KAPITEL 3

Der Country Club von Lovett lag am Rande des 18-Loch-Golfplatzes. Ulmen säumten die Zufahrt vom Eingangstor bis zum Clubhaus. Besucher mussten eine Brücke überqueren, um zum Eingang zu gelangen. Unter der Brücke floss ein Bach und ergoss sich in einen Teich voller Koi-Karpfen, deren rotweiße Leiber sich sanft in der schwachen Strömung wiegten.

Um halb neun Uhr abends fuhr Daisy in eine Parklücke neben einem Mercedes. Es war das erste Mal seit Stevens Tod, dass sie allein ausging, und es war ein seltsames Gefühl. So als hätte sie etwas zu Hause vergessen; genau die Art von Panik, die sie stets überkam, wenn sie vor einer Reise zum Einchecken auf dem Flughafen in der Schlange stand und fürchtete, die Tickets auf dem Esstisch liegen gelassen zu haben, obwohl sie wusste, dass sie in ihrer Tasche steckten. Sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis diese Panik verebbte. Bis sie sich daran gewöhnt hatte, allein unter Menschen zu gehen.

Und sich mit Männern zu verabreden. Ausgeschlossen. Sie glaubte nicht, dass sie je wieder dazu fähig sein würde.

Daisy trat durch die zweiflügelige Glastür und sah ihr leicht verschwommenes Spiegelbild in einem Messinggeländer, als sie am Speisesaal vorbei und einen langen Flur hinunter zum Festsaal ging. Sie trug ein rotes ärmelloses Cocktailkleid, das sie sich von Lily ausgeliehen hatte. Daisy war ein paar Zentimeter größer als ihre einen Meter sechsundfünfzig große Schwester und besaß etwas vollere Brüste. Rot war vielleicht nicht unbedingt eine angemessene Farbe für einen Hochzeitsempfang, doch es war das einzige von Lilys Kleidern, das nicht zu kurz war oder über der Brust spannte.

Seidenbezogene Knöpfe zierten es vom Saum bis zur Achsel, und die kleine rote Handtasche ihrer Mutter hing an einer Goldkette über ihrer Schulter.

Sie stellte das Geschenk, das sie vorher noch besorgt hatte, auf einem Tisch neben der Tür ab und trat zögernd in den Saal. Die Hochzeitsgesellschaft stand traditionell aufgereiht vor einer blaugoldenen Girlande, während ein Fotograf Aufnahmen mit seiner Digitalkamera machte.

Etwa zweihundert Gäste stießen mit ihren Sektflöten auf das glückliche Paar an. Alles war in Blau und Gold dekoriert, und auf den weiß eingedeckten Tischen flackerten verschiedenfarbige Kerzen. Links von Daisy luden heiße Platten mit Grillhähnchen, Roastbeef, Gemüse und Chili zum Schlemmen ein. Die meisten Gäste hatten bereits Platz genommen, nur einige wenige schlenderten umher.

Der Fotograf benutzte keinen Schirm, um das einzigartige Licht im Saal einzufangen, was Daisy sehr schade fand. Wäre sie mit den Hochzeitsaufnahmen beauftragt gewesen, hätte sie eine ganze Palette Kameras und Objektive eingepackt. In diesem Saal hätte sie einen 1600er Farbfilm, Blitzlicht und Schirm verwendet, um für einen ansprechenden Hintergrund zu sorgen, aber jeder Fotograf hatte seine eigene Arbeitsweise. Und seine Aufnahmen waren bestimmt auch nicht schlecht.

»… auf Jimmy und Shay Calhoun«, rief jemand. Daisy nahm eine Sektflöte und wandte ihre Aufmerksamkeit der Hochzeitsgesellschaft zu. Sie ließ den Blick über die Reihen schweifen und hob das Glas an die Lippen, sorgsam darauf bedacht, ihren Lippenstift nicht zu verwischen. Lächelnd betrachtete sie ihre ehemalige Schulfreundin, die in weite Gewänder aus leuchtend blauem Tüll und mit goldener Seide gehüllt war und etwa die Umrisse eines Wals besaß. Nicht fett. Sondern hochschwanger. Sie sah müde aus, aber niedlich wie immer mit ihren Ponyfransen und der bauschigen Frisur.

Shay sah wunderschön aus mit ihrer üppigen Lockenpracht, die ihr bis auf die Schultern reichte. Ihr zarter Schleier schwebte wie eine Wolke um sie. Jimmy Calhoun war attraktiver als damals, als Daisy noch in Lovett lebte. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass er einen eleganten Smoking trug. Sie war nicht sicher, aber sein rotes Haar schien einige Nuancen dunkler zu sein, und seine Sommersprossen waren leicht verblichen.

»Entschuldigen Sie, Madam«, sagte eine Stimme direkt hinter ihr, die sie sofort wieder erkannte. Eilig trat sie zur Seite und warf einen Blick über die Schulter, vorbei an Jack Parrishs perfekt geschnittenem Mund und in seine wunderschönen Augen.

Im Vorbeigehen begegneten sich ihre Blicke, und der Ärmel seines anthrazitfarbenen Blazers streifte ihren bloßen Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er vor ihr, und etwas Heißes, Lebhaftes blitzte in seinen Augen auf. Doch es war so schnell wieder verschwunden, wie es aufgeflackert war. Und Daisy war nicht sicher, ob vielleicht nur die beiden Kronleuchter über ihr oder das flackernde Kerzenlicht schuld an der Sinnestäuschung waren. Er ging an ihr vorbei, und ihr Blick heftete sich auf die breiten Schultern und seinen Hinterkopf, als er sich einen Weg durch die Menge zum Brautpaar bahnte. Sein dunkles Haar stieß an den Hemdkragen und sah aus, als hätte er gerade den Hut abgenommen, ihn auf den Beifahrersitz seines Wagens geworfen und sich mit den Fingern durchs Haar gestrichen. In seinem Anzug wirkte er wie geradewegs einem Modemagazin entstiegen. Und wie immer bewegte er sich lässig und entspannt, als hätte er keinerlei Eile.

Ein leises Flattern machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar – nicht wegen seines Aussehens, sondern vielmehr wegen der Bedeutung, die er für sie und ihren Sohn besaß.

»Daisy Lee Brooks!«, rief Sylvia. Daisy wandte sich um. »Komm sofort her.«

Sylvias Stimme war schon immer zu laut für ihre Körpergröße gewesen, auch wenn es für eine Cheerleaderin durchaus vorteilhaft war.

Lachend durchquerte Daisy den Saal und trat neben Jack, der mit dem Bräutigam sprach. Sie umarmte ihre Freundin und Mr. und Mrs. Brewton, ehe Sylvia ihr Chris, ihren Mann, vorstellte. »An Jimmy Calhoun erinnerst du dich sicher noch«, meinte sie.

»Hallo, Daisy.« Jimmy grinste. Der silberne Zahn war durch eine Porzellankrone ersetzt worden. »Du siehst toll aus.«

»Danke.« Sie warf Jack einen verstohlenen Blick zu, der tat, als wäre sie nicht vorhanden. Sie musterte seine Schultern, das blaue Hemd und die Aufschläge seines Jacketts. Er trug keine Krawatte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bräutigam. »Du selbst siehst auch toll aus, Jimmy. Ich kann es nicht fassen, dass du die kleine Shay Brewton geheiratet hast. Ich weiß noch, wie Sylvia und ich ihr das Radfahren beibringen wollten. Sie ist gegen einen Baum gefahren.«

Shay lachte. »Ich wette, du hast gedacht, ich säße längst im Knast«, meinte Jimmy.

In der siebten Klasse hatten Jimmy und seine Brüder sich in den Monte Carlo ihres Daddys gequetscht, ihre nackten Hintern an die Scheiben gepresst und waren um die Schule gekurvt. In der zehnten hatte Jimmy Bombenalarm gegeben, weil er ein paar Stunden früher Schulschluss haben wollte. Er wurde erwischt, weil er das Münztelefon vor dem Büro des Direktors dafür benutzt hatte. »So etwas wäre mir nicht mal im Traum eingefallen.«

Sylvia lachte, denn sie wusste es besser. Daisy entspannte sich ein wenig, und das Flattern in ihrem Magen ließ allmählich nach. Hier war weder der Ort noch der richtige Zeitpunkt, um Jack über Nathan aufzuklären. Sie brauchte jetzt nicht daran zu denken, sondern konnte sich entspannen. Sich mit alten Freunden amüsieren. Es war lange her, dass sie das getan hatte.

»Jack, weißt du noch, wie Steven und ich verhaftet wurden, weil wir draußen auf dem alten Highway Rennen gefahren sind?«, fragte Jimmy.

»Klar.« Er zog seine Manschette ein Stück zurück und warf einen Blick auf die Uhr.

»Warst du an dem Abend auch dabei, Daisy?«

»Nein.« Wieder warf sie dem Mann neben ihr einen flüchtigen Seitenblick zu. »Ich konnte es nicht leiden, wenn Jack und Steven Rennen gefahren sind. Ich hatte immer Angst, dass jemand verletzt wird.«

»Ich hatte immer alles unter Kontrolle.« Jack ließ die Hand sinken, und seine Finger streiften ihr Kleid, während sich sein Blick in sie bohrte. »Bei mir war immer alles sicher«, meinte er mit ausdrucksloser Miene.

Nein, in seiner Nähe konnte man sich selten in Sicherheit wiegen.

»Tut mir wirklich Leid … das mit Steven«, meinte Jimmy, worauf sie ihn wieder ansah. »Er war ein prima Kerl.«

Daisy wusste nie, was sie darauf erwidern sollte, deshalb hob sie schweigend das Glas an die Lippen.

»Shay hat gesagt, er sei an einem Gehirntumor gestorben. «

»Ja.« Die Krankheit hatte einen Namen: Glioblastoma. Und sie war grauenhaft und endet ausnahmslos tödlich.

»Ich hatte vor, deine Mutter zu besuchen und sie zu fragen, wie es dir geht«, erklärte Sylvia.

»Mir geht’s gut«, gab sie wahrheitsgemäß zurück. Es ging ihr tatsächlich gut. »Lieber Himmel, wann ist dein Baby fällig?«, fragte sie Sylvia, als Versuch, das Thema zu wechseln.

»Nächsten Monat.« Sie strich über ihren ausladenden Bauch. »Und ich kann es kaum noch erwarten. Hast du Kinder?«

»Ja.« Sie war sich Jacks Nähe überdeutlich bewusst, seines Jackenärmels, der so dicht an ihrem Arm war, dass sie ihn bei der geringsten Bewegung auf ihrer bloßen Haut spüren würde. »Einen Sohn, Nathan«, sagte sie und versäumte mit Absicht, sein Alter anzugeben. »Er ist im Moment in Seattle bei Stevens Schwester Junie und ihrem Mann Oliver.« Sie blickte zu Jack auf, dessen Miene nicht mehr ausdruckslos war. Stattdessen blitzte Überraschung in seinen grünen Augen auf, und er zog eine Braue hoch. »Du erinnerst dich doch an Junie, oder?«

»Natürlich«, sagte er und wandte sich ab.

»Ja, ich erinnere mich an sie«, ergriff Sylvia das Wort. »Sie war bedeutend älter als wir. Wenn ich mich recht entsinne, waren Stevens Eltern auch schon ziemlich alt.«

Stevens Eltern waren Mitte Vierzig gewesen, als Steven sich zur Überraschung aller angekündigt hatte. Bei seinem Abschluss waren die beiden dreiundsechzig gewesen. Mittlerweile war seine Mutter tot, und sein Vater lebte in einer Seniorenresidenz in Arizona.

»Shay und ich fangen gleich heute Nacht mit der Arbeit an einem Baby an.« Jimmy lachte. »Mit dem Kinderkriegen sollte man nicht zu lange warten.«

Jack griff in seine Jacke und zog eine Zigarre aus der Brusttasche seines Oberhemds. »Glückwunsch«, erklärte er und reichte sie Jimmy.

Jimmy zog die Zigarre durch seine Finger. »Meine Lieblingssorte. Danke.«

»Krieg ich keine?«, beschwerte Shay sich lächelnd.

»Ich wusste gar nicht, dass du Zigarre rauchst«, meinte Jack, griff nach ihrer Hand und hob sie an die Lippen. »Ich gratuliere, Shay. Jimmy kann sich glücklich schätzen.« Er küsste ihre Fingerknöchel. »Wenn er dich schlecht behandelt, lass es mich wissen«, flüsterte er so laut, dass alle Umstehenden ihn hören konnten.

Shay lächelte und berührte mit der freien Hand ihre Locken. »Würdest du ihm meinetwegen den Hintern versohlen? «

»Für dich jederzeit.« Er ließ ihre Hand los und verabschiedete sich.

Daisys Blick hing an seinen breiten Schultern, als er auf die Bar in der Saalecke zustrebte.

»Mit seinem Charme konnte er schon immer jedes Mädchen um den Finger wickeln«, seufzte Sylvia. »Schon in der fünften Klasse.«

Die anderen begannen, über Football zu diskutieren, und Daisy beugte sich näher zu Sylvia.

»Was war denn in der fünften Klasse mit dir und Jack?«, fragte sie.

Ein versonnenes Lächeln trat auf Sylvias Lippen, ehe sie sich beide umdrehten und Jack beobachteten, der sich an der Bar ein Bier bestellte.

»Sag schon«, drängte Daisy.

»Er hat mich überredet, ihm meinen Hintern zu zeigen.«

In der fünften Klasse? In der fünften Klasse hatten sie und Jack und Steven Seifenkistenrennen gefahren statt Doktor zu spielen. »Wie bitte?«

»Er hat gesagt, wenn ich ihm meinen zeige, zeigt er mir seinen.«

»Mehr war nicht nötig?«

»Ich habe keine Brüder und er keine Schwestern. Wir waren neugierig und haben uns gegenseitig unseren Hintern gezeigt. Es war nichts dabei. Er war sehr lieb.«

Sie hatte nicht gewusst, dass er, während er sie mit Football-Geschwafel nervte, durch die Gegend lief und die Hinterteile anderer Mädchen bewunderte. Sie fragte sich, was es sonst noch gab, wovon sie nichts wusste.

»Erzähl mir nicht, dass du all die Jahre mit Jack Parrish befreundet warst und ihm nie deinen Arsch gezeigt hast.«

»Zumindest nicht in der fünften Klasse.«

»Schätzchen, früher oder später hat jedes Mädchen Jack ihren Hintern gezeigt.« Sie strich mit einer Hand über ihren runden Bauch. »Es war nur eine Frage der Zeit.«

Daisy war siebzehn gewesen und hatte praktisch darum betteln müssen, dass Jack ihren Po betrachtete. »Hör auf damit, Daisy. Ich lass mich nicht mit Jungfrauen ein«, hatte er gesagt, wenn sie sich recht erinnerte. Am Ende hatte er es doch getan, und daraus hatte sich eine heftige Affäre entwickelt, die sie vor allen anderen geheim gehalten hatten. Auch vor Steven. Vor ihm ganz besonders. Es war verrückt und aufregend und intensiv gewesen. Eine Achterbahnfahrt aus Liebe, Eifersucht und Sex. Und die Fahrt nahm ein böses Ende.

Lang vergessene Erinnerungen brachen über Daisy herein, als wäre plötzlich eine Tür zu ihrem Unterbewusstsein geöffnet worden, eine konfuse Mischung aus Erinnerungen und verwirrenden Gefühlen, als wäre alles zusammen in eine Schachtel gestopft und nur flüchtig verschlossen worden. Als hätte all das die ganzen Jahre nur darauf gewartet, dass jemand den Deckel öffnete.

Sie dachte an ihre eigene Hochzeit – sie und Steven auf dem Standesamt, ihre Mutter und seine Eltern daneben. Steven drückte ihre Hand, damit das Zittern aufhörte. Sie hatte Steven Monroe schon jahrelang geliebt, bevor sie ihn heiratete. Vielleicht nicht auf diese heiße, lodernde Art und Weise. Vielleicht sehnte sie sich nicht nach ihm wie nach einer Droge, doch diese Art von Liebe war auch nicht von Dauer. Sie brannte aus. Die Liebe, die sie für Steven verspürte, war stets warm und vertraut gewesen, wie ein Heimkommen, wenn man durchgefroren und müde war und sich darauf freute, sich vor dem Kamin zusammenzurollen. Diese Art von Liebe war von Dauer, und sie würde noch lange nach Stevens Tod weiterexistieren.

Sie erinnerte sich, wie sie mit Steven im Auto saß, auf dem Weg zu Jack, um ihn über ihre Heirat zu informieren. Sie war schwanger, und ihr war übel. Beim Gedanken daran, was ihnen bevorstand, schnürte sich ihre Brust zusammen. Noch bevor sie in die Straße zu Jacks Haus einbogen, fing sie an zu weinen. Wieder hielt Steven ihre Hand.

Sie und Steven hatten eine Menge durchgemacht, und alles, was sie ertragen mussten, schweißte sie noch enger zusammen. Die ersten Jahre ihrer Ehe, als er noch studierte, waren finanziell schwierig gewesen. Als Nathan vier Jahre alt wurde, fand Steven eine gute Stelle, und sie beschlossen, noch ein Kind zu bekommen. Doch es stellte sich heraus, dass Stevens Spermienzahl zu gering war. Sie versuchten alles Mögliche, aber nichts funktionierte. Nach fünf Jahren gaben sie auf und waren glücklich und zufrieden mit ihrem Leben.

Plötzlich wurde es dunkel im Saal, und Daisy wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Ein Scheinwerfer richtete sich auf die Mitte der Tanzfläche, Jed and The Rippers griffen nach ihren Instrumenten, und Jimmy und Shay gaben ihren ersten Tanz als Mann und Frau zum Besten.

Als Daisy beschlossen hatte, nach Hause zu fahren und Jack von Nathan zu erzählen, war sie nicht auf all diese Erinnerungen gefasst gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie existierten, weggesperrt waren und auf sie warteten.

Daisy entfernte sich von der Tanzfläche und stellte ihr leeres Glas auf einem Tisch ab, ehe sie sich auf den Weg zur Damentoilette am anderen Ende des Korridors machte. Während sie sich die Hände wusch, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war nicht mehr das verängstigte Mädchen mit dem gebrochenen Herzen. Sie war entschieden härter im Nehmen als damals. Zwar war sie nicht hier, um die Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, doch sie würde sich auch nicht vor ihnen verstecken. Sie war hier, um Jack über Nathan ins Licht zu setzen. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr Leid tat, und konnte nur hoffen, dass er Verständnis für sie aufbrachte. Aber obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass er sie nicht verstehen und ihr das Leben schwer machen würde, musste sie doch tun, was in ihren Augen das Richtige war. Sie durfte es nicht länger hinauszögern. Durfte sich nicht mehr verstecken.

Sie zog sich die Lippen nach und steckte den Lippenstift wieder in ihre Handtasche. Sollte Jack sich doch von seiner übelsten Seite zeigen. Möglicherweise hatte sie es sogar ein klein wenig verdient, und sie würde es zweifellos überleben. Sie hatte eines der schlimmsten Dinge überstanden, die das Leben einem Menschen zufügen konnte, und nichts, was Jack tat, konnte jemals so schlimm sein wie das, was sie durchgemacht hatte.

Daisy ging an die Bar und bestellte sich ein Glas Wein, ehe sie in den Saal zurückkehrte.

Jack stand in dem langen Flur gegen die Wand gelehnt, das Handy in der einen Hand, die andere in der Hosentasche vergraben. Er sah auf, als sie auf ihn zukam.

»Das wäre prima«, sagte er. »Wir sehen uns dann am Montagmorgen.«

Ihr erster Impuls war, an ihm vorbeizugehen, doch dann besann sie sich eines Besseren und blieb stehen. »Hallo, Jack.«

Er klappte das Handy zu und schob es in seine Jackentasche. »Was willst du, Daisy?«

»Nichts. Es war nur ein freundschaftlicher Gruß.«

»Uns verbindet nichts Freundschaftliches.« Er zog die Hand aus der Tasche und richtete sich auf. »Ich dachte, das hätte ich dir gestern Abend klar zu verstehen gegeben.«

»Oh ja.« Sie trank einen Schluck Wein. »Wie geht es Billy? « Ihre einzige Erinnerung an Billy bestand aus einem Paar blauer Augen und einem dichten Schopf mittelblonder Haare. Davon abgesehen wusste sie nicht viel von ihm.

Er blickte über ihren Kopf hinweg. »Billy geht’s gut.«

Sie wartete darauf, dass er weitersprach. Doch er tat es nicht. »Ist er verheiratet? Hat er Kinder?«

»Ja.«

»Wo ist Gina?« Er sah sie an, und ihr fiel auf, dass seine Augen eher grau als grün aussahen. Aber möglicherweise lag es an der Farbe des Anzugs.

»Vermutlich bei Slim Clem.«

»Sie ist nicht hier?«

»Ich sehe sie nirgends.«

Sie trank noch einen Schluck Wein. Sie würde freundlich bleiben, und wenn es sie umbrachte. Oder ihn. »Sie ist nicht mit dir hergekommen?«

»Warum sollte sie?«

»Ist sie nicht deine Freundin?«

»Wie kommst du denn darauf?«

Sie wussten beide, wieso sie auf diesen Gedanken gekommen war. »Oh, vielleicht, weil sie gestern dein Hemd anhatte und sonst nichts.«

»Du irrst dich. Sie hatte einen schwarzen String-Tanga darunter.« Er zog einen Mundwinkel hoch, provozierte sie mit Absicht – dieser Mistkerl. »Und ein befriedigtes Lächeln. Du erinnerst dich doch an dieses Lächeln, oder?«

Sie würde nicht aufbrausen und ihm geben, was er haben wollte. »Bilde dir bloß nichts ein, Jack Parrish. So erinnerungswürdig bist du nicht.«

»Was meinst du? Ich habe von Ginas Lächeln gestern Abend geredet.« Er zog auch den anderen Mundwinkel hoch, und Lachfältchen erschienen um seine Augen. »Wovon redest du, Butterblümchen?«

Sie wussten beide, dass er nicht Ginas Lächeln gemeint hatte. »Du hast dich seit der Highschool nicht verändert.« Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und wandte sich zum Gehen, bevor ihr Temperament mit ihr durchging und sie etwas sagte, das sie später bereuen würde. Dass er endlich erwachsen werden sollte, zum Beispiel.

Jack sah ihr nach. Sein Lächeln verschwand, während sein Blick von ihrem blonden Haar, das sich glatt und glänzend über ihren Rücken ergoss, zu ihrem Hinterteil und ihren Schenkeln wanderte. Was zum Teufel bildete sie sich ein, ihn zu verurteilen? Sie hatte Sex mit ihm gehabt, hatte behauptet, sie würde ihn immer lieben, nur um in derselben Woche, als er seine Eltern zu Grabe tragen musste, seinen besten Freund zu heiraten. Für seine Begriffe war sie nichts als ein gefühlskaltes Miststück.

Sie verschwand im Saal, während Jack noch ein paar Minuten wartete, ehe er ihr folgte. Mit ihren dreiunddreißig war Daisy noch schöner als damals mit achtzehn. Das war ihm bereits am Vorabend aufgefallen, in seiner Küche – und jetzt wieder. So viel an ihr hatte sich verändert und war doch gleich geblieben. Ihr Haar besaß noch immer diesen schimmernden Blondton, war aber nicht mehr lockig und starr von Spray, sondern glatt und wahnsinnig sexy. Sie war noch zwei, drei Zentimeter gewachsen und musste einen Meter vierundsechzig groß sein, doch sie hielt sich, als wäre sie immer noch die Königin des Rosenfestivals von Lovett. Ihre großen Augen hatten dieselbe satte Farbe von Mahagoni, auch wenn die Unschuld und die Leidenschaft verschwunden waren, die ihn früher so in ihren Bann gezogen hatten.

Er ging den Flur entlang und trat in den dunklen Festsaal. Marvin gesellte sich zu ihm, um über den 67er Ford Fairlane zu fachsimpeln, den er gerade gekauft hatte.

»Er hat noch den Original-427«, sagte er, während Jed and the Rippers einen Song von Tim McGraw anstimmten.

Wie von einem Magneten angezogen, wanderte Jacks Blick zu Daisy, die am anderen Ende des Saals am Rand der erhellten Tanzfläche stand und mit P. J. Clark und seiner Frau Loretta plauderte. Daisys rotes Kleid betonte ihre weiblichen Formen, ohne zu eng zu wirken. Sie war eindeutig nicht zu dick geworden, hatte weder dicke Fesseln noch einen Hängehintern. Eigentlich schade, dachte Jack.

Jahrelang hatte er sie und Steven einfach vergessen. Er hatte sie in der Vergangenheit begraben und sein eigenes Leben weitergelebt. Und jetzt war sie hier und zerrte alles wieder an die Oberfläche.

Cal Turner ging auf sie zu, und sie folgte ihm zur Mitte der Tanzfläche. Es war allgemein bekannt, dass Turner ein aufdringlicher Mistkerl war und die vielen Knöpfe seitlich an ihrem Kleid ganz selbstverständlich als Aufforderung verstehen würde, seine Finger auf Wanderschaft zu schicken. Aber vielleicht wollte sie ja genau das. Mit Cal etwas anfangen. Aber das konnte ihm egal sein, es ging ihn nichts an.

»Das Vinyldach muss erneuert werden«, erklärte Marvin, ehe er sich lang und breit über die Innenausstattung ausließ.

Cal legte den Arm um Daisys Taille, die lächelnd zu ihm aufblickte. Das Licht der Disco-Kugel glitt über ihre Wange und fing sich in ihrem Haar. Ihre roten Lippen teilten sich. Sie lachte. Daisy Lee Brooks, der Traum jedes scharfen Burschen an der Lovett Highschool, war wieder in der Stadt, verdrehte den Männern die Köpfe und führte sie lächelnd an der Nase herum.

Manche Dinge änderten sich einfach nie.

Nur dass sie nicht mehr Daisy Lee Brooks war. Sie war Daisy Monroe und hatte ein Kind. Einen Sohn. Sie hatte ein Kind mit Steven. Er konnte nicht sagen, warum ihn das wunderte. Schließlich bestand kein Grund dazu. Natürlich hatten sie ein Kind. Wenn er es sich genau überlegte, war es viel verwunderlicher, dass sie nur eines hatten.

Unwillkürlich kam ihm das Bild ihres flachen Bauches in den Sinn, die Erinnerung daran, wie er die nackte Haut knapp über ihrem Nabel geschmeckt und ihr dabei ins Gesicht geblickt hatte. An die schläfrige Leidenschaft in ihrem Blick, als sein Mund weiter nach unten wanderte, an ihre Lippen, feucht und wund von seinen Küssen.

»Entschuldige«, sagte er, als Marvin über den doppelten Vergaser seines Fords völlig aus dem Häuschen geriet, drehte sich um und ging nach draußen. Die warme Juninacht berührte sein Gesicht und seinen Hals. Die Luft war erfüllt vom Summen von Insekten. Rechts von ihm befand sich eine Art Teich, und dahinter, auf dem Golfplatz, blinkten Glühwürmchen wie weiße Weihnachtslichter. Die Erinnerung an einen Abend, als er und Daisy und Steven Glühwürmchen gefangen hatten, kam ihm in den Sinn. Das lag lange zurück, in einer Zeit, als die Glühwürmchen noch nicht durch Insektizide dezimiert wurden und es noch ein Leichtes war, sie in Einmachgläsern zu sammeln. Er, Steven und Daisy hatten sich die kleinen Käfer auf die Arme gestrichen, wo sie bestimmt zehn Minuten lang fluoreszierende Streifen hinterließen.

Er zog eine Zigarre aus der Brusttasche und ging in Richtung einer steinernen Bank außerhalb des Lichtscheins vom Country Club, wo er sich hinsetzte und die Banderole abstreifte. Er schob sich die Zigarre in den Mundwinkel und klopfte die Taschen auf der Suche nach dem Streichholzmäppchen ab, das er im Tabakladen mitgenommen hatte. Er rauchte nicht oft, doch gegen eine gute Zigarre gab es nichts einzuwenden.

Er fand die Streichhölzer nicht, also steckte er die Zigarre zurück in die Brusttasche. Eine Fensterreihe des Restaurants warf fahles Licht über den Teich. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ließ den Hinterkopf gegen die Mauer sinken und sah hinaus in die Nacht. Er hatte ein gutes Leben. Mehr Aufträge, als er bewältigen konnte, mehr Geld, als er brauchte. Er hatte Parrish American Classics übernommen und das Unternehmen größer und besser ausgebaut, als sein Vater es sich jemals hätte träumen lassen. Sein Haus und sein Geschäft waren sein Eigentum. Er fuhr einen Mustang im Wert von 70 000 Dollar und einen neuen Dodge Ram Pick-up als Zugmaschine für sein sechseinhalb Meter langes Boot.

Er war zufrieden. Warum musste Daisy ausgerechnet jetzt auftauchen und alte Erinnerungen heraufbeschwören, an die besser nicht gerührt werden sollte? Erinnerungen an sie und ihn. An ihn und Steven. An ihre Dreier-Freundschaft.

Schon vom ersten Tag in der Grundschule an waren Steven und er ein bisschen verliebt in Daisy Brooks gewesen. Es fing ganz unschuldig an. Zwei Jungen schauten sich auf dem Pausenhof um und sahen ein kleines Mädchen mit goldenem Haar und großen braunen Augen. Ein Mädchen, das Baseball spielen, am Reck turnen und schneller laufen konnte als sie. Die Zuneigung war rein und naiv gewesen.

In der dritten Klasse, als Daisy sich besorgt fragte, wen sie heiraten sollte, wenn sie erwachsen war, hatten sie beschlossen, dass sie sie beide heiraten sollte. Sie würden zu dritt in dem Baumhaus wohnen, das sie bauen wollten, und Jack würde durch Seifenkistenrennen reich und berühmt werden. Steven würde Anwalt werden wie sein Vater und Daisy Schönheitskönigin. Von Polygamie hatten sie noch nie gehört, und weder Jack noch Steven brachte Daisy in Zusammenhang mit Sex. Was nicht bedeutete, dass Jack und Steven nicht schon einmal über dieses Thema geredet hätten. Sie stellten einfach nur keine Verbindung zu Daisy her.

Doch das änderte sich grundlegend in dem Sommer, bevor sie in die achte Klasse kamen. In den Ferien hatte Daisy auf der Ranch ihrer Tante in El Paso gearbeitet, und als sie zurückkam, besaß sie plötzlich perfekte Brüste. Bei ihrer Abreise war sie noch das Mädchen, das sie kannten, dünn und flachbrüstig, doch bei ihrer Rückkehr war alles anders. Die Beine waren länger, ihre Brüste größer als Jacks Hände und ihre Hüften runder. Sogar ihr Haar sah glänzender aus.

Damals hatte sein Körper nie einen Grund für eine Erektion benötigt, sondern sie kam wie bei allen pubertierenden Jungen stets aus heiterem Himmel und war schrecklich peinlich. Manchmal passierte es sogar, wenn Jack mit nichts Aufregenderem als Geometrie oder Rasenmähen beschäftigt war.

Doch in jenem Sommer sah er Daisy, und sein Körper reagierte auf die zwei überaus deutlichen Gründe, die sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Sein Verstand rutschte unverzüglich in die Hose, und er wurde so hart, dass er wegen Blutleere im Gehirn beinahe bewusstlos geworden wäre. Sie war herübergekommen, um ihm von der Ranch ihrer Tante zu erzählen, und als sie neben ihm auf der Veranda saß, redete und lachte und von den Pferden schwärmte, die sie geritten hatte, hatte er Mühe, ihr nicht auf die Brüste zu starren. Oh ja.

In diesem Sommer hatten Steven und er gewusst, dass ihrer beider Zuneigung zu Daisy nicht mehr ganz so unschuldig war, ohne dass sie jemals ein Wort darüber gewechselt hatten. Diese Tatsache stand zwischen ihnen. Zum ersten Mal wurde ihre Freundschaft durch ein ernsthaftes Problem belastet, ein Problem, das nicht mit einer Entschuldigung oder einem Wiedergutmachungsdrink aus dem Weg geräumt werden konnte.

Später redeten sie darüber, über ihre Gefühle für Daisy, und beschlossen, dass keiner von ihnen sie bekommen sollte. Um ihrer Freundschaft willen versprachen sie einander, die Finger von ihr zu lassen. Daisy war tabu. Jack hatte das Versprechen gebrochen, aber Steven hatte sie am Ende gekriegt.

Die Eingangstür zum Country Club ging auf, und Daisy trat nach draußen, als hätten seine Gedanken sie heraufbeschworen. Sie schlang sich die Tasche über die Schulter und sah sich um, als hätte sie vergessen, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Ihr Blick begegnete seinem, und aus einiger Entfernung sah sie ihn an. Die Beleuchtung des Country Clubs erhellte ihre eine Gesichtshälfte, während die andere im Schatten lag.

»Shay will gleich ihren Brautstrauß werfen«, meinte sie, als hätte er sie danach gefragt. »Und ich will nicht so tun, als wollte ich ihn fangen.«

»Du willst nicht die nächste Braut sein?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er fragte nicht nach dem Grund. Sein Blick wanderte zu ihren vollen Brüsten unter dem roten Stoff ihres Kleides und dann an der Knopfreihe entlang.

»Heute Morgen musste ich an meinen ersten Tag in der Grundschule von Lovett denken«, sagte sie und machte einen Schritt auf ihn zu. »Erinnerst du dich noch daran?«

Er stand auf und sah ihr ins Gesicht. »Nein.«

Ein Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Du hast gesagt, meine Haarschleife sei blöd.«

Und dann war sie in Tränen ausgebrochen.

»Meine Mutter hatte mich gezwungen, das alberne Ding zu tragen.«

Er betrachtete ihr Gesicht, die glatte, makellose Haut, die gerade Nase, die vollen roten Lippen. Sie war so schön wie immer, vielleicht sogar noch schöner, dennoch gelang es ihm ganz hervorragend, nichts zu empfinden. Keinen Zorn. Kein Begehren. Nichts. »Was tust du hier?«

Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu, so nahe, dass er sie berühren könnte, wenn er die Hand ausstreckte. Daisy sah ihn mit ihren großen Augen an. »Shay hat mich heute Morgen zum Empfang eingeladen, als ich sie beim Einkaufen bei Albertsons getroffen habe.«

Aber das hatte er nicht gemeint. »Warum bist du in Lovett? Und wühlst die Vergangenheit auf?«

Ihr Blick wanderte zu seiner Brust, ohne etwas zu erwidern.

»Was willst du, Daisy?«

»Ich will deine Freundschaft.«

»Nein.«

»Warum nicht, Jack?« Sie schaute auf und musterte forschend sein Gesicht. »Wir waren doch einmal Freunde.«

Er lachte. »Tatsächlich?«

Sie nickte. »Ja.«

»Ich denke, wir waren mehr als nur Freunde.«

»Ich weiß, aber ich habe die Zeit davor gemeint.«

»Bevor wir miteinander geschlafen haben?«

Er war nicht ganz sicher, glaubte aber einen Hauch Röte auf ihrem Gesicht gesehen zu haben.

»Ja.«

»Und bevor du mit meinem besten Freund geschlafen hast?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Vielleicht empfand er ja doch etwas. Vielleicht war er ein bisschen wütender, als er gedacht hatte, denn er sagte: »Bist du gekommen, um wieder damit anzufangen? Da weiterzumachen, wo wir damals aufgehört haben?«

Sie wandte den Blick ab. »Nein.«

»Ich weiß, ich soll mir nichts einbilden, aber ich frage dich trotzdem, ob du tatsächlich keine Nummer auf dem Rücksitz meines Wagens mit mir schieben willst.« Sie schüttelte den Kopf, doch er hörte nicht auf. »Um der alten Zeiten willen?«

Jetzt sah sie ihn wieder an. »Nicht, Jack.« Sie hob die Hand und legte ihm die Finger auf die Lippen. »Sag jetzt nichts mehr.«

Auf die Berührung ihrer Finger war er nicht vorbereitet gewesen. Ein Hauch von Parfüm stieg ihm in die Nase, doch darunter lag ihr eigener Geruch. Daisy. Sie mochte diesen Duft mit Parfüm überdecken und fünfzehn Jahre lange weg gewesen sein, doch der Duft hatte sich nicht geändert. Selbst als sie siebzehn war und im Wild Coyote Diner gearbeitet hatte, selbst unter dem Geruch nach Brathähnchen und Grillfleisch hatte sie immer nach einer warmen Sommerbrise geduftet.

Er sah sie einige Momente lang an, während ihre Finger noch immer auf seinen Lippen lagen. Manchmal hatte er unter dem Geruch nach ranzigem Fett nach ihrem Duft suchen müssen, doch er hatte ihn immer gefunden. Gewöhnlich an ihrer Halsbeuge. Er packte ihr Handgelenk und trat einen Schritt zurück. »Was willst du von mir?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Deine Freundschaft.«

Das konnte nicht alles sein. »Wir können niemals Freunde sein.«

»Warum nicht?«

Er ließ ihr Handgelenk los. »Du hast meinen besten Freund geheiratet.«

»Du hattest mit mir Schluss gemacht.«

Nein, er hatte nur gesagt, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte. »Und um mir eins auszuwischen, hast du Steven geheiratet.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich nicht. So war es gar nicht.«

»Doch, genauso war es. Wir beide waren ein Paar. Wir haben uns geliebt, wann und wo wir nur konnten. Und dann gehst du einfach los und heiratest meinen besten Freund, und auch noch genau in der Woche, in der ich meine Eltern begraben musste. Was habe ich nicht verstanden? « Trotz der Dunkelheit sah er die tiefe Falte, die sich in ihre Stirn grub.

»Der Zeitpunkt war schlecht gewählt.«

Ein bitteres Lachen schnürte ihm die Brust zusammen. »Allerdings.«

»Es tut mir Leid, Jack.« Sie schien es ehrlich zu meinen.

Es interessierte ihn nicht. »Das braucht es nicht. Es hat sich alles zum Guten gewendet.«

»Ich bin hergekommen, weil ich mit dir reden muss.«

Es gab absolut nichts, was er aus ihrem Munde hören wollte. »Spar dir die Mühe, Daisy«, sagte er und trat an ihr vorbei über die Brücke, die vom Eingangsbereich zum Parkplatz führte.

»Nur aus diesem einen Grund bin ich gekommen«, rief sie ihm nach.

»Dann hast du deine Zeit verschwendet.«

»Zwing mich nicht, dir nachzulaufen.«

Er blieb stehen und drehte sich um. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und obwohl er ihren Gesichtsausdruck nicht ausmachen konnte, spürte er doch ihre Entschlossenheit. Es war, als hätte er die alte Daisy vor sich.

»Ich versuche, freundschaftlich an diese Sache heranzugehen, aber im Grunde hast du gar keine Wahl. Du wirst mich anhören, und wenn du so gemein wirst, wie du gedroht hast, werde ich zu deinem schlimmsten Albtraum, das verspreche ich dir.«

Verdammt, ganz die alte Daisy. Aufbrausende, reizbare Streitsucht in so einem zierlichen, mädchenhaften Körper. Er hätte beinahe gelächelt. Aber nur beinahe.

»Zu spät, Butterblümchen«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Mein schlimmster Albtraum bist du schon vor Jahren geworden.«