr als das, aber ich wollte es ihm nicht geben.«
Sie kicherte plötzlich. »Das klingt, als ob das alles ganz allein meine Entscheidung war. Vielleicht wollte er mich ja nicht genug, um es als Herausforderung zu nehmen, als ich ihm meine Bedenken erklärt hab. Vielleicht hätte er sich mehr anstrengen können, mich zu überzeugen, dass er nichts auf der Welt lieber will, als der Vater meiner Mädchen zu werden.
Nein, ich glaube, ich bin ihm auch zu handfest. Er liebt seine Frauen geheimnisvoll und kompliziert. Deshalb ist er ideal für dich.«
Sie stand auf und streckte sich wie eine Katze.
»So. Ich muss los und mir was zu Essen besorgen. Ich versuche auf dem Weg Annie aufzugabeln, und wir bringen dir was mit. Ich will nicht, dass du zu einem Nichts schwindest und weggeweht wirst.«