KAPITEL 4

Daisy hängte ihr Kleid in den Schrank, zog sich den roten Unterrock über den Kopf und schlüpfte in ihr kurzes Nachthemd, ehe sie sich das Gesicht wusch. Es war kurz nach zehn, und ihre Mutter schlief bereits.

Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und griff nach dem Telefon. In Washington war es erst acht Uhr abends, und bestimmt war Nathan noch wach.

Sie lag richtig mit ihrer Vermutung. »Hallo, Schatz«, sagte sie, als Nathan sich nach dem vierten Klingeln meldete.

»Mom.«

Tja, das war kein überwältigender Gesprächsbeginn, trotzdem freute sie sich, seine Stimme zu hören. »Wie geht’s dir?«

»Es geht.«

»Du fehlst mir.«

»Dann komm doch nach Hause.«

»Das tue ich auch. Sonntag in einer Woche.«

»Mom, ich will aber nicht noch eine Woche hier bleiben. «

Über dieses Thema hatten sie bereits vor ihrer Abreise diskutiert. Junie und Oliver waren nicht unbedingt Nathans Lieblingsverwandte. Sie waren zwar nicht unausstehlich, aber eben ein wenig langweilig, insbesondere in den Augen eines Fünfzehnjährigen. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Woher willst du das denn wissen? Hast du jemals mit Tante Junie und Onkel Ollie Allwissend zusammengelebt? «

»Nathan, sie könnten dich hören!« Leider gehörte Oliver zu den Männern, die ihre Mitmenschen gern mit ihrem beschränkten Wissen über jedes nur erdenkliche Thema beeindruckten. Steven hatte ihm schon vor Jahren den Spitznamen Mr. Ollie Allwissend verpasst.

»Nein, können sie nicht. Sie sind nämlich nicht hier. Nur ich bin hier und muss den Babysitter für Michael Ann und Richie spielen.«

Daisy klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter. »Michael Ann ist doch nur ein Jahr jünger als du.«

»Weiß ich auch. Und sie geht mir echt auf die Nerven. Ständig läuft sie mir nach und will wissen, ob irgendwelche Essensreste in meinem Lippenring stecken bleiben.«

Daisy hatte ihm diese Frage ebenfalls gestellt und hielt sie für durchaus nachvollziehbar. »Ich schätze, sie ist in dich verknallt.«

»Oh Gott! Das ist geschmacklos, Mom«, sagte er, und seine Stimme überschlug sich vor Empörung. »Wie kannst du so was sagen? Sie ist meine Cousine!«

»Hast du noch nie von den Zärtlichen Cousinen gehört? «, zog Daisy ihn auf.

»Iiihhh. Sie bohrt noch in der Nase.«

Daisy lachte. Schließlich kam das Thema Schule zur Sprache. Es waren nur noch fünf Tage bis zu den Sommerferien. Nathan war im Dezember fünfzehn geworden, und seit seinem ersten Tag in der Grundschule zählte er die Tage, bis er endlich den Führerschein machen konnte. Er würde sich zwar noch ein Jahr gedulden müssen, trotzdem wusste er schon ganz genau, welchen Wagen er sich anschaffen würde. Zumindest in dieser Woche.

»Ich lege mir einen Nova Super Sport zu. Und zwar einen Vierzylinder. Nicht dieses öde Dreier-Teil. Wozu auch, wenn man damit nicht ordentlich heizen kann? Das wird krass.« Sie gab sich nicht einmal den Anschein zu verstehen, wovon er sprach. Die Autobesessenheit war ihm in die Wiege gelegt worden. Das ließ sich nicht leugnen. Wahrscheinlich war es erblich bedingt, in seinen Genen verankert. Hinzu kam die nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass er auf dem Rücksitz eines Chevy gezeugt worden war. Es war Nathans Schicksal, Autofan zu sein.

»Welche Farbe?«, fragte sie, nicht im Geringsten besorgt, dass er jemals tatsächlich einen Nova SS fahren und die anderen Staub schlucken lassen würde. Nathan hatte nämlich keinen Job, um sich das notwendige Kleingeld zu beschaffen.

»Gelb mit schwarzem Dach.«

»Wie eine Hummel?«

Pause. »Weiß mit schwarzem Dach.«

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten übers Wetter und darüber, wo er gern Urlaub machen würde, wenn sie zurück war. Er hatte gerade einen Teenie-Film gesehen und hielt Fort Lauderdale für eine gute Idee. Oder Hawaii.

Als sie schließlich auflegte, hatten sie sich im Großen und Ganzen auf Disney World geeinigt, doch es war durchaus möglich, dass Nathan seine Meinung bis zum nächsten Gespräch wieder geändert hatte. Daisy gab sich ein wenig nach Mandeln duftende Lotion in die Hand und rieb ihre Arme ein. Ein schmaler weißer Streifen markierte kaum sichtbar die Stelle am Ringfinger ihrer linken Hand, wo sie fünfzehn Jahre lang ihren Ehering getragen hatte. Sie hatte den zweikarätigen Solitär in die Brusttasche von Stevens Beerdigungsanzug geschoben, da es ihr passend erschienen war, dass er auf seinem Herzen ruhte.

Während sie die Creme einmassierte, blickte sie sich in ihrem Zimmer um. Es war ihr altes Mädchenzimmer, doch abgesehen von dem Bett war nichts geblieben. Gerahmte Poster von Windmühlen, The Alamo und dem River Walk in San Antonio hingen an den Wänden und hatten ihre Urkunden vom Fotowettbewerb, ihre Cheerleader-Abzeichen und ein Poster von Rob Lowe verdrängt, das sie zur Zeit seiner St.Elmo’s-Fire-Tage angebracht hatte.

Sie stand auf und öffnete die Tür ihres Kleiderschranks, der bis auf ein paar alte Tanzkleider, ein Paar alter roter Cowboystiefel mit weißen Herzen und eine große Schachtel mit ihren Namen darauf leer war. Sie schob die Schachtel über den Fußboden bis zum Bett, setzte sich hin und betrachtete sie lange. Sie wusste, was sie darin finden würde. Allerlei Krimskrams aus ihrem Leben, jene Erinnerungen, die sie vor langer Zeit in dieser Schachtel verstaut und weggeschlossen hatte. Vorhin erst, beim Empfang, hatte sie die Erinnerungen aus ihrem Kopf verscheucht, doch nun saß sie da und starrte sie an. Wollte sie wirklich einen Blick auf ihre Vergangenheit werfen?

Nein, eigentlich nicht.

Sie riss den Klebestreifen ab und öffnete die Schachtel.

Ein getrocknetes Anstecksträußchen, ihr Diplomandenhut und ein paar Namensschilder mit der Aufschrift HI, MEIN NAME IST DAISY lagen obenauf. Sie konnte sich nicht erinnern, warum sie die Schildchen aufbewahrt hatte, doch den kleinen Strauß erkannte sie sofort wieder. Sie berührte die trockenen Rosenknospen, die einmal rosa und weiß gewesen waren, inzwischen jedoch ein verblichenes Gelb aufwiesen. Sie hielt sich das trockene Sträußchen unter die Nase und atmete tief ein. Es roch nach Staub und alten Erinnerungen. Sie legte es neben sich aufs Bett, ehe sie ihre Babydecke und ihr Taufkleid herausnahm. Als Nächstes stieß sie auf eine herzförmige Schachtel mit der Halskette, die ihr Großvater väterlicherseits ihr geschenkt hatte, dann auf ihre Schuljahrbücher. Sie nahm das der zehnten Klasse und schlug es auf, blätterte die Seiten um und hielt bei einem Gruppenfoto der Lehrer vor dem Schulgebäude inne. Dieses Foto hatte sie im ersten Jahr ihres Fotokurses aufgenommen, noch bevor sie besonders viel über Bildkomposition und Lichtverhältnisse wusste.

Sie blätterte weiter zu den Fotos von ihr und Sylvia und der Cheerleader-Truppe, wie sie in ihren blaugoldenen Uniformen irgendwelche gymnastischen Figuren und Sprünge vorführten. In jenem Jahr hatte sie eine Kurzhaarfrisur à la Prinzessin Diana getragen. Diana hatte toll damit ausgesehen, Daisy hingegen eher wie ein Junge in einem kurzen Faltenröckchen.

Sie schlug die Seite mit ihrem Klassenfoto auf und zuckte innerlich zusammen. Ihr breites Lächeln entblößte ihre Zahnspange, und das viele Make-up um die Augen ließ sie wie ein Waschbär aussehen.

Sie blätterte einige Seiten weiter, und ihr Finger glitt an den Reihen von Fotos entlang, bis er bei Stevens Foto innehielt. Lächelnd berührte sie das glatte Papier. Er war schon immer ein hübscher, typisch amerikanischer Junge gewesen, mit gewelltem blondem Haar, lächelnden braunen Augen und diesem sorglosen breiten Texas-Grinsen. Er hatte Football und Basketball gespielt und war bei der Schülerverwaltung gewesen. In der Oberstufe hatte er das Amt des Klassensprechers übernommen.

Daisy schlug noch ein paar Seiten um und betrachtete Jacks Jahrbuch-Porträt. Im Gegensatz zu Steven grinste Jack niemals auf diese sorglose Weise. Nicht dass er von Natur aus ernster gewesen wäre als Steven, nein, es lag eher daran, dass er keine Energie darauf verwandte zu lächeln, wenn ihm nicht danach war.

In jenem Schuljahr war er sechzehn geworden, ein Jahr älter, als Nathan heute war. Jack und Nathan hatten dasselbe dunkle Haar und den dunklen Teint, und vielleicht besaßen auch ihre Nasen eine ähnliche Form. Daisy hielt Ausschau nach weiteren Ähnlichkeiten, fand aber keine.

In jenem Jahr hatte Jack auch aufgehört, Football zu spielen, weil sein Vater ihn nach der Schule in der Werkstatt brauchte. Bis zur Oberstufe hatte Jack stets in erster Reihe als Quarterback gespielt. Als er aufhörte, übernahm Steven seine Position. Soweit Daisy sich erinnern konnte, hatte Jack ihm das nie verübelt. Er war höchstens traurig gewesen, weil er selbst nicht mehr dabei sein konnte.

Und in jenem Jahr hatte sie angefangen, sich in Jack zu verlieben. Oh, sie hatte Jack schon immer auf die gleiche Art und Weise geliebt wie Steven, doch es war, als hätte sie ihn gerade noch mit denselben Augen gesehen wie immer, und im nächsten Moment war alles anders gewesen.

An diesem besonderen Tag hatte er auf der Ladefläche des alten Pick-ups seines Daddys gesessen und darauf gewartet, dass Steven mit dem Footballtraining fertig war. Daisy war nach dem Unterricht noch in der Schule geblieben, um Poster für den Ball zum Schulbeginn zu machen, und sah ihn später auf dem Parkplatz sitzen und zusehen, statt selbst zu spielen.

Vielleicht hatte das Licht eine Sinnestäuschung heraufbeschworen, doch es hatte ausgesehen, als hülle ihn das Licht der untergehenden Sonne in einen goldenen Schein. Sie hatte keine Ahnung, warum, doch mit einem Mal registrierte sie mehr als sein gewohntes gutes Aussehen. Mehr als seine Wimpern, die länger waren als ihre eigenen. Mehr als den Bartflaum auf seinem Kinn. Mehr als die vor der Brust verschränkten Arme, den deutlich hervortretenden Bizeps und die harten Muskelstränge an seinen Unterarmen. Jack stemmte keine Gewichte. Er stemmte Motoren.

»Hey«, sagte er und klopfte neben sich auf die Ladefläche.

»Was machst du?«, fragte sie und setzte sich neben ihn. Sie legte ihre Schulbücher auf ihren Schoß und sah zum Platz hinüber, wo die Lovett Mustangs gerade das Training beendeten und im Laufschritt zu den Umkleideräumen trabten.

»Ich warte auf Steven.«

»Fehlt dir der Football, Jack?«

»Nein, aber die hübschen Mädchen.« Natürlich stimmte es, dass die Footballspieler grundsätzlich die hübschesten Mädchen abkriegten, doch es war nicht so, dass er nicht zum Zug kam, nur weil er nicht mehr zur Mannschaft gehörte.

»Dann musst du dich jetzt wohl mit den hässlichen begnügen«, neckte sie ihn und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Daisy, weißt du nicht, dass es in Texas überhaupt keine wirklich hässlichen Mädchen gibt?«

Er hatte immer irgendeinen Spruch auf den Lippen.

»Wo hast du denn das her?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Ist eben so. Wie The Alamo und der Rio Grande. Tatsache.« Er nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihre Knöchel, während er ihre Finger betrachtete. »Aber du lässt dich doch trotzdem noch mit mir blicken, oder?«

Sie sah ihm ins Gesicht, eine schnippische Antwort auf den Lippen, doch er blickte zum Himmel hinauf, und irgendetwas in seinen grünen Augen ließ sie innehalten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie etwas darin, das sie ahnen ließ, dass ihre Erwiderung wichtig für ihn sein könnte. Als wäre er verunsichert. Unverhofft hatte sie einen Blick auf Jacks Inneres erhascht, wie sie es noch nie erlebt hatte. Vielleicht prallte doch nicht alles Unangenehme von ihm ab, als wäre er Superman. Vielleicht hatte er Gefühle wie alle anderen auch. Oder sogar noch mehr.

Dann lächelte er sie mit blitzenden Zähnen an, und der Moment war vorüber.

»Natürlich, Jack«, sagte sie. »Mit dir werde ich mich immer gern blicken lassen.«

»Ich hab doch gewusst, dass ich mich auf dich verlassen kann, Butterblümchen.« Zum ersten Mal drang seine Stimme tief in ihr Herz und löste ein heißes Prickeln in ihr aus. Es war so unglaublich, so fantastisch. Und es durfte nicht sein. Sie konnte sich doch nicht in Jack verlieben. Er war ein Freund, und sie wollte ihn nicht verlieren. Aber selbst wenn er nicht ihr Freund gewesen wäre, wäre sie eine Närrin, wenn sie es geschehen lassen würde.

Er drückte ihre Hand und stand auf. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Sie blickte zu ihm auf, wie er vor ihr stand, die Hände in die Taschen seiner Levi’s vergraben, und nickte. Jack Parrish besaß viele wunderbare Eigenschaften, doch die Treue zu einem einzigen Mädchen gehörte ganz bestimmt nicht dazu. Er würde ihr das Herz brechen, es zerschellen lassen, als wäre es aus Glas. Wenn das geschah, wäre auch ihre Freundschaft zerstört. Und er würde ihr entsetzlich fehlen.

Als Steven mit nassen, aus dem Gesicht gekämmten Haaren aus der Umkleidekabine kam, redete sie sich ein, dass sie sich natürlich nicht in Jack verliebt hätte. Er hatte sie lediglich einen Moment lang verwirrt. So wie damals, als sie noch Kinder gewesen und zu lange Karussell gefahren waren. Jack hatte es so schnell gedreht, dass es ihr danach eine ganze Weile nicht gelungen war, klar zu denken.

Doch das lag hinter ihr. Jetzt konnte sie wieder klar denken. Gott sei Dank. »Habt ihr noch etwas vor?«, fragte sie.

»Wir wollten nach Chandler rüberfahren«, antwortete Jack. Chandler war eine Kleinstadt in derselben Größe wie Lovett, die etwa fünfzig Meilen entfernt war.

»Warum?«

»Da steht ein 69er Camaro Z-98, den ich mir ansehen will.«

»Einen 69er?« Jacks Begeisterung für alte Autos oder »Klassiker«, wie er sie nannte, hatte sie noch nie nachvollziehen können. Ihr waren modernere Autos lieber, deren Polsterung ihr keine Laufmaschen in die Strümpfe riss. Bei Jack jedoch ging es um mehr als darum, dass er nicht genug Geld für einen Neuwagen hatte. Auch wenn er das mit Sicherheit nicht hatte. In dieser Hinsicht hatten Jack und sie bedeutend mehr gemeinsam als mit Steven. Stevens Vater war Anwalt und wohlhabend. Für ihn waren gute Noten in der Schule das Allerwichtigste. Ihre Mutter hingegen arbeitete als Kellnerin und war auf Sozialhilfe angewiesen, während Jacks Familie eine Werkstatt besaß, die nicht viel einbrachte. Sie und Lily waren dafür verantwortlich, das Haus sauber zu halten und das Abendessen zuzubereiten, und Jack arbeitete im Familienunternehmen. »Läuft der Wagen?«, fragte sie.

»Noch nicht.«

Genau.

»Hey, Daisy«, sagte Steven, als er näher kam. »Wieso bist du so spät noch in der Schule?«

»Ich habe Poster für den Tanzabend gemacht. Gehst du hin?«

»Ja, ich hab mir überlegt, ob ich Marilee Donahue einladen soll. Ob sie wohl Ja sagt, was meinst du?« Steven lächelte, und für Daisy bestand kein Zweifel daran, dass Marilee ja sagen würde.

Sie zuckte die Achseln. »Und du, Jack?«, fragte sie, obwohl sie ziemlich sicher war, seine Antwort längst zu kennen.

»Nein. Du weißt doch, ich ziehe nur einen Anzug an, wenn meine Mom mich dazu zwingt, weil wir in die Kirche oder zu einer Beerdigung müssen.« Er schlug die Ladeklappe zu und ging zur Fahrertür. »Außerdem hasse ich tanzen. «

Daisy vermutete, dass es im Grunde nicht darum ging, dass Jack nicht gern tanzte, sondern vielmehr darum, dass er es nicht konnte. Und das war typisch für ihn — wenn er etwas nicht gut konnte, ließ er lieber gleich die Finger davon.

»Aber es würde doch reichen, wenn du ein ordentliches Hemd und eine Krawatte anziehst«, wandte sie ein, obwohl sie sich aus irgendeinem Grund insgeheim mehr über die Vorstellung freute, dass Jack kein Mädchen zum Schulball einlud, als sie sollte, insbesondere wenn man bedachte, dass sie ihre Verwirrung von gerade eben doch überwunden hatte.

»Keine Chance.« Die drei stiegen in den alten Pick-up, und Jack ließ den Motor an.

»Hat dich schon jemand eingeladen?«, fragte Jack, als er vom Parkplatz fuhr. Wie immer saß sie zwischen den beiden Jungen.

»Ja.« Die beiden waren so heikel in Bezug auf ihre Verabredungen, dass sie den Kandidaten nur ungern preisgeben wollte.

»Wer?«, beharrte Steven.

Sie starrte geradeaus aufs Armaturenbrett und die Straße vor ihnen.

Steven stieß sie mit dem Ellbogen an. »Komm schon, Daisy Lee. Wer hat dich eingeladen?«

»Matt Flegel.«

»Du gehst mit dem Floh?«

»Er möchte nicht mehr so genannt werden.«

Über ihren Kopf hinweg warf Jack Steven einen Blick zu.

»Was habt ihr gegen Floh … ich meine, Matt?« Sie hob die Hand, ehe einer von ihnen antworten konnte. »Vergesst, dass ich gefragt habe. Mir ist egal, was ihr denkt. Ich kann Matt gut leiden.«

»Er kommt ja ziemlich herum.«

»Er ist der Falsche für dich«, fügte Jack hinzu.

Sie verschränkte die Arme und hüllte sich während des gesamten Heimwegs in Schweigen. Die beiden wechselten pausenlos ihre Freundinnen, und das war noch charmant ausgedrückt. Sie hatte keine Lust, sich ihre Meinung anzuhören, und falls es überhaupt einen Jungen gab, der »der Falsche« für sie war, dann eindeutig Jack. Weswegen sie noch froher war, sich nicht in ihn verliebt zu haben.

Den Rest des Schuljahres ging sie mit Jungen aus, von denen weder Steven noch Jack etwas hielten, aber es war ihr gleichgültig. Wie die meisten Mädchen in ihrem Alter lernte sie zu flirten und den Jungs den Kopf zu verdrehen. Und, was noch wichtiger war, sie lernte, ihnen Einhalt zu gebieten, bevor es zu weit ging – mit dem Ergebnis, dass sie als Mädchen galt, dass die Jungen zuerst reizte und dann abservierte. Doch das war in ihren Augen unfair. Die Jungen küssten sie, sie küsste die Jungen. Aus ihrer Sicht war ein Mädchen entweder prüde, was bedeutete, dass sie überhaupt nicht küsste, oder sie gehörte zu denen, die die Jungen reizten, was hieß, dass sie sie küsste und vielleicht noch ein bisschen mehr tat, oder aber sie war eine Schlampe. Und was das bedeutete, wusste jeder.

In jenem Sommer ließ sie zu, dass Erik Marks ihre Brust durch den Stoff ihres T-Shirts berührte. Als Jack und Steven davon erfuhren, kamen sie zu ihr nach Hause, um sie zur Rede zu stellen. Sie wurde wütend und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.

Diese Heuchler.

Im folgenden Schuljahr wurde sie Mitglied der Cheerleader-Truppe. Ihr Haar war bis auf Schulterlänge gewachsen, und sie hatte sich eine Dauerwelle machen lassen. Steven spielte Football und Basketball und war selbstverständlich Mitglied im Schülerparlament. Jack fuhr mit seinem Camaro Rennen auf den ebenen Straßen von Texas, und Daisy redete sich nach wie vor ein, er interessiere sie nicht. Sie sagte sich, dass sie ihn liebte, aber nicht verliebt in ihn wäre, und dass ihr Herz sich nicht zusammenzog, wenn er mit irgendeinem anderen Mädchen im Arm vorbeifuhr. Er war nur ihr Freund, wie früher. Sonst nichts. Und sie gestattete sich auch keine anderen Gefühle für ihn.

Das alles änderte sich ein paar Wochen vor Weihnachten in ihrem letzten Oberstufenjahr, als J. T. Sanders sie zum Schulball einlud. J. T. sah umwerfend aus und fuhr einen nagelneuen Jeep Wrangler. Schwarz. Daisy arbeitete abends im Wild Coyote Diner und hatte genug Geld zusammengespart, um sich das perfekte Kleid kaufen zu können. Aus weißer Seide. Ärmellos und mit kleinen Rheinkieseln auf dem eng anliegenden Oberteil und dem schwingenden Tüllrock. Es war das schönste Kleid, das sie je besessen hatte. Am Abend vor dem Ball holte sie in der Pause J. T.s Anstecksträußchen ab. Als sie nach Hause kam, rief er an und sagte ab. Er behauptete, seine Großmutter sei gestorben, und er müsste nach Amarillo zur Beerdigung. Jeder wusste, dass er seit der vergangenen Woche mit einem anderen Mädchen zusammen war. Daisy war abserviert worden. Eiskalt.

Und jeder wusste es.

Am Tag des Balls, einem Samstag, hatte Daisy die Mittagsschicht im Wild Coyote. Sie riss sich zusammen und zeigte nicht, wie gedemütigt sie sich fühlte, sondern scherzte mit ihren Kolleginnen und meinte, J. T. sei sowieso ein Versager.

Doch niemand nahm ihr das ab. Am Abend vor dem Ball mit einer lahmen Ausrede abserviert zu werden war das Schlimmste, was einem Mädchen passieren konnte.

Und das wusste jeder.

Nach der Arbeit ging sie nach Hause und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Ihr Kleid hing an der Schranktür. Sie warf sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Gegen vier steckte ihre Mutter den Kopf zur Tür herein und fragte, ob sie Pfefferminzeis mit Schokostückchen wollte. Aber sie wollte keines. Lily bereitete ihr ein besonders leckeres Sandwich zu, aber sie konnte nichts essen.

Um halb fünf klopfte Jack an ihre Zimmertür, doch sie wollte ihn nicht hereinlassen. Ihr Gesicht war fleckig, ihre Augen vom Weinen verquollen, und sie wollte nicht, dass er sie so sah.

»Daisy Lee«, rief er durch die geschlossene Tür. »Komm raus.«

Sie setzte sich aufs Bett und nahm ein Papiertaschentuch aus der Schachtel. »Lass mich in Ruhe, Jack.«

»Mach auf.«

»Nein.« Sie putzte sich die Nase.

»Ich hab was für dich.«

Sie starrte auf die Tür. »Was?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich muss es dir zeigen.«

»Ich sehe grauenhaft aus.«

»Ist mir egal.«

Aber ihr nicht. Sie rutschte vom Bett, öffnete die Tür einen Spaltbreit und streckte die Hand aus. »Was ist es?« Jack antwortete nicht, also blieb ihr nichts anderes übrig, als durch den Türspalt zu spähen. Jack stand im Schein des Lichts, das aus dem Zimmer ihrer Schwester drang und ihn wie einen Engel (oder zumindest wie einen Chorknaben) aussehen ließ. Er trug seinen marineblauen Sonntagsanzug und ein cremefarbenes Hemd. Eine rote Krawatte hing ihm lose um den Hals. »Was ist los, Jack? Warst du auf einer Beerdigung?«

Er lachte, zog die Hand hinterm Rücken hervor und drückte ihr ein Anstecksträußchen aus weißen und rosa Rosen in die Hand. »Willst du mit mir zum Ball gehen?«

»Du kannst Schulbälle doch nicht ausstehen«, wandte sie ein.

»Ich weiß.«

Sie hielt sich das Sträußchen unter die Nase und sog tief den Duft der Blumen ein, was ein wenig schwierig war, weil ihre Nase vom Weinen ganz verstopft war. Sie biss sich auf die Unterlippe, um das Zittern zu verbergen. Und dann sah sie ihn an – wie er im Flur vor ihrem Zimmer stand, in dem Anzug, den er hasste, und sie zu einem Ball einlud, den er ebenfalls hasste – und verliebte sich rettungslos in Jack Parrish. Es überflutete ihr Herz und machte ihre Brust weit und erschreckte sie zu Tode. All die Jahre, die sie gegen das Gefühl angekämpft hatte, zerrannen und wurden bedeutungslos.

Sie hatte sich in Jack verliebt, und sie hatte nichts dagegen tun können.

An diesem Abend küsste Jack sie zum ersten Mal. Oder vielmehr, sie küsste ihn. Während des Balls, als sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebte, behandelte er sie wie immer, wie eine uralte Freundin. Während seine Nähe ein Gefühl der wohligen Wärme und Lebendigkeit in ihr auslöste, blieb er selbst kühl. Es war wunderschön und schrecklich zugleich, und als er sie nach dem Ball bis zur Haustür begleitete, schlang sie die Arme um seinen Nacken und küsste ihn.

Anfangs stand er mit hängenden Armen da, doch dann packte er sie ungehalten an den Schultern und schob sie von sich.

»Was soll das?«

»Küss mich, Jack.« Wenn er sie abwies, würde sie auf der Stelle sterben, so viel stand fest. Gleich hier auf der Veranda.

In diesem Moment zog er sie an sich und presste seine warmen Lippen auf ihre Stirn.

»Nein, du sollst mich nicht wie eine Freundin behandeln. « Sie schluckte, und ein heißer Schmerz brannte in ihrer Brust. »Bitte«, flüsterte sie und blickte zu ihm auf. »Ich möchte, dass du mich so küsst, wie du andere Mädchen küsst. Ich möchte, dass du mich berührst wie andere Mädchen. «

Er wich zurück, während sein Blick zu ihrem Mund wanderte. »Reiz mich nicht, Daisy. Ich mag das nicht.«

»Das will ich auch nicht.« Sie strich mit der Hand über seine Schulter und seinen Hals. »Bitte, Jack.«

Zögernd, als wollte er sie nicht küssen, könnte ihr aber nicht länger widerstehen, neigte er den Kopf und näherte sich ihrem Mund. Diesmal raubte ihr die Berührung seiner Lippen den Atem. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ sich an seine Brust sinken. Bis zu diesem Augenblick hatte sie geglaubt zu wissen, wie es war, wenn man einen Jungen küsste. Doch Jack zeigte ihr, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte. Der Kuss war heiß und feucht und weckte einen Hunger in ihr, der sie für immer verändern sollte.

Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, sah sie sich auf der Veranda ihrer Mutter, während Jack ihre Welt auf den Kopf stellte. Sie klammerte sich an ihn, während er ihr Gesicht mit heißen Küssen bedeckte, die ihre Brüste vor Sehnsucht schmerzen und ihren Körper erzittern ließen. Er hatte die Hände nicht einen Moment von ihren Schultern genommen, und trotzdem sehnte sie sich nach seiner Berührung. Sie wollte, dass er sie überall berührte. Stattdessen ging er und ließ sie wie betäubt zurück, mit der Sehnsucht nach mehr.