30_Ryan
Mum war überrascht, mich so schnell wiederzusehen. »Ich dachte, du wolltest zur Arbeit.«
»Ich habe gerade da angerufen und alles erklärt. Guck mal aus dem Fenster.«
Sie hob den Vorhang und spähte hinaus. »Wohin soll ich gucken?«
»Hoch zur Brücke.«
Sie reckte den Hals. »Polizei? Was ist los?«
»Sie haben eine Leiche gefunden. Der Polizist hat mich nach Hause geschickt. Sie kommen, um uns zu befragen, ob wir irgendwas gesehen haben.«
Mum ließ den Vorhang fallen und starrte mich mit offenem Mund an. »Wessen Leiche?«
»Keine Ahnung. Sie haben mich nicht hochgelassen.«
Ihr Gesicht wurde blass. »Setz dich hin.«
Verwirrt setzte ich mich in den Schaukelstuhl und sah zu, wie sie hin und her lief und dabei mit ruhelosen Fingern an ihren Ärmeln zupfte.
»Wo warst du letzte Nacht?«
»Hab ich dir doch gesagt. Drüben in Jennas Stall.«
»Die blauen Flecken hast du dir aber nicht im Stall geholt. Oder willst du mir erzählen, dass dich das Pferd getreten hat?«
Ich legte meine Hand auf den Schnitt in meinem Gesicht, und mir fiel ein, wie der Blick des Polizisten daran hängen geblieben war.
»Was ist passiert, Ryan? Erzähl es mir ganz genau.«
»Ich bin zum Dorfladen und habe mir eine Flasche Wodka gekauft.«
»Haben sie denn nicht nach deinem Personalausweis gefragt?«
»Äh, ja … aber … ich hab mich der Frau gegenüber ziemlich arschig verhalten, deshalb hat sie ihn mir einfach so verkauft.«
Mum hielt sich eine Hand vor den Mund. »Ach du liebe Güte! Und weiter?«
»Dieser Typ aus dem Dorf hat sich auf mich gestürzt.«
»Was für ein Typ?«
»Einfach nur ein Junge. Er hat mich schikaniert, weil ich mich mit Jenna treffe. Er ist ein Arschloch. Also haben wir uns geprügelt.«
Sie umklammerte die Stuhllehne. »Hat dich jemand gesehen?«
»Eine Frau kam aus einem Haus und hat uns angebrüllt und er ist weggelaufen. Ich glaube nicht, dass sie uns erkennen konnte. Es war dunkel. Dann habe ich auf dem Weg zu Jenna den Wodka ausgetrunken und im Stall meinen Rausch ausgeschlafen.«
»Das war alles?«
»Das war alles, Mum, ehrlich. Warum schaust du so besorgt?«
Sie vergrub den Kopf in den Händen. »Sie haben eine Leiche gefunden. Du hast eine Schnittwunde im Gesicht und wir sind Fremde. Ohne festen Wohnsitz. Du weißt, wie die Polizei auf so was reagiert. Und trotzdem stellst du mir diese dämliche Frage.«
»Nur weil ich mich geprügelt habe, habe ich noch lange keinen umgebracht. Wer sagt überhaupt, dass es Mord war? Vielleicht war es ein Unfall?«
»Das ist völlig egal. Du hast einer Frau Angst eingejagt. Du hast dich geprügelt. Sie werden herkommen und alles auf den Kopf stellen.« Sie holte tief Luft. »Erzähl ihnen, du bist losgegangen, um den Wodka für mich zu kaufen. Und dann bist du sofort nach Hause gekommen. Sag nichts von der Prügelei. Wenn sie fragen, was mit deinem Gesicht ist, bist du vom Fahrrad gefallen. Nachdem du vom Laden zurück warst, waren wir den ganzen Abend zusammen auf dem Boot. Wir haben nichts gehört oder gesehen.«
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst? Vielleicht ist gar nichts –«
In zwei Schritten war sie bei mir und schlug mir ins Gesicht. »Ich übertreibe? Kapierst du nicht, wie viel Ärger uns das bringen kann? Manchmal bist du so naiv, Ryan. Wenn sie uns für irgendwas die Schuld geben können, dann werden sie das tun.« Sie starrte auf die Stelle in meinem Gesicht, wo ihre Hand einen brennend roten Abdruck hinterlassen hatte. »Geh in dein Zimmer! Geh einfach!«
Sie hatte mich noch nie geschlagen. Und als sie mich das letzte Mal in mein Zimmer geschickt hatte, war ich neun gewesen. Ich stand auf und ging. Manchmal war eine Diskussion angebracht und manchmal nicht.
Das war alles bescheuert. Vielleicht war jemand betrunken in den Kanal gefallen. Oder hatte sich das Leben genommen. Mum war paranoid, wahrscheinlich gehörte das zu ihrer Krankheit. Doch dann dachte ich wieder an den Blick, mit dem der Polizist mein Gesicht gemustert hatte …
Wenn ich nicht die ganze Nacht auf dem Boot gewesen war, hatte ich kein Alibi. Jennas Eltern durften nicht herausfinden, wo sie die Nacht verbracht hatte …
Ich setzte mich aufs Bett und schickte ihr eine SMS.
»Wir müssen reden. Ruf mich an, wenn du kannst.«
Ich wartete, doch es kam keine Antwort. Entweder schlief sie oder sie war nicht allein. Ich legte mich hin, schaute auf das Display, wartete weiter und versuchte, das Unbehagen, das mich plötzlich überkam, nicht zu beachten.