Vorgespult
Die Sonne weckt mich früh am Morgen. Beim Blick durchs Fenster lächle ich – Nebelfetzen und dahinter blauer Himmel. Es ist Samstag und das ganze Wochenende liegt vor mir.
In diesem Moment habe ich das Haus ganz für mich allein, und ich lausche der Stille, die nur vom Zwitschern der Vögel unterbrochen wird. In einer halben Stunde werde ich aufstehen, Raggs rauslassen und das Frühstück vorbereiten. Ich werde spazieren gehen und vielleicht einen langen Ausritt machen. Bis dahin sitze ich einfach da und höre dem Morgen zu.
Als ich vom Ausritt zurück bin, will Mum, dass ich mit ihr nach Whitmere fahre. Auf halber Strecke summt mein Handy.
»Hast du nachher Zeit?«
Ich starre wie gebannt auf das Display. Auf den Absender. Dann schreibe ich: »Ja.«
»Am Kanal. 15:30. Wenn du kannst.«
Ich starre und starre. Sind sie irgendwohin unterwegs und kommen hier vorbei? Ich kann nicht glauben, dass sie zurückkommen, um zu bleiben. Ich kann diesen Gedanken nicht zulassen. Wenn ich es tue und sie bleiben nicht, dann würde mich das wieder total fertigmachen. Ich schreibe zurück: »Okay.«
Und plötzlich ist der Tag gefüllt mit Erwartung und der Qual des Wartens.
Als es endlich so weit ist und ich runter zum Kanal gehe, bleibe ich kurz vor dem Pfad stehen und spähe durch die Zweige. Aber da ist kein Boot, nur das rostbraune Wasser, so weit das Auge reicht.
Ich blicke auf die Uhr. Es ist drei und die Sonne hängt schwer und träge am Himmel. Ich weiß mittlerweile, wie schnell ein Hausboot fahren kann. Wenn sie wirklich auf dem Weg hierher wären, müsste ich sie schon sehen.
Ich sitze mit dem Rücken an eine Erle gelehnt da und warte und warte.
Der Minutenzeiger auf meiner Uhr kriecht vorwärts, aber ich kann in der Ferne kein Boot erkennen.
Ich frage mich, ob alles ein schlechter Scherz ist. Hat er sich so sehr verändert, dass er mir das antut? Seit sechs Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er jetzt ein völlig anderer Mensch – jemand, der sich nicht mehr um diejenigen sorgt, die ihn brauchen.
Vielleicht stecken sie an einer Schleuse fest. Aber würde er dann nicht anrufen?
Das Summen der Insekten über dem Wasser und das Vogelgezwitscher aus den Bäumen werden vom Dröhnen eines Motorrads übertönt. Ich nehme das neue Geräusch nur mit halbem Ohr war. Bestimmt eine von diesen kleinen Maschinen, auf denen die Jungs von den Bauernhöfen immer rumfahren. Wahrscheinlich ist jemand unterwegs zum Melken.
Das Motorrad bleibt auf der Brücke stehen und der Fahrer macht den Motor aus.
Überrascht drehe ich mich um.
Eine Gestalt kommt die Stufen herunter. Jeans, schwere Stiefel, unter dem einen Arm die Motorradjacke und unter dem anderen den Helm. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen – die Sonne blendet mich. Aber ich erkenne den Gang.
Er kommt näher. Er ist größer geworden, denke ich, und hat breitere Schultern. Als er in den Schatten der Bäume tritt, sehe ich, dass er wieder die hellen Strähnen in den Haaren hat – und den honigfarbenen Hautton.
Ich kann mich nicht bewegen.
»Hallo«, sagt er, und ich merke, dass er nervös ist. Seine Augen begrüßen mich, dann blickt er zur Seite. Wieder erinnert er mich irgendwie an ein Pony, das jederzeit scheuen und davonlaufen könnte.
Mein Mund fühlt sich an, als ob ich auf einem Wattebausch herumkaue.
Er setzt sich neben mich, uns trennen nur ein paar Zentimeter. Meine Haut kribbelt, und ich möchte ihn berühren, aber ich kann mich nicht bewegen, und ich weiß nicht, ob er das will.
»Ich habe dich vermisst«, sagt er und blickt auf seine Stiefel. Die Spitzen sind zerschrammt. Arbeitsstiefel, denke ich. »Wie geht es dir?«
»Ich habe dich auch vermisst«, erwidere ich, es klingt unnatürlich, und meine Stimme scheint in meiner klebrigen Kehle festzustecken.
Er wendet mir sein Gesicht zu, auf dem sich ein Lächeln ausbreitet. Erst nur zögerlich, doch dann wird es immer strahlender. Es ist ansteckend, denn ich spüre, wie meine Mundwinkel nach oben gehen.
»Was hast du so getrieben?«, fragt er.
»Du zuerst.«
Meine Augen meiden ihn, denn seine sind auf mein Gesicht gerichtet, und das ist zu viel und doch nicht genug.
»War ziemlich beschäftigt. Es hat sich eine Menge getan. Mum geht es besser, wenigstens im Augenblick. Sie und Cole sind wieder zusammen.«
Ich lächle über diese Neuigkeit. Weil sie ganz unaufgefordert kommt.
»Sie haben das Boot verkauft und sich ein Haus angeschafft.«
Mir klappt die Kinnlade runter.
Er lacht kurz auf. »Ja, ich weiß. Ich konnte es auch kaum glauben. Es ist ein kleines Haus, aber es hat einen Garten und eine richtige Küche. Mum hat einen Laden in einem Kunsthandwerkszentrum gemietet und verkauft dort ihren Schmuck. Und Cole hat einen Job in einem Gartencenter angenommen, wo er die Kunden beliefert. Hey, wir haben sogar einen Fernseher.«
Warum bist du hier? Um mir zu sagen, dass du nie mehr zurückkommst?
»Was ist mit dir? Jetzt bist du dran.«
Ich finde meine Stimme wieder, um zu antworten. »Ach, die Prüfungen. Bin gerade fertig damit.«
»Und, alles gut gelaufen?«
»Ich glaub schon.«
»Und sonst?« Seine Augen blicken mich forschend an, und ich weiß nicht, warum.
»Ich glaube, ich komme langsam wieder in Tritt. Gehe mehr aus. Habe ein paar neue Freunde und treffe mich oft mit Beth und Max.«
»Sie sind immer noch zusammen?«
Ich nicke.
Er auch. »Das ist gut. Die beiden sind echt okay.« Er schweigt und beobachtet eine Ente, die aus dem Wasser kommt und das gegenüberliegende Ufer entlangwatschelt. »Und du? Triffst du dich mit jemandem?«
Ich schüttle den Kopf, aber er guckt noch immer auf die Ente und sieht mich nicht an. »Nein.«
»Oh.« Er blickt weiter auf die Ente. »Hast du meine Karte bekommen?«
»Ja.« Ich möchte ihn fragen … ich brauche einen Moment, doch … »Was ist mit dir? Bist du mit jemandem zusammen?«
»Nein. Hatte kein Bedürfnis.«
Eine Libelle schwirrt tief über dem Wasser und jetzt starre ich auf den Kanal.
»Ich hab meinen Job wieder«, sagt er und sieht mich an – jetzt, wo ich den Blick abwende. »Am Jachthafen. Pete hat mich wieder eingestellt und schickt mich jetzt für einen Tag in der Woche aufs College, damit ich den ganzen Elektrikkram lerne. Bill hat Arthritis und ist deswegen ein bisschen steif geworden. Sie können ein zusätzliches Paar Hände für die schwere Arbeit gut gebrauchen. Es ist ganz schön weit – das Haus ist gut dreißig Kilometer von hier entfernt –, aber Cole hat mir das Motorrad gekauft. Ich habe letzte Woche wieder angefangen.«
Ich hole tief Luft.
»Ach, und das habe ich ganz vergessen. Mum und Cole wollen ein Baby. Sie meint zwar, es klappt möglicherweise nicht mehr. Behauptet, dass sie zu alt ist, doch Cole sagt, man weiß nie und es ist einen Versuch wert. Es wäre schön, wenn sie ein Kind hätten. Er ist ein toller Vater.«
Ryan berührt meine Hand wie eine Katze, die um Aufmerksamkeit bettelt. Ganz leicht, er streift sie nur. Ich richte meine Augen wieder auf ihn.
»Als ich mich von dir verabschiedet habe, wollte ich etwas sagen, aber ich habe es nicht gesagt. Weil ich dachte, dass es doch nie passiert, und es nicht fair gewesen wäre.«
»Was denn?«
Er lächelt und streicht mir mit dem Zeigefinger über die Nase. »Du hast da ja Sommersprossen. Süß.«
Mein Herz klopft so laut gegen meine Rippen, dass ich meine, es zu hören.
»Ich wollte dir sagen, dass ich zurückkommen würde, wenn ich könnte. Aber vielleicht wäre das nie passiert. Und an diesem Tag konnte … konnte ich nicht klar denken.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich hätte mich auch dafür bedanken sollen, was du für mich getan hast. Nicht mal das habe ich gemacht.«
Einen Augenblick lang denke ich, dass er zurückscheut, doch dann nimmt er mein Gesicht zwischen seine Hände.
»Ich weiß nicht, was du willst, aber was ich will, das weiß ich. Wieder mit dir zusammen sein. Und wenn du willst, dass wir nur Freunde sind, dann verstehe ich das, und es ist in Ordnung für mich, denn es ist besser als nichts. Aber ich vermisse dich wie verrückt, und wenn du möchtest, dass es so wird wie früher, was ich gern möchte … ach, Mist, ich vermassle wieder alles.«
»Tust du nicht«, flüstere ich.
Sein Grinsen blitzt auf. »Nicht? Also, wie willst du es haben?«
»Wie es war.«
Er streichelt meine Wange. »Ganz genauso kann es wohl nicht werden, schätze ich. Ich wohne nicht mehr direkt um die Ecke, aber das beruhigt vielleicht deinen Vater ein bisschen. Ich kann dich abends nach der Arbeit besuchen, samstags habe ich früh Feierabend, und wir haben die Sonntage. Sicher, dass es dir die Mühe wert ist? Ich bin mir jedenfalls sicher.«
In meinem Kopf höre ich Lindz’ Stimme, so lachend und fröhlich wie vor dem Auszug ihrer Mutter: »Nichts wie ran, Mädchen.« Ich fasse an den Saum seines T-Shirt-Ärmels. »Wenigstens fährst du nicht halb nackt. Wenn du vom Motorrad fällst, würdest du nämlich wirklich schlimm aussehen.«
Das selbstgefällige Grinsen mit den lachenden Augen, an das ich mich so gut erinnere, erscheint auf seinem Gesicht. Er lässt mich los und zieht sein T-Shirt aus. »So besser? Hilft dir das bei der Entscheidung?«
Seine Schultern sind breiter, und er hat wieder mit nacktem Oberkörper auf der Werft gearbeitet, denn seine Haut ist überall gebräunt. Ich lasse meinen Finger über sein Schlüsselbein wandern, weil ich das jetzt darf. »Ich brauche keine Hilfe bei der Entscheidung, aber ich beschwere mich auch nicht über diesen leckeren Anblick!«
»Nennst du mich etwa lecker?« Er streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Da oben sitzt eine Amsel und beobachtet uns. Ich frage mich, ob sie das tut, um sich zu amüsieren. So wie wir Fernsehen schauen. Vielleicht sind wir ihre Daily Soap.«
Ich blicke den Vogel an, und er schaut zurück, mit schief gelegtem Kopf und glänzenden Knopfaugen.
Mit einem hämischen Kichern flüstert Ryan mir ins Ohr: »Wollen wir ihr mal was richtig Spektakuläres bieten?«
Ich nicke und er nimmt wieder mein Gesicht zwischen die Hände und küsst mich lange und sanft.
Die Amsel beobachtet uns, mich und den Bootsjungen, die Arme umeinandergeschlungen, während die Sonne auf den Flügeln der Libelle glitzert und das Wasser des Rostflusses zum Funkeln bringt.