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Der Apartmentkomplex und die angrenzende Nachbarschaft waren durchsucht worden. Die Nachbarn waren befragt worden, die verstümmelte Katze und der Zettel in Plastik eingetütet und fortgeschafft.
Miss Bennett führte sich auf, als wären die Beamten und Techniker nur im Haus, um sie an ihrer Lieblingsstelle unterm Kinn zu kraulen. Sie rammte ihre Nase auffordernd in jedes erreichbare Bein ohne Rücksicht auf den Rang der Person, zu der es gehörte.
Wie die erste Nachricht, die Katherine erhalten hatte, bestand auch die zweite aus aufgeklebten Buchstaben von Zeitungen und Magazinen. (»Das hasse ich an Serienmördern«, knurrte einer der Ermittler, ein kleiner, dunkler, konzentriert blickender Mann. »Es ist immer und immer wieder dieselbe Masche.«) Die Katze, mager, orange getigert und von Katherine oder den Nachbarn nicht identifizierbar, war mit einem Draht stranguliert worden, ein Stock war ins Rektum gestoßen und Brust und Bauch aufgeschlitzt.
Der alte Mr. Donnelly war über den Verbleib der ersten Katze befragt worden, die Katherine bei ihrem Auto gefunden hatte. Er habe sie in eine Pappschachtel getan und diese fest verschlossen, sagte er aus, und der armen Jodi habe er eingeschärft, sie solle sie ja nicht öffnen. Für ihren Seelenfrieden wäre es besser, sich das nicht anzusehen.
Er habe später gehört, dass sie sie nach Norden ins Westchester County gebracht und im Garten ihrer Eltern begraben hatte, wo alle ihre verstorbenen Haustiere beerdigt waren. Er selbst habe nicht genauer hingesehen, als er unbedingt musste, er habe einen Spaten aus dem Geräteraum geholt und das Vieh in den Karton geschaufelt. Aber wenn er es recht bedachte, konnte da sehr wohl ein Draht oder etwas Ähnliches um den Hals gewesen sein. Es gäbe schmutzige kleine Halbstarke, die nichts Gutes im Sinn hätten, sagte er. Seine unerbetene, aber freizügig vorgetragene Meinung war, dass ›der Übeltäter‹ aus dem Süden der Bronx gekommen war. Es war bestimmt einer von denen gewesen, die neunzig Prozent der Verbrechen in Riverdale begingen. Da war er ganz sicher.
Die Nachricht war ebenfalls dieselbe wie zuvor. ›Ich habe es Ihretwegen getan.‹ Mit einem signifikanten Unterschied. Auf der unteren Hälfte des Blattes befand sich diesmal eine grobe Zeichnung, dicke schwarze, mit Kraft hingehauene Striche.
Jedes Mal, wenn Katherine sie ansah, liefen ihr Schauer wie Stromstöße das Rückgrat entlang. Sie verstand nichts von Kunst, aber wer immer das gemacht hatte, besaß Talent. So viel war deutlich. Die lebhaften Linien eines schwarzen Markers zeigten eine große Gestalt, die sich von hinten über eine kleinere Figur beugte und ihr etwas an die Kehle presste, das für Katherine wie ein Messer aussah. Es war die Darstellung eines Akts brutaler Vergewaltigung, und Katherine hielt es für unvorstellbar, dass irgendjemand bei diesem Anblick etwas anderes als tiefsten Widerwillen und Angst empfand. Sie war außerdem sicher, dass sie diese Zeichnung, oder jedenfalls eine sehr ähnliche, schon einmal gesehen hatte. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wann oder wo.
Wie verlangt, hatte Katherine den vollständigen Ablauf ihrer Aktivitäten an diesem Abend zur Befriedigung der Ermittler mehrmals wiederholt. Ihren kurzen Gang mit Miss Bennett. Ihr Gespräch mit einer Nachbarin, Mrs. Campbell, Brigits Erscheinen an ihrer Tür, dann der Abgang von Mutter und Tochter, dann ihr Anruf bei Mendrinos.
Detective Russo war ganz unzweifelhaft der Verantwortliche hier. Abgesehen von einigen groben Kanten in seiner Ausdrucksweise tat er der Höflichkeit genüge. Gelegentlich blitzte in seinen Augen eine unterschwellige Begeisterung auf und verschwand dann wieder hinter der Fassade des gelangweilten, mit allen Wassern gewaschenen Großstadtbullen. Russo genoss das Ganze, da war sie sicher.
Seine Partnerin, Detective Malone, sah aus wie ein Schulmädchen, aber ihr Auftreten war kompetent, und sie wirkte freundlich und sympathisch.
Russos Ton wurde zusehends rauer, je länger er Katherine befragte. Warum hatte sie die Polizei nicht gleich angerufen, als sie die erste Botschaft erhielt? Oder den Vorfall doch wenigstens Mendrinos gegenüber erwähnt? Russo zeigte sich in höchstem Maße verwundert darüber, dass Katherine offenbar völlig unbesorgt blieb, nachdem sie eine anonyme Botschaft in ihrem Briefkasten und kurz darauf eine tote Katze bei ihrem Auto gefunden hatte. Sie hielt ihre Antworten kurz und sachlich und tat, als merke sie nichts von den Implikationen in Russos Fragen.
Russo fragte Katherine, wem sie alles von ihrer Beteiligung an der Jack-Ermittlung erzählt hatte. Er ließ es klingen, als wüsste er bereits, dass sie mit einer Unmenge von Leuten darüber gesprochen hatte. Er fragte sie, wer einen Groll gegen sie hegte. Ob sie irgendwelche Feinde hatte. Sie konnte irgendwie nicht recht glauben, dass sie solche Dinge gefragt wurde. Nein, entgegnete sie, sie habe keine Feinde. Oder genauer gesagt, sie habe wohl einen – die Person, die ihr tote Katzen und Zettel schickte, war definitiv kein Freund –, aber sie habe keine Ahnung, wer das sein könnte.
Als Russo danach fragte, berichtete sie, sie lebe getrennt, die Scheidung sei im Gange, die letzten Papiere schon unterschrieben. Kein böses Blut, versicherte sie ihm. Russo beharrte darauf, dass es bei Scheidungen immer böses Blut gab. Bei dieser nicht, hielt sie ebenso beharrlich dagegen. Und dann erinnerte sie sich an den Ausdruck in Barrys Blick, als er ihr gestern Abend nachgesehen hatte.
Wer hat die Scheidung gewollt, fragte Russo. Sie zögerte mit der Antwort. Zögerte so lange, dass er sie fragte, ob es ein Problem gäbe.
»Kein Problem. Ich versuche nur, eine korrekte Antwort auf eine komplizierte Frage zu formulieren.«
Russos Blick sagte: Was ist daran so schwer, gute Frau?, aber er blieb still sitzen und wartete ab.
»Ich habe ihn verlassen«, sagte sie schließlich. »Aber er wollte nicht wirklich mit mir verheiratet sein. Das war ihm nur noch nicht klar.« Sie fühlte sich heiß und verschwitzt trotz der kalten Nacht und der ständig offen stehenden Haustür, durch die andauernd Leute herein- und wieder hinaustrampelten.
Sie sah Mendrinos nicht an. Es behagte ihr nicht recht, dass er ihre persönlichen Angelegenheiten mit anhörte. Aber sie mochte sich auch keine Blöße geben, indem sie ihn bat zu gehen.
Schließlich wurde es wieder ruhig. Die Uniformen waren verschwunden. Die Technikertruppe längst abgerückt. Nur die beiden Detectives sowie Mendrinos und Katherine waren noch um ihr kleines Kartentischchen versammelt. Alle hockten auf Umzugskartons, bis auf Russo, der den einzigen Stuhl mit Beschlag belegt hatte.
Müdigkeit stand allen ins Gesicht geschrieben. Katherine erkannte, dass Malone älter war, als sie auf den ersten Blick wirkte. Die Jeans, der Pferdeschwanz und die blonden Ponyfransen über den Augen verliehen ihr eine äußerliche Jugendlichkeit, aber im kalten Licht der nackten Glühbirne hatte sie dunkle Ringe um die Augen, und viele feine Fältchen strahlten von Mund- und Augenwinkeln ab.
»Wir wissen ja nicht, ob Ihre kleinen Präsente von Jack kommen«, eröffnete Russo nun die neue Gesprächsrunde.
»Vielleicht sollten wir noch einen Moment warten«, unterbrach Malone. Sie sah Katherine mit besorgter Miene an. Katherine verstand. Sie hatte ihr papierweißes, verkrampftes Gesicht vorhin auf einem Gang zur Toilette im Spiegel gesehen.
»Kann ich uns einen Kaffee machen?«, fragte Malone. »Ich denke, wir könnten alle einen gebrauchen.«
Katherine erklärte, sie hätte keinen Kaffee. Nicht mal eine Kaffeekanne. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen hielt Detective Russo das für hochgradig schräg. Die beiden Detectives tauschten einen beredten Blick. Lass sie, dachte Katherine.
»Die Sache ist die«, fuhr Russo fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Sagen wir, der Kerl, der Ihnen Nachrichten und tote Katzen hinterlegt, ist unser Jack.«
»Weil er Katzen aufschlitzt und sie mit Stöcken vergewaltigt?«
Russo verpasste ihr einen Blick, der klarstellte, dass er sprach und sie zuhörte. »Deshalb auch. Und wegen anderem. Wir haben da ein paar Dinge vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. Soweit wir wissen, weiß davon außerhalb der Ermittlungen kein Mensch. Abgesehen von Jack.« Er sah sie wieder an, und diesmal signalisierte seine Miene eine Sprecherlaubnis.
»Okay. Ich hab's kapiert. Es ist ein Geheimnis. Ich verspreche, es nicht weiterzuerzählen.« Sie ließ ihre Irritation über diesen Mann in ihrem Ton mitschwingen.
»Die Kids wurden aufgeschlitzt, aber daran sind sie nicht gestorben. Sie wurden vergewaltigt und dann stranguliert.«
»Und dasselbe wurde den Katzen angetan, die man mir zukommen ließ.«
Russo schob sich einen Zahnstocher in den Mundwinkel und quetschte die Wörter daran vorbei. »Sieht ganz so aus, was? Also, ist das jetzt bloß 'n wilder Zufall? Oder irgendein Witzbold, der entweder den Mörder kennt oder über die Ermittlungen Bescheid weiß und Sie einfach gern zu Tode erschrecken will? Oder wir nehmen an, es ist Jack, und er spielt mit Ihnen. Wenn das so ist, haben Sie uns bisher nichts erzählt, das uns auch nur zu einer Ahnung verhilft, warum. Bis auf diesen einen Punkt. Sie hatten eine persönliche Beziehung zu einem der Opfer. Dann wurden Sie zu der Ermittlung hinzugezogen, und jetzt werden Sie zu Hause mit Drohzetteln und toten Viechern traktiert. Alles in allem sind Sie bisher die heißeste Spur, die wir haben.«
»Zwei der Opfer lebten im Gruppenhaus Watson & Green.«
»Das auch«, räumte er ein. Er machte eine Pause, zweifellos der dramatischen Wirkung wegen.
Verschwende deine Schauspielertricks nicht auf mich, dachte sie ungeduldig. Komm einfach zur Sache.
»Sie müssen einige Entscheidungen treffen. Ich werde jetzt ganz ehrlich mit Ihnen sein. Wenn Sie meine Frau wären, würde ich sagen, verp… vergessen Sie die Ermittlung. Verschwinden Sie aus dieser Wohnung, verlassen Sie für eine Weile die Stadt. Besuchen Sie Ihre Mutter in – was sagten Sie noch, wo Sie herkommen?«
Mächtig clever, dachte Katherine. »Ich hab es nicht erwähnt.«
Vielleicht war das Ganze nur ein besonders aufwändiger Scherz. Und Mendrinos und Malone waren daran beteiligt. Oder vielleicht war sie in ein krankes Psychologie-Rollenspiel hineingestolpert. Das alles hatte nichts mit ihr zu tun.
»Das ist eine Möglichkeit. Eine andere Möglichkeit ist, Sie leben Ihr Leben weiter, so wie Sie es gewöhnt sind, nur dass wir für eine Weile auf Sie aufpassen. Und zwar sichtbar, in Uniform. Das hat zwei Vorteile: Sie werden beschützt, und Jack, wer immer er ist, kriegt Angst. Es gibt aber noch eine Möglichkeit.« Er legte wieder eine Pause ein, und diesmal entschloss sie sich, den dramatischen Effekt zu ruinieren.
»Die nehm ich.«
Russo und Mendrinos waren sichtlich überrascht. Malone schaute drein, als wollte sie rufen: »Ich hab's euch doch gesagt.«
»Hey, lassen Sie mich ausreden. Wir überwachen Sie, aber auf die unauffällige Tour. Wir hoffen, er denkt, wir haben Sie allein gelassen, so dass er sich sicher genug fühlt, noch so einen Stunt zu versuchen. Dann greifen wir ihn uns. Denn ob es Jack ist oder nicht, Sie haben einen Psycho am Hals.«
»Ist er wirklich blöd genug, um nach dem Zirkus, der hier heute Nacht veranstaltet wurde, noch mal herzukommen?«
»Gute Frage. Vielleicht nicht. Aber alles ist möglich. Malone hier wird Ihnen vielleicht erzählen, wie versessen der Typ darauf ist, geschnappt zu werden. Ich glaub das nicht. Ich glaube, er will uns bloß ins Hirn kacken. Wie auch immer, ihm geht einer ab, wenn er Risiken eingeht.«
Sie nahm an, seine Sprechweise sollte ihr klarmachen, was für ein harter Kerl er war, und im Umkehrschluss, dass sie nicht hart genug war.
»Er war diese Woche zweimal hier. Er kann wohl nicht von Ihnen lassen. Manche Typen bringen Blumen, dieser bringt tote Katzen.«
»Sie Glückliche«, sagte Malone.
Katherine lehnte sich zurück und zuckte die Achseln. »Okay.«
»Sie wissen, worauf Sie sich da einlassen?«, fragte Russo scharf.
»Sie wollen, dass ich hier herumhänge, falls der Kerl mir noch was bringen möchte. Dann haben Sie eine Chance, ihn zu erwischen. Ja, ich glaube, das hab ich so weit verstanden.«
»Wir geben Ihnen ein Halsband mit einem Panikknopf«, sagte Russo. »Ich muss sagen, Sie haben wirklich Eier, Lady. Ein ganzer Kerl.«
»Wie kommt es, dass du mir nie so etwas sagst?«, fragte Malone. Sie wandte sich Katherine zu. »Dabei bin ich es, die auf seinen Arsch aufpasst.«
Malone und Russo verließen McDonalds Apartment und schlenderten durch das Vorgärtchen zum hölzernen Tor in der Hecke.
»Nette Gegend zum Wohnen«, bemerkte Malone.
»Schick«, sagte Russo. »Wenn man auf so was steht. Hör mal, was hältst du von ihr?«
»Was hältst du denn von ihr?«
»Sie hat 'ne Meise.«
»Komm schon.«
»Okay. Sie hat ne Meise, und Mendrinos fickt sie.«
Malone überlegte, ob er damit vielleicht recht hatte. Mendrinos war geblieben, als die beiden Detectives aufbrachen. Und es war nicht alltäglich, dass ein Staatsanwalt auftauchte, um das Opfer eines Belästigungsdelikts zu beruhigen. Aber sie gönnte Russo nicht die Genugtuung.
»Ich sag nur«, bemerkte Russo, »es stimmt was nicht mit einer Frau, deren Apartment so aussieht.«
»Sie ist gerade erst eingezogen.«
»Sie sagt, sie ist vor vier Monaten eingezogen. Alles, was sie hat, ist ein Klapptisch und ein Gartenstuhl und eine Wohnung voller Kisten. Die meisten noch zugeklebt.«
»Okay, sie wird also keinen Schöner-Wohnen-Wettbewerb gewinnen. Was kümmert dich das?«
»Es kümmert mich, weil sie der rote Faden in einem unserer Fälle ist. Ich muss also verstehen, wie sie tickt.«
»Du wirst sie doch nicht verdächtigen?«
»Nee, Frauen sind keine Serienmörder.«
»Das stimmt nicht.«
»Das stimmt wohl, mit ein paar sehr seltenen Ausnahmen, und diese Lady ist keine davon.«
Er versuchte sie in die Ecke zu drängen, wollte, dass sie zugab, McDonald könnte eine Serienmörderin sein, bevor er ihre Einwände ernst nahm.
Sie gingen den Rest des Weges zum Auto in Schweigen. Russo öffnete die Fahrertür. »Was glaubst du, was sieht er in ihr?«, fragte er unvermittelt.
Darauf würde sie sich nicht einlassen. »Keine Ahnung. Es ist mir auch egal. Das ist deren Sache.« Dann fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht. Ich glaube, du ziehst vorschnelle Schlüsse. Sie ist gar nicht so übel. Sie kommt mir nur einsam vor.«
Russo stieg ein und warf den Wagen an. Malone ließ sich neben ihn fallen. »Weißt du, ein Weib muss ja nicht hinreißend schön sein. Meine Rosemarie, die Gute, ist vielleicht keine Schönheitskönigin. Aber sie sieht aus, wie ein Kerl sich sein Mädel wünscht.«
»Dieses Gespräch geht echt über mein Fassungsvermögen«, sagte Malone. »Aber bevor wir das Thema wechseln, sag mir noch eins: Seh ich aus, wie ein Kerl sich eine Frau wünscht?«
Er hätte die Klappe halten sollen. Er konnte ihr nicht sagen, dass sie gut aussah, denn sie war sein Partner. Er konnte ihr auch nicht sagen, dass sie nicht gut aussah, denn sie war sein Partner. Vielleicht zog sie ihn bloß auf. Er riskierte einen schnellen Seitenblick. Sie lächelte nicht.
»Ach, komm schon. Das ist doch nicht dasselbe. Du bist ein Cop, das ist schon mal das eine, und zweitens bist du jünger. Die Typen in deinem Alter haben einen ganz anderen Geschmack als Kerle wie ich. Was weiß ich schon davon, was denen gefallt?«
Malone brach in haltloses Gelächter aus. »Du müsstest dich mal hören! Typen in meinem Alter haben einen anderen Geschmack!«
»Lass stecken. Dieses Gegacker steht dir nicht«, sagte Russo würdevoll und lenkte den Wagen auf die Straße. »Aber eins sag ich dir. Ich werd mir den Exmann dieser Lady mal genauer ansehen.«