KAPITEL 11
Das Heulen der Tischbohrmaschine erfüllte die Werkstatt und drang bis in Jacks Büro, wo er die Ersatzteilliste für die 54er Corvette durchging. Gleichzeitig blätterte er durch die Polaroids, die er von jedem bisher ausgebauten Autoteil angefertigt hatte. Alles, von den Chromteilen bis zu den Schrauben, mit denen die Sockel der Heckleuchten befestigt waren, war katalogisiert und sorgfältig eingelagert worden. Sie hatten den Motor ausgebaut, der später auseinander genommen und mit dem Dampfreiniger gesäubert werden würde. Sämtliche Gummiteile mussten komplett ersetzt werden, ebenso wie die lederne Innenausstattung. Die 54er war angeblich schwer zu fahren, aber das spielte keine Rolle. Der große Harley Earl, Gott hab ihn selig, hatte den Sportwagen in seinem typischen aufwändigen Stil entworfen. Das Fahrzeug diente in erster Linie zur Show.
Jack warf die Fotos zur Seite und stand auf. Am Vormittag hatten sie die Windschutzscheibe ausgebaut und mehr Rostschäden vorgefunden, als sie vermutet hatten. Diese Schäden mussten behoben werden, dann würden sie die Karosserie erneuern. Er griff nach dem Dodge-Viper-Kaffeebecher, den Lacy Dawn ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, verließ das Büro und ging zum Empfangstresen.
Montags kam Penny erst um halb elf zur Arbeit. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Stapel Post. Jack schenkte sich noch einmal Kaffee nach, und als er hinaus in die Werkstatt ging, hörte der Lärm des Tischbohrers auf. Jack blies in seinen Becher und sah zu Billy hinüber, der an der Werkbank stand und sich die Schutzbrille in die Stirn geschoben hatte. In einer Hand hielt er eine Bremsscheibe, während ein magerer Teenager etwas zu ihm sagte. Beide drehten sich um, als Billy in Jacks Richtung wies.
Jack blieb wie vom Donner gerührt stehen. Der Junge musste etwa fünfzehn Jahre alt sein und trug eine Hundekette um den Hals, und eine weitere hing seitlich an seiner Hose herab. Er sagte noch etwas zu Billy, ehe er auf Jack zuging. Jack bemerkte Billys verwundertes Lächeln, bevor er sich dem Jungen zuwandte.
Er stellte jeden Sommer irgendwelche Jungen ein, die die Werkstatt fegten oder Ersatzteile holen gingen. Aber wenn dieser Bursche einen Job wollte, hatte er Pech gehabt. Weniger wegen seines Aussehens, sondern weil er nicht so viel Verstand hatte, sich anständig anzuziehen und die Ketten seinem Hund zu überlassen, wenn er auf Jobsuche ging.
Er hatte eine Igelfrisur, dunkles Haar mit weißen stacheligen Spitzen. Seine Unterlippe war neben dem Mundwinkel gepierct, und auf seinem schwarzen T-Shirt stand in großen roten Lettern ANARCHIE. Außerdem trug er ein Skateboard unterm Arm, und seine Jeans waren so weit, dass sie über seine Hüfte rutschen würden, wenn er sich zu voller Größe aufrichten würde.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Jack, als der Junge vor ihm stehen blieb.
»Ja. Meine Mom hat gesagt, Sie kannten meinen Dad?«
Jack kannte eine Menge Dads. »Wie heißt deine Mutter? «, fragte er und nahm noch einen Schluck Kaffee.
»Daisy Monroe.«
Er verbrannte sich den Mund am Kaffee und ließ den Becher sinken. Daisy war also doch nicht nach Hause zurückgeflogen.
»Ich weiß nicht, ob sie mal von mir gesprochen hat. Ich bin …« Seine Stimme brach, und er schluckte. »Ich bin Nathan. «
Wenn er sich je Gedanken gemacht hatte, wie Daisys und Stevens Kind aussehen mochte, hatte er sich jedenfalls nie im Leben diesen Jungen vorgestellt. Erstens hatte er vermutet, ihr Kind müsste bedeutend jünger sein. »Sie hat erwähnt, dass sie einen Sohn hat, aber ich hatte geglaubt, du wärst etwa fünf Jahre alt.«
Nathan zog die dunklen Brauen zusammen und sah Jack aus klaren blauen Augen an. Er wirkte ein bisschen verunsichert, als könnte er sich nicht vorstellen, dass jemand ihn mit einem Fünfjährigen verwechseln könnte. »Nein. Ich bin fünfzehn.«
Der Junge musste also kurz nach Stevens und Daisys Hochzeit gezeugt worden sein. Der Gedanke an Daisy und Steven als Paar beschwor eine lange verdrängte Feindseligkeit herauf und setzte ihm mehr zu, als ihm lieb war. Mehr als noch vor ein paar Tagen, bevor er mit Daisy auf dem Kofferraum genau des Wagens geschlafen hatte, neben dem ihr Sohn jetzt stand. Bevor er gewusst hatte, wie schön es war, mit ihr zusammen zu sein. »Heißt das, dass deine Mutter auch noch in der Stadt ist?«
»Ja.« Er sah Jack an, als erwartete er, dass er noch etwas sagte. »Wir wohnen bei meiner Großmutter, bis es Tante Lily besser geht. Könnte eine Woche oder so dauern, meint meine Mutter«, fügte er hinzu, als Jack schwieg.
Er hätte gern gewusst, was vorgefallen war, dass Daisy am Samstag aus seiner Küche gelaufen war. »Was ist mit deiner Tante?«
»Sie ist mit ihrem Wagen in Ronnies Wohnzimmer gefahren. «
Verdammt, hatte er sich’s doch gedacht, dass die Prügelei vor dem Supermarkt Lily nicht Rache genug war. »Wird sie wieder gesund?«
»Ich denke schon.«
Der Bohrer heulte wieder auf, deshalb führte Jack Nathan in sein Büro und schloss die Tür. Selbst wenn Nathan anständig angezogen gekommen wäre, um nach einem Job zu fragen, hätte er Pech gehabt. Daisys Jungen in seiner Werkstatt zu beschäftigen wäre ein Albtraum für ihn gewesen, da er bei seinem Anblick stets an Daisy und sich selbst denken müsste. Und wie süß die Erinnerung auch sein mochte, es war vorbei und musste vergessen werden.
»Dein Dad und ich waren mal gute Freunde. Es hat mich sehr getroffen, als ich gehört habe, dass er gestorben ist.«
Nathan stützte die Spitze seines Skateboards neben seinem schwarzen Turnschuh auf und lehnte es an sein Bein. Bei genauerem Hinsehen erkannte man eine spärlich bekleidete Krankenschwester auf der Unterseite des Boards. »Ja. Er war ein prima Dad. Und er fehlt mir sehr.«
Als Jack seinen Vater verloren hatte, war er nicht viel älter als Nathan gewesen. Er wusste, wie das war. Dem Jungen etwas mit auf den Weg zu geben konnte wohl nicht schaden. »Hat er dir auch erzählt, wie viel Unsinn wir beide, er und ich, angestellt haben?«
Nathan nickte, so dass sein Lippenring im Licht der Neonlampe aufblitzte. »Er hat mir erzählt, wie Sie und er faule Tomaten geklaut und Autos damit beworfen haben.«
Steven war blond gewesen wie ein kalifornischer Surfer. Vielleicht lag es an der Frisur, aber dieser Junge sah nicht aus wie Steven in seinem Alter. Ganz und gar nicht. Und mit seiner Mutter hatte er ebenfalls keine große Ähnlichkeit. Die Mundpartie vielleicht. Na ja, abgesehen von dem Ring. »Wir haben uns im Garten eine Festung in einem Baum gebaut. Hat er davon auch erzählt?«
Nathan schüttelte den Kopf.
»Wir haben den ganzen Sommer dafür gebraucht. Unser Baumaterial bestand aus geklautem Holz und Pappkartons. « Er lächelte in der Erinnerung daran, wie sie die Sachen meilenweit nach Hause geschleppt hatten. »Deine Mom hat auch mitgeholfen. Gerade als wir fertig waren, hat ein Twister alles weggerissen.«
Nathan lachte und wies mit dem Kopf in Richtung Tür. »Ist das da draußen ein ’Cuda 440 – 6?«
»Ja, er hat noch den Original-426 Hemi.«
»Krass. Wenn ich einen Job kriege, kaufe ich mir einen Dodge Charger Daytona mit einem 426 Hemi.«
Jetzt war es an Jack zu lachen. Er setzte sich neben seine Buick-Riviera-Uhr auf die Schreibtischkante. Er wollte dem Jungen nicht die Laune verderben, aber insgesamt waren nur ungefähr siebzig Daytonas mit einem 426 Hemi produziert worden. Falls er einen aufspürte, würde er locker 60 000 Dollar dafür hinblättern müssen. »Viergang, stimmt’s?«
»Ja.«
Jack trank einen Schluck von seinem Kaffee. Klar. Damit hatte der Junge seine Chancen noch einmal verringert, denn Dodge hatte nur etwa zwanzig Viergang-Modelle gebaut.
»Ich hab auf einer Autoausstellung in Seattle mal einen gesehen.« Nathan schluckte, und seine Stimme brach vor Aufregung. »Der Daytona hat dreizehn Jahre lang den Kurzstreckenrekord gehalten. Ford und Chevy hatten keine Schnitte.«
Himmel, er war genau wie Billy – und wie Jacks Vater Ray früher. Geschwindigkeitsbesessen. Jack liebte schnelle Autos ebenfalls, aber nicht so wie diese beiden. Wie hatten Daisy und Steven es hingekriegt, einen Autofreak zu produzieren?
»Kennen Sie ›Monster Garage‹?«
»Ich schau mir die Sendung gelegentlich an.« Billy war der »Monster Garage«-Fan in der Familie.
»Haben Sie die Folge gesehen, in der sie eine Seifenkiste zu einem Rennwagen umgebaut haben?«
»Nein, die habe ich verpasst.« Doch Billy hatte ihm alles bis ins letzte Detail berichtet.
»Das war mörder.«
Mörder? Jack vermutete, dass es gut bedeuten sollte.
Billy steckte den Kopf zur Tür herein. »Wir haben ein Problem mit dem Luftfilter des alten Plymouth.«
Irgendein Problem gab es immer, und Jack hatte schon lange gelernt, sich deswegen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Billy, komm rein, damit ich dir Steven und Daisy Monroes Sohn vorstellen kann. Das ist Nathan.«
Billy gehorchte und schüttelte dem Jungen die Hand. »Es hat mir sehr Leid getan, hören zu müssen, dass dein Vater gestorben ist. Er war ein prima Kerl«, meinte er.
Nathan starrte auf seine Schuhe. »Ja.«
»Billy ist ganz verrückt nach ›Monster Garage‹«, erklärte Jack, und schon entbrannte eine Diskussion darüber, welche Folgen die besten und welche weniger gelungen waren.
»Als sie den PT Cruiser zu einem Häcksler umgebaut haben, das war lahm«, meinte Nathan.
»Jesse James war auch nicht begeistert, bis sie angefangen haben, ausgestopfte Tiere durch den Häcksler zu jagen.«
»Ja, heh-heh-heh«, lachte Nathan und legte den Kopf leicht in den Nacken. »Alles war voller Sägemehl.«
»Hast du gesehen, wie die Barbiepuppe drin stecken geblieben ist?« Billys Augen blitzten amüsiert, und er brach ebenfalls in Gelächter aus – eine rasche Folge von Heh-heh-hehs.
Großer Gott, dachte Jack, Billy hat endlich jemanden gefunden, der genauso versessen auf »Monster Garage« ist wie er selbst.
»Hast du die Folge mit dem Sensenmann gesehen?«, wollte sein Bruder wissen.
»Ja, das wäre mörder gewesen, wenn es funktioniert hätte. «
Billy schüttelte den Kopf. »Der Keilriemen ist gerissen und die Pumpe zu heiß geworden, bevor sie auch nur einen Zylinder so weit hatten, dass er die hydraulischen Arme bewegen konnte.«
»Ich habe gehört, der Leichenwagen sei verhext gewesen, und deswegen hätte es nicht funktioniert.«
»Es hat nicht funktioniert, weil die Hydraulik versagt hat.«
»Hast du Jesse gesehen, als der Notarztwagen in Brand geraten ist?«, fragte Nathan, und seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Das war cool.«
»Das ist meine Lieblingsfolge.«
»Hast du gesehen, wie seine Frau ihn angebrüllt hat?«
Beide brachen in johlendes Gelächter aus. Billys Stimme war tiefer, trotzdem konnte Jack nicht leugnen, wie sehr sich ihr Lachen ähnelte. Das gleiche Heh-heh-heh, und beide warfen auf die gleiche Art den Kopf zurück. Je länger er die beiden betrachtete, während sie nebeneinander standen und sich über »Monster Garage«-Episoden ausließen, desto deutlicher blickte er hinter Nathans Igelfrisur und den Lippenring.
Und innerhalb einer einzigen Sekunde geriet Jacks Welt aus den Fugen. Seine Nackenhaare sträubten sich, seine Kopfhaut prickelte. Die Zeit blieb stehen, brach in der Mitte auseinander und fiel in zwei Hälften zu Boden.
Gerade eben noch war in Jacks Leben alles in bester Ordnung gewesen, und jetzt stimmte überhaupt nichts mehr. Gerade eben noch hatte er seinen Bruder und Nathan beobachtet und Ähnlichkeiten festgestellt, und nun sah er eine fünfzehnjährige Ausgabe seines Vaters, Ray Parrish, vor sich. Gerade eben noch hatte er auf der Kante seines Schreibtisches gesessen, und jetzt fuhr er so abrupt hoch, dass der Kaffee auf sein Hemd spritzte und er sich die Haut auf der Brust verbrühte. »Großer Gott!«
»Was ist los?«, fragte Billy.
Jack konnte den Blick nicht von Nathan lösen. Er betrachtete die Form seines Gesichts und der Nase, und es war unmöglich, die Uhr um ein paar Sekunden zurückzudrehen. Er stand eindeutig vor einer jüngeren Ausgabe seines Vaters. Es war so offensichtlich, dass er sich nur fragen konnte, warum er es nicht sofort bemerkt hatte. »Du bist nicht hergekommen, weil du einen Job suchst, oder?«
Nathans Lächeln verschwand, und er hob sein Skateboard auf. »Nein.«
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Daisys Beharren darauf, dass sie reden müssten. Dass sie ihm etwas zu sagen hätte. Etwas, was sie ihm nicht am Telefon oder in einem Brief oder bei einer Pizza im Showtime mitteilen konnte. Etwas so Wichtiges wie ein Sohn, zum Beispiel. Es war, als hätte ihm jemand einen Tritt in den Magen versetzt. »Wann ist dein Geburtstag?«
»Ich muss jetzt los.«
Jack streckte die Hand aus und hielt Nathan am Ärmel fest. »Sag’s mir.«
Nathan riss die Augen auf und ließ das Skateboard fallen. Er wollte zurückweichen, doch Jack ließ nicht los. Er konnte nicht loslassen.
»Im Dezember«, antwortete er schließlich.
Jack zog ihn noch näher zu sich heran. »Und du bist fünfzehn Jahre alt, stimmt’s?«
Er sah Nathans Adamsapfel hüpfen, als er versuchte zu schlucken. »Ja«, sagte er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
Jack war sich vage darüber bewusst, dass er Nathan Angst einjagte und ihn gehen lassen sollte. Er sollte sich beruhigen, doch er konnte es nicht. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher, bis er das Gefühl hatte, dass irgendetwas sein Gehirn zerquetschte. »Du kleiner Hurensohn.«
Billy packte Jack an der Schulter und schob sich zwischen ihn und Nathan. »Was ist denn in dich gefahren? Hast du den Verstand verloren?«
Ja. Er hatte den Verstand verloren. Er ließ los, und Nathan stürzte so schnell hinaus, dass es war, als hätte er nie vor ihm gestanden. Nur dass sein Skateboard noch auf dem Boden lag, die Seite mit der Krankenschwester nach oben.
Jack blickte ihm nach. »Hast du es denn nicht gesehen, Billy?«
»Ich sehe nur, dass du dich wie ein Verrückter aufführst. «
Jack schüttelte den Kopf und drehte sich zu seinem Bruder um. »Er sieht aus wie Dad.«
»Wer?«
»Nathan. Daisys Sohn.«
»Daisys und Stevens Sohn.«
Jack deutete auf die Tür, durch die Nathan verschwunden war. »Findest du, dass er Ähnlichkeit mit Steven hat?«
»Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht mehr genau erinnern, wie Steven ausgesehen hat.«
»Jedenfalls nicht wie unser Dad.« Er stellte den Becher auf dem Schreibtisch ab. Er hatte einen Sohn. Nein. Ausgeschlossen. Er hatte immer verhütet. Aber mit Daisy nicht jedes Mal. Sie waren jung und dumm gewesen und hatten noch geglaubt, ihnen könne nie etwas passieren. »Sie war schwanger, als sie die Stadt verlassen hat, und sie hat mir kein Wort davon gesagt.«
Billy hob die Hände. »Moment mal. Ich habe ja nicht mal gewusst, dass zwischen euch beiden damals etwas gelaufen ist. Und selbst wenn es so war, woher willst du wissen, dass er dein Sohn ist?«
»Du hörst mir nicht richtig zu.« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Es gibt ein Foto. Ein Bild von Dad bei seinem Highschool-Abschluss. Er sieht genauso aus wie dieser Junge.« Er ließ die Hände sinken. »Deswegen ist sie hier.« Er sprach seine Gedanken laut aus, als ergäben sie so eher einen Sinn, während sie in Wahrheit völlig absurd waren. »Um mir von ihm zu erzählen.«
»Das ist doch Wahnsinn. Er ist fünfzehn.«
Ja. Es war Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn, sich vorzustellen, dass er einen fünfzehnjährigen Sohn hatte. Einen Sohn, von dem er nichts gewusst hatte, weil ihm nie jemand etwas von ihm gesagt hatte. »Ich habe Recht, Billy.«
Billy trat vor ihn und sah ihm fest in die Augen. »Du solltest lieber ganz sicher sein, dass du Recht hast, bevor du den Jungen noch mal anfasst und ihm einen Heidenschrecken einjagst. Du weißt nicht mit Sicherheit, ob er dein Sohn ist, aber selbst wenn er es sein sollte, weiß er es vielleicht nicht.«
Billy hatte Recht. »Ich wollte ihm keine Angst einjagen.«
Er registrierte eine Bewegung hinter Billys Rücken. Penny stand im Türrahmen. Er schob sich an seinem Bruder vorbei. »Ich muss für eine Weile weg«, sagte er im Vorbeigehen zu seiner Sekretärin.
Er verließ die Werkstatt durch die Hintertür, ging zum Haus hinüber und betrat eines der Gästezimmer, das früher einmal Billys Zimmer gewesen war. Dort öffnete er den Schrank, in dem sich Kisten stapelten, nahm eine nach der anderen heraus und kippte den Inhalt auf den Boden. Alte Erinnerungsstücke und Zeitschriften, Andenken an seine und Billys Kindheit, die seine Mutter sorgfältig aufbewahrt hatte, lagen im ganzen Zimmer verstreut.
»Was suchst du denn?«, fragte Billy und griff nach einer der Kisten.
Jack hatte nicht einmal bemerkt, dass Billy ihm gefolgt war. »Moms und Dads Hochzeitsalbum. Das Foto ist in ihrem Album.«
In der fünften Kiste fanden sie schließlich das Album. Der Einband war mit Spitze und Seidenblumen verziert, diesem Mädchenkram, den seine Mutter so gemocht hatte. Die Spitze war vergilbt, die Blumen platt gedrückt. Jack schlug das Album auf. Das Zellophan über den Seiten klebte nicht mehr richtig, so dass sich die Fotos übereinander schoben. Das Bild, nach dem Jack suchte, fiel heraus. Er ging in die Knie und hob das Schwarzweißfoto seines Vaters im Alter von siebzehn Jahren auf. Auf einer Ecke des Fotos stand mit inzwischen verblasster Tinte Meinem liebsten Mädchen Carolee. In Liebe, Ray.
Jack stand auf und starrte auf das Foto. Er hatte es sich nicht eingebildet. Hätte sein Vater auf dem Foto eine Igelfrisur und einen Lippenring, sähe er Nathan Monroe verdammt ähnlich. Aber der Junge war nicht Nathan Monroe. Er war ein Parrish.
Billy trat hinter Jack und sah ihm über die Schulter. Sein Pfiff hallte laut von den Wänden des leeren Zimmers wider. »Ob Steven es gewusst hat?«
Jack zuckte die Achseln. Daisy war im dritten Monat schwanger gewesen; irgendwann musste es Steven klar geworden sein. Er verließ das Gästezimmer und ging den Flur entlang in die Küche. Dort öffnete er einen Schrank und zog Stevens Brief zwischen den Kaffeebechern hervor, wo er ihn am Sonnabend hingelegt hatte. Das Foto von seinem Vater noch in der Hand, riss er den Umschlag auf und las:
Jack,
bitte verzeih meine Handschrift und die Fehler. Je weiter meine Krankheit fortschreitet, desto schwerer fällt es mir, mich zu konzentrieren. Ich hoffe von Herzen, dass du diesen Brief nie zu sehen bekommst. Dass ich die Krankheit besiege und dir all diese Dinge persönlich sagen kann, wenn ich wieder gesund bin. Für den Fall, dass das nicht so ist, möchte ich meine Gedanken niederschreiben, bevor ich nicht mehr dazu in der Lage bin.
Als Erstes will ich dir sagen, dass du mir gefehlt hast, Jack. Ich weiß nicht, ob ich dir auch gefehlt habe und ob du mir verziehen hast, aber ich habe meinen Freund vermisst. So oft wollte ich dich in den letzten fünfzehn Jahren anrufen und mit dir reden. So oft musste ich beim Gedanken an all den Unsinn, den wir angestellt haben, in mich hineinlachen. Neulich habe ich zwei Jungen im Regen auf ihren Fahrrädern gesehen und musste an die Zeiten denken, als wir bei regelrechten Wolkenbrüchen mit den Fahrrädern unterwegs waren. Auf der Suche nach den tiefsten Pfützen in Lovett herumgekurvt sind. Oder an die Zeiten, als wir auf dem Sofa meiner Mutter gesessen, uns die alten Andy Griffith Shows angesehen und uns vor Lachen gekrümmt haben, als Barney sich im Gefängnis eingesperrt hatte. Ich glaube, wenn ich so still für mich allein lache, fehlst du mir am meisten. Und ich weiß, dass es meine Schuld ist. So oft habe ich mich einsam gefühlt, weil ich dich, meinen besten Freund, verloren habe.
Ich habe nie den Tag vergessen, an dem wir uns zum letzten Mal gesehen haben, auch nicht die schrecklichen Dinge, die wir uns an den Kopf geworfen haben. Ich habe Daisy geheiratet, und du hast sie geliebt. Aber ich habe sie auch geliebt, Jack. Ich liebe sie immer noch. Nach all diesen Jahren liebe ich sie immer noch genauso wie am Tag unserer Hochzeit. Ich weiß, dass sie mich liebt. Ich weiß, dass sie mich immer geliebt hat, und trotzdem hat sie manchmal diesen wehmütigen Blick, und dann frage ich mich, ob sie in diesen Augenblicken an dich denkt. Ich frage mich, ob es ihr Leid tut, dass sie sich entschieden hat, mit mir nach Seattle zu ziehen. Ich frage mich, ob sie sich ausmalt, wie ihr Leben an deiner Seite ausgesehen hätte, und ob sie dich noch genauso liebt wie damals. Falls es ein Trost für dich ist, sollst du wissen, dass ich meine eigene kleine Hölle durchlebt habe, weil ich weiß, wie sehr sie dich geliebt hat und es vielleicht immer noch tut.
Am Tag unserer Abreise aus Lovett war Daisy im dritten Monat schwanger, mit deinem Kind. Inzwischen wird sie dir all das bereits erzählt haben. Als sie zu mir gekommen ist und es mir gesagt hat, hatte sie große Angst und glaubte, du liebst sie nicht mehr. Ich habe sie in dem Glauben gelassen, obwohl ich vermutet habe, dass es nicht stimmte. Sie dachte, es sei das Beste, dir nichts von dem Kind zu sagen, weil sie glaubte, die Verantwortung für ein Kind wäre zu viel für dich. Auch in diesem Punkt habe ich ihr nicht widersprochen. Ich habe zu ihr gesagt, sie hätte bestimmt Recht, du könntest es nicht, obwohl ich wusste, dass es nicht stimmte. Ich wusste, dass du alles schaffst, was du dir in den Kopf setzt. Also habe ich sie geheiratet und sie dir weggenommen. Ich weiß, ich sollte bereuen, was ich getan habe, aber das kann ich nicht. Ich bereue nicht einen Tag, den ich mit ihr und Nathan verbracht habe. Aber ich bereue die Art und Weise, wie es dazu gekommen ist, und dass wir dir nicht schon früher von Nathan erzählt haben.
Nathan ist ein guter Junge. Er ist dir sehr ähnlich. Furchtlos und ungeduldig, und er frisst alles in sich hinein. Ich weiß, dass Daisy als Mutter ihr Bestes geben wird, aber ich glaube, er braucht dich. Es war wunderschön für mich, ihn heranwachsen zu sehen, und von allem, was ich im Leben bedaure – und das ist nicht gerade wenig –, bedaure ich am meisten, dass ich nicht miterlebe, wie er zum Mann wird. Das hätte ich so gern gesehen.
Bevor ich zum Ende komme, bitte ich dich, mir zu verzeihen, Jack. Vielleicht ist es zu viel verlangt, aber ich tue es trotzdem. Ich bitte darum, damit du deine Verbitterung überwinden und dein Leben unbeschwerter weiterführen kannst. Und auf einer rein egoistischen Ebene bitte ich um Verzeihung, damit ich mit reinem Gewissen sterben kann. Und damit wir uns, wenn wir uns einstmals im Jenseits wiedersehen, als Freunde in die Arme schließen können. Ich würde es verstehen, wenn du nicht bereit wärst, mir zu verzeihen. Ich weiß nicht, ob ich dir vergeben würde, wenn ich an deiner Stelle wäre. Ich habe dir viel genommen, Jack. Aber vielleicht kannst du hin und wieder zurückblicken und dich an dem Spaß freuen, den wir gemeinsam hatten.
Steven
Der Brief und das Foto von seinem Vater fielen auf die Arbeitsplatte. Jack rang nach Luft, innerlich völlig zerrissen, genauso wie vor fünfzehn Jahren.
»Ist er dein Sohn?«
Jack nickte.
»Das ist verdammt mies«, sagte Billy. »Sie ist ein verdammt mieses Weibsstück.«
All die Jahre hatte er sich verraten gefühlt, weil sein bester Freund seine Freundin geheiratet hatte. Dabei hatte er noch nicht einmal die Hälfte des Verrats gekannt. Es war ihm nicht im Traum eingefallen, dass sie sein Kind mitnahmen, als sie die Stadt verließen. Er hätte sich niemals träumen lassen, dass ihr Verrat so weit ging.
»Was willst du jetzt tun?«
Er knöpfte sein Hemd auf und zog es aus dem Hosenbund. »Mit Daisy reden.«
»Dann fall vielleicht lieber nicht mit der Tür ins Haus, indem du sie gleich anbrüllst.«
»Hast du nicht gerade gesagt, sie wäre ein mieses Weibsstück? «
»Das ist sie auch. Ich werde dich nicht mal fragen, ob du an Nathans Leben teilhaben möchtest, weil ich dich genau kenne. Ich weiß, wie du bist. Ich weiß, dass du zutiefst verletzt und wütend bist, und du hast jedes Recht dazu, verdammt noch mal. Aber sie ist seine Mutter, und sie könnte ihn einfach wieder nehmen und gehen.«
Jahrelang hatte er alles verdrängt und in sich verschlossen. Zum Schutz gegen Schmerz und Wut hatte er eine Mauer um sich errichtet. Seit Daisys Rückkehr hatte diese Mauer ein klein wenig zu bröckeln begonnen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was an diesem Morgen geschehen war. An diesem Morgen war die Mauer, die er um sich errichtet hatte, zu Staub zerfallen.
»Jack, versprichst du mir, dass du nicht völlig ausflippst? «
Er dachte nicht daran, irgendetwas zu versprechen.