Zurückgespult

Aus der Anlage dröhnen die Bässe. Lindsay kreischt los und beugt sich vor, um den Lautstärkeregler hochzudrehen – es ist ihr Lieblingslied. Die Jungs lachen und Rob legt die Füße aufs Armaturenbrett. Ich grinse, als ob ich jede Menge Spaß hätte, während ich auf dem Rücksitz hocke – eingezwängt von Lindsay, die tanzend auf meinen Knien herumhopst, und von Charlotte und Sarah, die links und rechts neben mir sitzen. Ich wünschte, Steven würde langsamer fahren. Das Auto liegt schräg auf der Landstraße und mir wird ganz flau im Magen. Ich finde wirklich, er sollte nicht so rasen.

Charlotte kichert, beugt sich über die Rückenlehne und strubbelt durch Robs Haare. Sie mag ihn, das ist offensichtlich. Er dreht einen Joint, nimmt einen Zug und reicht ihn an sie weiter. Sie inhaliert den Rauch ganz tief. Ein Schaudern überläuft mich. Mum und Dad würden ausflippen, wenn sie wüssten, dass ich mit Leuten im Auto sitze, die Drogen nehmen. Und wenn sie mich in Lindsays schulterfreiem Top und in dem kurzen Rock sehen könnten. Charlotte will mir den Joint geben, aber ich schüttle den Kopf.

Sie zuckt mit den Schultern, verzieht verächtlich das Gesicht. Lindsay schnappt sich den Joint und nimmt ein paar Züge, bevor sie ihn weiterreicht.

Der Wagen fliegt um die Kurven, als säßen wir in einer Achterbahn auf dem Jahrmarkt.

Irgendwie wäre ich lieber zu Hause auf dem Sofa vor dem Fernseher mit Mum, Dad und Charlie. Als die Cidreflaschen im Auto rumgehen, trinke ich genauso viel wie alle anderen, damit sie nicht über mich lachen, weil ich die Jüngste und nur ein albernes kleines Mädchen bin. Meine Augenlider fühlen sich von der Wimperntusche, die Lindsay vorhin aufgetragen hat, komisch und schwer an. Ich weiß nicht, wer dieses Mädchen ist. Es ist jedenfalls nicht die Jenna, die jeden Abend den Geschirrspüler einräumt und Charlie hilft, seine Warhammer-Figuren anzumalen.

Ich trinke noch mehr Cidre, aber das beantwortet meine Fragen nicht, sondern verstärkt nur das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben muss.

Lindsay lehnt sich nach vorn und küsst Steven auf den Hals. Mit geöffnetem Mund. Sie saugt sich richtig fest. Morgen hat er dort einen Knutschfleck.

Rob lacht. »Mann, sucht euch doch ein Hotel!«

Und Steven gibt ihm einen Wink, damit er das Steuer übernimmt, während er selbst sich umdreht, um Lindsay zu küssen.

Der Wagen bricht plötzlich aus und mein Magen krampft sich zusammen.

Sarah ist still, vielleicht ärgert sie sich, dass Charlotte hinter Rob her ist und deshalb keiner für sie übrig bleibt.

Lindz jauchzt auf, als Steven das Steuer wieder übernimmt und das Gaspedal durchtritt. Der Wagen macht einen Satz nach vorn und rast schneller und schneller die Straße entlang. Auf gerader Strecke reißt Steven die Arme nach oben. Er steuert mit den Knien, dreht das Lenkrad nach links und dann nach rechts. Wir Mädchen schreien und lachen gleichzeitig. Ich muss mich allerdings zum Lachen zwingen.

Irgendetwas Weißes flattert direkt vor der Windschutzscheibe vorbei. Steven stößt einen Schrei aus und das Auto steuert auf eine Hecke zu.

Eine Eule!

Er packt das Lenkrad und wir quieken vor Erleichterung. Mein Herz beruhigt sich langsam, obwohl mir so übel ist wie nie zuvor in meinem Leben.

»Weichei«, verspottet ihn Rob, und im Rückspiegel sehe ich, wie sich Stevens Gesichtszüge verhärten. Seine Augen funkeln und er tritt voll aufs Gaspedal.

Wir fahren mit Formel-1-Geschwindigkeit. Im Vorbeirasen bemerke ich im Lichtstrahl der Autoscheinwerfer den Raureif auf den Hecken.

Wir schießen um eine weitere Kurve und dann den Berg runter Richtung Harton Brook. Noch eine Kurve und noch eine. Die Tachonadel steht auf 110 km/h und wir Mädchen schreien jetzt richtig. Stevens Fingerknöchel sind ganz weiß und Rob nimmt seine Füße vom Armaturenbrett.

Wir rasen über die Brücke in die Kurve, die direkt dahinter kommt. Der Bass dröhnt in meinen Ohren.

Und plötzlich … fühlt sich der Wagen unter mir anders an. Die Räder … sie rutschen und drehen durch.

Die Schlaglöcher auf der Straße … ich kann sie nicht mehr spüren.

Wir schweben.

Und dann fällt es mir ein. Mir fällt ein, wie Mum Dad immer damit nervt, dass er hier langsam fahren soll.

»Hier gibt es Bodenfrost. Hier ist Glatteis«, sagt sie immer.

Plötzlich fängt Rob an zu schreien und Sarah kreischt los. Ich weiß endlich, warum sich das Auto unter mir so komisch anfühlt. Wir fahren nicht mehr, wir schlittern hin und her.

Steven brüllt: »Scheiße! Scheiße!«

Der Wagen kommt von der Straße ab, stürzt den steilen Abhang hinunter und landet auf dem Feld. Jetzt schlittern wir nicht mehr, und meine Knochen klappern, als ob sie alle in Stücke brechen.

Bumm … bumm … bumm dröhnt es aus der Anlage.

Schreie.

Unglaublich laut.

Als sich das Auto überschlägt, werde ich nach oben katapultiert.

Und wieder nach unten geschleudert.

Wir überschlagen uns noch einmal und mein Kopf knallt gegen das Dach.

Alles wird schwarz.

 

Kohlrabenschwarz.

Es ist unglaublich dunkel.

Aber keine geborgene Dunkelheit wie unter meiner Bettdecke. In meinem kleinen Zimmer.

Diese Dunkelheit erstickt mich.

Aber sie lässt die Schreie durch.

Ohrenbetäubend.

Die Schreie holen mich aus der Schwärze zurück. Ich werde ans Autodach gepresst. Wir liegen kopfüber auf dem Feld. Charlotte hängt ganz komisch über dem Rücksitz, ihr Kopf ragt halb aus der Heckscheibe heraus. Blut tropft die Bruchkante der Scheibe entlang. Ihre Beine pressen mich gegen das Dach und ich kann mich nicht bewegen. Meine Arme stecken unter ihr fest. Ich schiebe, aber sie rührt sich nicht.

Da steigt mir ein scharfer, bitterer Geruch in die Nase. Ich kenne ihn, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, woher.

Lindsay sitzt nicht mehr auf meinem Schoß. Sie wurde nach vorn zwischen die Sitze geschleudert. Ihre Augen starren nach oben, sind weit geöffnet und glasig. Leblos.

Ich frage mich, warum es so hell ist, warum ich Lindz sehen kann. Panik steigt in mir hoch.

Ich weiß, warum.

Kleine Lichtspiralen – orange Flämmchen – züngeln in meine Richtung.

Der beißende Geruch von Verbranntem.

Nun sind es meine Schreie.

Die Flammen erreichen mich. Ich kann mich nicht bewegen, bekomme die Arme nicht frei. Sie streicheln meine Haut mit weiß glühender Feuerqual.

Der Schmerz … mein Gott … der Schmerz.

Es scheint ewig zu dauern.

Eine Stimme brüllt, schluchzt: »Halt durch, ich hol dich raus.« Eine Hand packt mein Bein und zieht schnell und fest daran, zerrt mich weg von den Flammen. Und unter Charlottes Körper hervor.

Rob zieht mich durch die Tür. »Tut mir leid, tut mir so leid, ich hab sie nicht rechtzeitig aufgekriegt.« Ein Arm baumelt nutzlos an seiner Seite herab. Er schlingt mir den anderen Arm um die Taille und schafft mich halb ziehend, halb tragend weg.

Ich merke, dass ich vor Schmerz wimmere und nicht damit aufhören kann. Noch nie hat etwas so wehgetan.

Er bricht mit mir auf der Wiese zusammen. Steven sitzt zusammengekrümmt neben uns, er schaukelt auf seinen Knien vor und zurück. Auch Sarah ist da, sie schluchzt und hält sich den Kopf.

Rob sieht mich an. »Oh mein Gott, oh …« Und dann fängt auch er an zu weinen.

Als der Wagen explodiert, lasse ich mich wieder zurück in das Dunkel gleiten.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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