12
Katherine lehnte sich an die Tür, nachdem Mendrinos gegangen war. Dann kam ihr plötzlich der verrückte Verdacht, er könnte noch auf der anderen Seite der Tür stehen und warten. Sie schob den Riegel vor und presste ein Ohr gegen das Holz. Sie hörte nichts. Aber vielleicht war da das schwache Geräusch seiner Schritte auf dem Gehweg. Vielleicht war es aber auch nur das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren.
Sie hatte die ganze Nacht geredet und erklärt und stundenlang Fragen beantwortet. Ihre Furcht war verflogen, allerdings auch ihre Kraft. Immerhin, Detective Russo hatte es letzte Nacht gesagt: Serienmörder hatten fast immer ihren ganz bestimmten Opfertyp und hielten eisern daran fest. Und selbst wenn Jack die Ermittlungen durcheinanderbringen wollte, war sie ein höchst unwahrscheinliches Ziel. Jemand anderes als der Serienmörder hatte ihr die Zettel geschickt. Die toten Katzen waren nicht Jacks Werk. Sie hatte es bloß mit einem verrückten Witzbold zu tun. Der war krank, so viel war klar. Sie musste vorsichtig sein. Aber es war trotzdem nicht die gleiche Liga, wie wenn ein Serienmörder es auf einen abgesehen hatte.
Shawan Castros Akte lag auf der Sitzfläche ihres Schreibtischstuhls, als sie nach ihren Gerichtsterminen in ihr Büro zurückkam. Wieder einmal ließ sie sich auf dem Fußboden nieder und arrangierte Akten, Schreibblock und den Zeitplan mit Jonathans und Craigs Unterbringungen um sich herum. Sie arbeitete sich so langsam und methodisch durch Shawans Akte, wie sie es bei den ersten beiden getan hatte. Sie machte sorgfältig Notizen und orientierte sich immer wieder an den Zeiträumen in ihrer Tabelle.
Shawans Geschichte war auch nicht trauriger als andere. Immer wieder verpflanzt, von einer Erziehungseinrichtung zur anderen. Er hatte vor mehr als zwei Jahren für kurze Zeit im Robert-Leffler-Jugendheim gelebt. Soweit sie sagen konnte, war das sein einziger Aufenthalt in einem solchen Gruppenheim. Katherine faltete ihre Beine auseinander, stand auf und begann im Raum umherzuwandern. Alle drei Jungs waren in wenigstens einer Gruppenunterkunft gewesen. Aber Shawan war nicht im Gruppenhaus Watson & Green gewesen. Das Robert-Leffler-Jugendheim wurde von einer anderen Agentur betrieben, der Agentur Feldmann. Das war also eine Sackgasse. Einer dieser Zufälle, vor denen Mendrinos sie gewarnt hatte.
Sie hatte schon mal irgendwas über die Agentur Feldmann gehört, vor längerer Zeit. Aber sie konnte sich partout an keine Einzelheiten erinnern. Vielleicht hatte sie nur mehrere Fälle gehabt, bei denen die Kinder in Feldmann-Einrichtungen untergebracht wurden, und so hatte sich der Name in ihrem Kopf festgesetzt. Wenn jedoch bei der Agentur Feldmann oder sonst einer Agentur etwas Bedeutsames vorgefallen war, dann wusste es Diane. Oder sie wusste zumindest, wer es wusste.
Diane stand an ihrem Schreibtisch, den Telefonhörer in der Hand. Sie legte die andere Hand über die Sprechmuschel, als sie Katherine in der Tür sah. »Hab die Zentrale in der Leitung, bin auf Warteschleife. Das Büro des Bürgermeisters hat den neuesten Bericht zur Kindersterblichkeit erhalten. Jede Wette, die werden uns wieder umstrukturieren. Setz jeden einmal um, bis keiner mehr weiß, was los ist, dazu möglichst viele Pressekonferenzen. Anstatt mal was Sinnvolles zu tun, wie die Ausbildung und Bezahlung der Fallbetreuer zu verbessern, wie es jeder Bericht seit Anbeginn der Zeit gefordert hat.«
Katherine ließ sich auf einem der zu Gruppen zusammengestellten Stühle nieder. Dianes Büro war kahl und sauber. Keine Familienfotos oder Souvenirbecher, die, wie unpassend auch immer, in so manchem der Anwaltsbüros hier als Dekoration dienten. Das einzige Bild an den Wänden war eine alte Fotografie. Sie sah aus wie aus einer Zeitung ausgeschnitten und hing in einem billigen Blitzrahmen aus der Drogerie. Diane sprach nie darüber, aber wer lange genug da war, wusste, das war ein Andenken an den Farrely-Fall.
»Gab es je irgendwelche interessanten Vorkommnisse bei der Agentur Feldmann?«
»Lass mich mal nachdenken … doch, da war mal irgend so was mit zwielichtiger Buchführung und einer Abmahnung durch das Amt für Kindeswohl. Warum?«
»Was war das Ergebnis?«
»Die Agentur ist dichtgemacht worden. Ein paar Wohnprojekte wurden von anderen Agenturen übernommen. Das ist alles ein paar Jahre her, soweit ich mich erinnere.«
»Was wurde aus den Gruppenunterkünften, die Feldmann betrieb?«
»Das weiß ich nicht. Solche Einzelheiten dringen nicht bis zu mir vor.« Ein Ausdruck des Begreifens überzog Dianes Gesicht. »Lass mich nur schnell diesen Anruf hier erledigen, dann … ja, ja, ich schicke Ihnen den ganzen Bericht«, sagte sie in den Hörer.
Katherine saß wieder an ihrem Schreibtisch und grübelte über ihrer Zeitübersicht, als Diane hereinkam.
»Ich hab beim ACS-Archiv angerufen. Das Robert-Leffler-Jugendheim wurde von Watson & Green übernommen und ist jetzt –«
»Das Gruppenhaus Watson & Green.« Katherine schaute auf die dreispaltige Tabelle, die sie angefertigt hatte, strich den Namen Robert Leffler aus und schrieb dafür Watson & Green hin. Sie kreiste das Datum ein, an dem Shawan dort untergebracht worden war.
Sie wussten es beide, trotzdem musste Katherine es laut aussprechen. »Alle drei Opfer lebten in den letzten drei Jahren für eine gewisse Zeit im selben Heim.«
»Gott sei uns gnädig. Was ist da los?«
Katherine zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein durchgeknallter Herbergsvater? So eine Art Sweeney Todd der Jugendheime? Du weißt doch, dass man einen Dachschaden haben muss, um so einen Job zu übernehmen.« Sie wollte nicht, dass es George Jackson war.
Diane schüttelte den Kopf. »Das ist nicht witzig.«
Das hatte Katherine Diane noch nie sagen hören.
»Vielleicht ist es ein Sozialarbeiter oder wer weiß was. Das Ganze ist einfach zu irre. Weißt du, wir sind daran gewöhnt, dass Menschen Leute umbringen, die, nun ja, mit ihnen verwandt sind. Schön, sie sind nicht alle verwandt. Manchmal ist es ein Hausfreund oder der Liebhaber. Aber du weißt, was ich meine.«
»Sie lebten alle im selben Heim, aber nicht alle zur selben Zeit«, sagte Diane bedächtig. »Klingt fast, als ob es dort spukt. Das Problem ist, da lebt zurzeit ein Dutzend Jungs, und wer weiß, wie viele in den letzten drei Jahren noch entlassen wurden oder abgehauen sind. Jeder von ihnen könnte der Nächste sein.«
»Wir wissen doch bisher noch gar nicht, ob die Morde nicht noch weiter zurückreichen. Vielleicht hat er schon andere Jungs umgebracht, die früher da wohnten, und die Morde sind bisher nicht mit dieser Serie in Verbindung gebracht worden.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und ließen das Gewicht der neuen Erkenntnis auf sich wirken.
»Ich muss sofort Downtown anrufen«, sagte Diane. »Es muss auf der Stelle etwas geschehen, um die Jungs zu schützen.«
»Niemand wird dich ernst nehmen. Das ist alles zu weit hergeholt.«
Diane zuckte die Achseln. »Versuchen muss ich es trotzdem.«
Annie kam zur Tür herein, und die Frauen brachten sie auf den neusten Stand.
»Ich brauch einen Drink, mehr noch, ich werde mir tatsächlich einen genehmigen«, sagte Diane, als sie den Bericht beendet hatten.
»Bist du nicht Baptistin?«, fragte Annie Diane.
»Das lass mal schön meine Sorge sein, Mädchen.« Dianes Nichten befanden sich gerade auf einem Ausflug mit Übernachtung, wie sie erklärte, also könne man genauso gut zu ihr fahren und Margaritas mixen.
»Ich bin dabei«, sagte Annie.
»Ich auch«, fügte Katherine hinzu.
Diane verschwand, um ihren Anruf zu erledigen. Und Katherine wählte die Nummer von Mendrinos. Sie sprach ihm eine sachliche Nachricht über ihre Entdeckung aufs Band und nannte die genauen Daten sowie Namen und Telefonnummern von Sozialpädagogen und Sachbearbeitern, die Einzelheiten über die fraglichen Unterbringungen wissen konnten. Sie hinterließ auch Dianes Privatnummer, falls er sie noch persönlich sprechen wollte, fügte aber hinzu, dass es dafür eigentlich keinen Grund gab. Die Informationen sprachen ja für sich, sie konnte dem nichts weiter hinzufügen.
Ihr Teil an diesen Ermittlungen war getan. Sie würde weiterhin den Köder spielen, mit der Polizei im Hintergrund, die darauf wartete, dass der Mörder sich an sie heranmachte. Das schien immer unwahrscheinlicher. Sie hatte getan, wofür man sie abgestellt hatte, sie hatte eine brauchbare Verbindung zwischen allen drei Opfern aufgedeckt. Das verschaffte den Ermittlern eine Spur, mit der sie arbeiten konnten.
Aber sie selbst würde nicht zufrieden sein, bis Jonathans Mörder gefasst war. Sie war sicher, er würde sich wünschen, dass jemand dieses Monster aus dem Verkehr zog, bevor der nächste Junge tot aufgefunden wurde.
Annie öffnete die Tür von Dianes Apartment. Katherine konnte das Heulen und Knirschen des Mixers aus der Küche hören. »Klingt ganz, als wüsste sie, was sie tut.«
Katherine trat ein und sah sich neugierig um. Die Frauen, die sich im Büro täglich so nahe kamen, sahen sich in der Freizeit nie. Sie kannten Freunde und Familien der anderen nur von Fotos auf Schreibtischen oder aus flüchtigen Erzählungen. Sie fühlte sich plötzlich befangen.
Die Wohnung überraschte sie. Es hatte etwas mit der Haltung von Dianes langem schlaksigem Körper zu tun, den schlicht geschnittenen Sachen, die sie trug, ihrer selbständigen, handfesten Art. Dies aber war nicht die Klause einer Einzelgängerin. Couch und Sessel waren ausgeblichen, abgenutzt und gemütlich. Esstisch und Couchtisch waren alt und angeschlagen. Stapel von Büchern und Schreibpapier lagerten auf einem Büroschrank aus Plastik neben einem Kaffeebecher voller Buntstifte. Der runde hölzerne Esstisch auf der anderen Seite des Wohnzimmers war mit drei Sets gedeckt, bunte Plastikmatten mit Spitzenmuster. Accessoires, wie Katherine sie eher im Haushalt ihrer Mutter zu finden erwartet hätte. Ein Poster mit einer Katze, die Schmetterlinge jagt – Katherine hätte geschworen, dass Diane so was lächerlich fand –, klebte an einer Tür, hinter der sich das Schlafzimmer der Mädchen befinden musste.
Hier lebten Kinder. Jetzt, wo Katherine darüber nachdachte, war eigentlich klar, dass Diane sie nicht unter Gewächshausleuchten im Schrank großzog. Aber sie hatte geglaubt, Diane zu kennen, und die Frau, die sich diese Wohnung eingerichtet hatte, kannte sie nicht.
Ohne Frage war dies das Herz von Dianes Universum. Diane ging jeden Tag zur Arbeit und blickte dort in den Abgrund dessen, was Leute sich gegenseitig antaten, an dem Ort, den sie ihr Zuhause nannten. Und dann kam sie jeden Abend heim und schuf ein Zuhause für zwei kleine Mädchen, die ihre Mutter verloren hatten. Katherine empfand etwas, das gefährlich an Eifersucht erinnerte.
Diane kam aus der engen kleinen Küche, in den Händen drei Gläser voll gefrorenem Matsch mit Salzrand. Annie platzierte Papierservietten auf den Sets, und Diane stellte die Drinks darauf.
»Das brauche ich schon so lange«, sagte Katherine und nahm einen großen Schluck. Die Kälte schoss ihr sofort in die Stirn. »Autsch, Eiscremekopfweh.« Sie nahm einen zweiten, etwas kleineren Schluck. »Aber das ist es wert.«
»Ich hatte heute einen dieser Fälle«, sagte Annie, »wo das Kind nicht gegen den Erwachsenen aussagen will, der es missbraucht hat.«
Mitfühlendes Seufzen. »Welche Art Missbrauch?«, fragte Katherine.
»Was glaubt ihr denn? Sex.«
Mehr Seufzer. »Und?«, sagte Diane.
»Also, sie ist neun. Es war ihr Stiefvater. Wir haben Fotografien, die sie voneinander gemacht haben.«
»Du hast Fotos?«
»Jau, sie hat Fotos von ihm gemacht, nackt, und er von ihr. Wir haben allerdings keins von beiden zusammen.«
»Aber das sollte doch trotzdem reichen.«
»Wir werden sehen. Die Bettlaken sind auf dieselbe Art geknittert, ich meine, das beweist, dass die Fotos zur selben Zeit aufgenommen wurden. Aber sie sagt kein Wort. Sie schützt ihn.«
»Guter Gott.«
»Ich glaube, für solche ist es am schlimmsten«, bemerkte Diane. »Hey, sagt nichts Interessantes, ich geh nur mal schnell Nachschub holen.« Sie verschwand in der Küche, kehrte zurück, füllte alle Gläser auf und platzierte den Mixerkrug auf dem Tisch.
Katherine sah Fingerabdrücke, die um den Lichtschalter geschmiert waren, und nahm den Geruch des Zimmers wahr. Es roch nach Seife und Brot und Butter und einer Menge anderer Dinge, die sie nicht benennen konnte, die ihr aber vertraut waren. Ihr eigenes Apartment roch nur leer, da war sie sicher.
»Für welche ist es am schlimmsten?«, hakte Annie nach.
»Für die, denen es irgendwie gefallen hat. Wenn das schlechte Gewissen kommt – und das kommt früher oder später immer –, ist es am schlimmsten für die, die es mochten.«
»Wie kann es denn jemand mögen, vom eigenen Vater vergewaltigt zu werden?«
»Oder vom neuen Lebensgefährten der Mutter betatscht? Und was ist mit dem sechs Monate alten Mädchen, das vergewaltigt wurde, bis ihr Rektum aufriss?«, fragte Katherine.
»Ich sag doch nicht, dass es immer so ist, nicht mal oft. Du weißt, ich bin alles andere als eine Schönrednerin elterlichen Missbrauchs.« Sie blickte in ihr Glas und schwenkte die Flüssigkeit. »Aber ich glaube, wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Kinder auch sexuelle Wesen sind. Es ist nicht immer nur Gewalt und Schmerz im Spiel. Ihr Körper reagiert doch auf das, was mit ihnen gemacht wird. Sie wissen, es ist ›falsch‹, was immer das bedeutet, und sie wissen zugleich, ihr Körper mag es irgendwie, denn das tut der Körper. Das ist der Zweck dieser Körperteile. Solche Kinder leben in einer ganz besonderen Hölle.« Sie leerte ihr zweites Glas. »Wir wissen, wie schwer es für sie ist, laut auszusprechen, was mit ihnen gemacht wurde. Was hat was berührt und so weiter. Jetzt stellt euch mal vor, wie schwer es sein muss, dann zu sagen, es hat sich gut angefühlt. Und noch schwerer, selber damit klarzukommen. Und können sie das überhaupt? Haben sie danach jemals eine normale Liebesbeziehung?«
Katherines und Annies Blicke trafen sich kurz, beide sahen schnell woandershin.
»Immer spüren sie einen Stachel, wenn sexuelles Vergnügen aufkommen will, für den Rest ihres Lebens …« Diane sprach mit einer Gewissheit, die Katherine Angst machte. Sie hatte nie erlebt, dass Diane Behauptungen von sich gab, wenn sie nicht genau wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Es gab dieses Klischee, dass jeder, der in ihrer Sparte tätig war, als Kind missbraucht wurde und den Beruf dazu benutzte, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die drei Frauen hatten dieses Konzept alle für lächerlich erklärt. Aber keine von ihnen hatte je freiwillig von ihrer Kindheit erzählt.
Ein hartnäckiges Klingeln zerriss plötzlich die Luft. »Wer zur Hölle ist das?«, knurrte Diane und ging zur Sprechanlage neben der Wohnungstür. »Ja?«, sprach sie hinein und dann: »Hey, alter Junge, komm sofort hoch und gesell dich zu unserer Party. Du kennst ja den Weg.« Jetzt klang sie wieder kess und neckisch, ganz die alte Diane. Aber einen Moment zuvor hatte Katherine die Dunkelheit in ihren Augen gesehen.
Diane pflegte einen riesigen Kreis von Freunden und Bekannten. Sie hatte nie eine besondere Liebschaft erwähnt, aber sie erweckte deutlich den Eindruck, nicht gerade im Zölibat zu leben. Und jetzt war ein Mann auf dem Weg nach oben, der offenbar öfters vorbeikam.
Diane verschwand mit dem leeren Mixerkrug in der winzigen Küche, und gleich darauf hörte man wieder das Eis unter den Klingen knirschen. Dann klingelte es. Annie stand auf und öffnete, und in der Tür stand Mendrinos.
Diane übertönte das Mixersurren und rief aus der Küche: »Komm rein und setz dich.«
Die lässige Art, wie Mendrinos das Apartment betrat, einen vierten Stuhl vom Schreibtisch unter dem Fenster holte und sich an den Tisch setzte, zeigte deutlich, dass er nicht zum ersten Mal hier war. Das Mixergeräusch verstummte, und Diane erschien mit einem weiteren gefüllten Glas. Sie überreichte es Mendrinos, der ihr ein liebevolles Lächeln zuwarf und es dankbar entgegennahm. Er sah vollkommen entspannt aus. Katherine hatte nicht gewusst, dass er dazu überhaupt fähig war.
»Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte er zu Katherine. »Sehr gründliche Arbeit. Vielen Dank.«
Diane stand immer noch und wiegte sich zu unhörbarer Musik hin und her. »Hör mal, Annie, als Baptistin fühl ich mich verpflichtet, dir zu sagen, dass du genug getrunken hast. Komm, ich bring dich zur U-Bahn.« Ihre Worte klangen ein bisschen verschwommen.
»Tja, genau das wollte ich auch gerade sagen. Es ist definitiv Zeit für mich zu gehen. Ich seh dich Montag, Katherine. War schön, Sie zu sehen, Dan.«
Katherine verstand, dass Diane sich gern ihrer Gäste entledigen wollte, um mit Mendrinos allein zu sein. Sie erhob sich rasch und erklärte, sie müsse ebenfalls schleunigst nach Hause. Doch Diane wehrte das ab und sagte, sie wolle nur schnell Annie zur Bahn bringen und sei gleich zurück, und Katherine müsse unbedingt Dan Gesellschaft leisten, bis sie wiederkam. Das klang zwar nicht wirklich einleuchtend, aber andererseits war Diane offensichtlich angetrunken.
Sobald sie allein in der Wohnung waren, fragte Dan: »Was, meinen Sie, hat diese neuen Information zu bedeuten?«
Sie überlegte, was sie sagen sollte. »Ich bin eigentlich ganz froh, das Shawan schon weg war, bevor George Jackson in dem Heim als Hausvater anfing. Man kann ihn wohl nicht ganz ausschließen, aber immerhin ist er nicht gerade der Hauptverdächtige.«
Mendrinos schien auf mehr zu warten, also palaverte sie auf gut Glück weiter.
»Natürlich braucht es sich überhaupt nicht um einen Erwachsenen zu handeln. Jemand sollte überprüfen, ob es irgendwelche Insassen gibt, die die ganze Zeit über da wohnten. Von der Zeit, als Shawan abgetaucht ist, bis zu Jonathans Verschwinden.
Interessant ist doch, wenn der Mörder irgendwie mit dem Jugendheim in Verbindung steht, dass er zwei der Kids umgebracht hat, nachdem sie es längst verlassen hatten. Sie glauben doch nicht wirklich, dass es einer der Jungs war, oder?
Die einschlägige Literatur sagt über diese Art Mörder, dass sie höchst selten so jung anfangen. Normalerweise arbeiten sie sich von weniger schweren Verbrechen langsam hoch. Es gab jedoch vereinzelt schon Ausnahmen. Wenn Jack wirklich einer der Bewohner ist, müsste er höllisch stark, intelligent und erfinderisch sein.« Katherine leckte das letzte Salz von ihrem Glas, bevor sie vorsichtig hinzufügte: »Ich hoffe, Sie halten mich weiter auf dem Laufenden, was sich bei der Ermittlung so tut.«
Mendrinos sah sie überrascht an. »Warum sagen Sie das?«
»Wissen Sie, nachdem ich einmal hineingeraten bin, will ich gern mitkriegen, wie es ausgeht.«
»Natürlich werden Sie das. Sie sind Teil dieser Ermittlung. Das ist von Downtown auch so abgesegnet. In Anbetracht der ACS-Verbindungen dieses Falls brauchen wir Sie weiterhin.« Er sah sie an, als ob ihm erst jetzt etwas klar würde. »Wenn Sie jemanden benötigen, der für die Dauer der Ermittlung Ihre Fälle und Gerichtstermine übernimmt, bin ich sicher, dass wir das arrangieren können.«
»Oh, ja, das wäre gut. Und was passiert jetzt als Nächstes?«
»Was Sie vorgeschlagen haben. Sie übernehmen das Durchforsten der Akten vom Gruppenhaus Watson & Green, um herauszufinden, ob irgendjemand, Jugendlicher oder Angestellter, während der ganzen Zeitspanne da war, in der die drei Opfer dort lebten. Stöbern Sie jeden Jungen auf, der während dieser Zeit rausgeflogen ist, und prüfen Sie, ob noch andere vermisst werden. – Haben Sie schon Ihr Halsband mit dem Alarmknopf bekommen?«
Katherine lüpfte die Schnur unter ihrem Kragen, um zu demonstrieren, dass sie ausgerüstet war. Malone hatte ihr das kleine Gerät übergeben und erklärt, dass sie nur den Knopf drücken musste, wenn sie sich in Gefahr glaubte. Es kam ihr verrückt vor, so etwas zu tragen, aber Malone hatte darauf bestanden.
Sie wünschte, Diane würde sich beeilen. Der Umgang mit Mendrinos gestaltete sich zunehmend schwierig – jetzt, wo sie wusste, dass er mit Diane zusammen war.
Als Russo und Malone am Vorabend gegangen waren, hatte Mendrinos gefragt, ob er bleiben könne. Zuerst war sie insgeheim entgeistert gewesen. Mit einem Kollegen zu schlafen oder mit jemandem zu schlafen, den sie kaum kannte, das war jedes für sich schon eine ganz schlechte Idee, ganz zu schweigen von der Kombination, wenn beides zusammenfiel. Und ihr gefiel auch nicht, was Mendrinos' Vorschlag über seine Einschätzung ihrer Professionalität aussagte.
Es enttäuschte sie, festzustellen, dass Mendrinos glaubte, sie habe nach dem Vorfall mit Brief und Katze Angst vor dem Alleinsein. Und dass ihre Angst vor dem Alleinsein seine Chance sei, sich flachlegen zu lassen.
Doch sie überlegte es sich anders. Es war allerdings nicht Angst vor dem großen Unbekannten, was ihren Sinneswandel bewirkte. Es war die Aussicht auf eine lange Nacht mit den frisch geöffneten Wunden der Erinnerung an Seth. Damit konnte sie sich am nächsten Tag noch befassen. Die Wärme und Ablenkung eines anderen Menschen in ihrem Bett würde ihr den Aufschub erkaufen. Wenn das bedeutete, mit Mendrinos zu schlafen, so konnte sie damit leben.
Mendrinos hatte ihre Erlaubnis zu bleiben wortlos entgegengenommen. Aber als sie aufstand, um ihn ins Schlafzimmer zu führen, erklärte er ausgesucht beiläufig, dass er in ihrem Wohnzimmer zu schlafen gedachte. Sie sagte ihm, dass sie nicht mal eine Couch hatte. Er erwiderte, er brauche nur eine Decke.
Verlegen und erleichtert hatte sie nichts zu sagen gewusst. Es schien wie ein unbeholfener Versuch, sie zu bewachen.
Auch Seth hatte sie bewacht. In all diesen Nächten. Wenn ihr Vater sie in ihrer Dachkammer zurückließ, lauschte Seth, der schweigend in seinem Zimmer saß, bis die Schritte die Treppe hinunter verklangen. Dann, egal wie spät es war, klopfte es an ihrer Tür, und Seth kam herein. Er sprach über alles Mögliche, das Eichhörnchen mit einem Nest voller Jungen in der Eiche, die kleine Quelle, die er in den Wäldern gefunden hatte. Er würde sie am nächsten Tag hinführen, und dann könnte sie ihre Hand in das süße, kalte, sprudelnde Wasser tauchen.
Sie sahen sich nicht an. Sie ertrug es nicht, in seinen Augen zu sehen, wie sehr er das hasste, was ihr geschah. Wenn Seth auf ihrer Bettkante saß, war sie nicht allein mit dem schrecklichen Wissen. Und sie wusste, dass Seth sie liebte. Er wusste, dass sie auf ihre Zeit wartete, auf den richtigen Moment, und er wartete mit ihr. Leere nagte in ihrer Brust.
In dem Jahr, in dem Seth vierzehn wurde, kam ihr Vater in ihr Zimmer. Katherine und Seth saßen auf ihrem Bett und spielten Dame. Als ihr Vater nicht wegging, hatte Seth sich auf ihn gestürzt, tapfer, wild und dumm. Ihr Vater war ein großer Mann, der den Kampf leicht gewann, auch wenn am nächsten Morgen seine aufgeplatzte Lippe und sein blaues Auge von Seths Einsatz zeugten.
Trotz allem, was sie unweigerlich gehört haben musste, war Katherines Mutter auch in dieser Nacht nicht die Treppe zur Dachkammer hochgestiegen. Sie erwähnte den Vorfall am nächsten Tag nicht, und soweit Katherine wusste, fragte sie ihren Mann nicht, woher er seine Blessuren hatte.
Noch viele Nächte danach lag Katherine wach und fürchtete sich vor den Schritten auf der Treppe. Aber sie hörte sie nie wieder.
Nun saß sie schweigend an Dianes Esstisch Mendrinos gegenüber und kämpfte mit Tränen der Wut. Nur zu gern hätte sie ihn bezüglich seiner Absichten zur Rede gestellt, aber sie hütete ihre Zunge. Sie wollte ihre Rolle bei den Ermittlungen nicht riskieren.
Vielleicht hatte er sie gerade etwas gefragt, was sie nicht mal gehört hatte. So wie er sie ansah, erwartete er eine Antwort.
Als sie nichts sagte, versuchte er noch einmal, das Gespräch in Gang zu bringen. »Wissen Sie, ein Freund von mir befasst sich mit Cyberkriminalität an Kindern.«
»Kinderpornos?«
»Nein. Es ist Teil einer Ermittlung gegen zwielichtige Gestalten, die im Internet Kids aufreißen und zum Sex per Webcam verführen oder erpressen. Ein Fall war ein dreizehnjähriges Schulmädchen, die sich regelmäßig mit älteren Typen zum Cybersex traf. Ihre Eltern hatten anscheinend keine Ahnung. Es gibt immer noch Dinge, die mich schocken. Das war so etwas. Als ich dreizehn war, hab ich an meiner Briefmarkensammlung gefeilt.«
Das war eine Geschichte, die Katherine zu einer Erwiderung nötigte. »Das Mädchen, was hat sie sich davon versprochen? Schon klar, der Abschaum, der sich an Kinder heranmacht, gehört eingesperrt und der Schlüssel weggeworfen. Aber was ist mit den Kindern? Wonach suchen sie? Und was passiert später mit ihnen? Sah sie sich als Opfer? Ist es unsere Aufgabe, sie davon zu überzeugen, sich wie ein Opfer zu fühlen, wenn sie glaubt, die Initiative lag bei ihr?«
Ihr wurde bewusst, dass dies außerhalb des Büros ein gefährliches Gesprächsterrain war. Sie sprach diese Sprache jeden Tag und hatte sich daran gewöhnt. Sie lebte in einer Welt, wo noch die beiläufigste Frage in eine Diskussion über die denkbar perversesten Verhaltensweisen münden konnte. Solche Dinge wollte sie mit dem Mann, der ihr gegenübersaß, aber eigentlich nicht besprechen.
»Ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte sie.
»Wollen Sie nicht auf Diane warten und sich verabschieden?«
»Ich fürchte, sie und Annie haben sich von der nächsten Margaritareklame in Neonleuchtschrift ablenken lassen.«
»Da könnten Sie recht haben. In Ordnung, lassen Sie uns gehen. Ich bringe Sie zu Ihrem Auto. Diane nimmt immer ihren Schlüssel mit, wir können ihr eine Nachricht schreiben und die Tür einfach zuziehen.«
So gut kannte er also Dianes Gewohnheiten. Und schämte sich auch nicht, mit ihrer Vertrautheit hausieren zu gehen. So weit hätte er nicht gehen müssen, um Katherine loszuwerden. Das war schon grob. Aber er sollte nicht merken, dass sie sich ärgerte.
Vor der Haustür erklärte sie ihm, dass sie prima allein zurechtkam, aber er bestand darauf, sie zu ihrem Wagen zu begleiten. Drei Blocks weiter und einmal um die Ecke. »Also schön«, sagte sie, bemüht, diesen Abend endlich hinter sich zu bringen.
»Ich wollte Sie noch etwas fragen«, setzte er umständlich an. »Sie brauchen ja nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Wie lange, sagten Sie, leben Sie schon in Ihrem Apartment?«
»Vier Monate«, antwortete sie knapp.
»Und haben Sie vor, dort wohnen zu bleiben?«
Sie war drauf und dran, dieses Kreuzverhör abzubrechen, aber dann siegte die Neugier, worauf er eigentlich hinauswollte. Sie zuckte die Achseln. »Ich hab noch keine festen Pläne.«
»Warum haben Sie dann nicht ausgepackt?«
Um ein Haar hätte sie ihm unverblümt erklärt, dass ihn das gar nichts anging. Stattdessen sagte sie einfach die Wahrheit. »Ich hab ausgepackt. Meine Kleidung, meine Zahnbürste. Ein oder zwei andere Dinge. Aber im Grunde gab es nichts weiter, was ich brauchte, also sah ich keinen Sinn darin, noch mehr auszupacken. Inzwischen denke ich schon darüber nach, ob ich die Kisten einfach entsorge, ohne noch mal reinzugucken.«
Sie zog ihre Schlüssel aus der Tasche, als sie ihr Auto sah.
»Grüßen Sie Miss Bennett von mir.«
Sie nickte und stieg ein.
Er sah zu, wie sie vor und zurück manövrierte, um den Wagen aus der engen Parklücke zu steuern, und winkte, als sie davonfuhr, aber sie schaute gar nicht hin.