4_Ryan

Man muss ziemlich fest schrubben, um tote Fliegen von den Fenstern abzukriegen. Besonders, wenn die zermatschten Kamikaze-Viecher schon die ganze Woche daran kleben. Ob das wohl anders wäre, wenn sich Insekten unterhalten könnten? Vielleicht würden sie einander dann leise flüsternd vor den Gefahren des Lichts warnen. Fliegt nicht dorthin, würde eine von ihnen sagen. Mein Cousin ist auch immer dem Licht nachgejagt. Er war schon immer ein Draufgänger und ständig auf der Suche nach einem neuen Kick und irgendwann kam er nicht mehr zurück.

Aber andererseits würde es vielleicht auch nichts ändern. Schließlich sind manche Menschen auch nicht weniger dämlich, nur weil sie sprechen können.

Ich hörte irgendwo am Ufer eine Mädchenstimme und blickte auf. Ein kleiner rotbrauner Köter preschte zwischen den Bäumen hervor auf mich zu und bellte wie verrückt. Er prallte gegen meinen Eimer, der in den Kanal flog, und rannte dann direkt in mich rein.

»Aua!«

Seine Pfoten kratzten über meine Beine, während er auf und ab hüpfte und kläffend um Aufmerksamkeit bettelte. Ich hockte mich hin und er sprang mir auf die Knie. »Pass auf, Kurzer. Du hast scharfe Krallen.« Seine Zunge schlabberte mir übers Gesicht. »Schon gut. Beruhig dich. Wo kommst du denn her?«

»Raggs! Komm zurück!« Wieder die Stimme, diesmal schärfer und voller Panik.

Ich verdrehte die Augen. Was, glaubte sie, würde ich mit ihm machen? Ihm den Hals rumdrehen und ihn in den Kanal werfen? Hilfe – geisteskranker Hausboot-Hundemörder kreuzt in friedlichem Dorf auf! Wir hatten doch erst vor zwei Tagen angelegt. Ich dachte, es dauert länger, bis die Leute uns entdecken und rausfinden würden, dass wir keine Urlauber waren. Aber so war es nun mal in Dörfern, Neuigkeiten machten schnell die Runde und jeder wusste über die Angelegenheiten des anderen genau Bescheid. So viel zu Mums Gespür, dass es hier anders sein würde.

Der Hund wollte auf meinem Schoß bleiben und sich die Ohren kraulen lassen. Und selbst wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich ihn am Halsband festgehalten – nur um das Mädchen zu ärgern, diese eingebildete Kuh. Außerdem kam mir der Kleine ziemlich verrückt vor, und es sah so aus, als wollte er in den Kanal springen. »Das kann ich nicht zulassen, Kurzer. Da drin finden wir dich nie wieder. Dein Fell hat die gleiche Farbe wie das Wasser.«

»Raggs! Raggs!«

»Du gehorchst wirklich aufs Wort, was?«, sagte ich zu ihm, als er der Stimme keine Beachtung schenkte, sondern stattdessen versuchte, sich mit seinen kurzen Vorderbeinen auf meine Schultern zu stellen, damit er mir auch noch die Haare vollsabbern konnte.

Das Mädchen kam zwischen den Weidenbäumen hervor und stürmte auf uns zu. Ihre Art zu laufen – mit gesenktem Kopf, hochgezogenen Schultern, die Haare vor dem Gesicht –, kam mir seltsam vor. Aber sie hatte trotzdem was: mittelgroß, schlank und irgendwie anmutig, obwohl sie mit den Schulterblättern auf Ohrhöhe vorwärts stapfte.

»Hey, die ist scharf«, flüsterte ich dem Hund zu. »Lauf nicht weg.«

Sie blieb auf halbem Weg stehen und rief wieder »Raggs!«, doch nichts passierte. Ihre Stimme stolperte über den Namen, als ob sie gleich weinen würde, und ich fühlte mich plötzlich schuldig. Vielleicht war sie eine dämliche, eingebildete Zicke, aber sie war auch ein Mädchen ganz allein mit einem Fremden an einem Kanalufer … der Gedanke, dass ich ihr Angst machte, gefiel mir nicht.

»Netter Hund«, rief ich laut.

Sie kam kein Stück näher.

»Er wollte nur spielen«, brüllte ich, doch sie blieb in der Nähe der Bäume. Ich gab’s auf und schob den Hund auf den Boden. »Mach schon. Geh zurück.« Er gehorchte mir so gut wie ihr und sprang sofort zurück auf meinen Schoß. Ich hätte ihn fast auf den Arm genommen und zu ihr getragen, doch dann überlegte ich, dass ich im Hocken weniger Furcht einflößend wirkte. Sie kam wieder auf uns zu.

»Raggs! Komm her!«

»Warst du mit ihm in der Hundeschule?«, fragte ich grinsend. »Falls ja, solltest du dein Geld zurückverlangen, wenn du mich fragst.«

»Raggs! Sofort.«

»Ich glaube, du musst herkommen und ihn holen.«

»Tut mir leid, dass er dich belästigt hat«, murmelte sie, als sie so nah herangekommen war, dass ich sie verstehen konnte. Ich öffnete den Mund, um »Schon okay, kein Problem« zu sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich ihr Gesicht hinter dem Vorhang aus Haaren sah.

Himmel, ihr Gesicht …

Die rechte Seite war von einer breiten Narbe entstellt, die über ihre Wange und ihren Hals verlief und dann im Ausschnitt ihres T-Shirts verschwand. Scheiße, das sah ziemlich heftig aus. Es war auf jeden Fall keine alte Narbe – sie leuchtete rot. Aber so ganz frisch konnte sie auch nicht sein, weil alles drum herum schon ganz gut verheilt war. Die Haut war an der Stelle nicht so weich wie gewöhnlich, sondern wellig und voller Falten, vor allem an ihrem Hals.

Was zum Teufel war bloß mit ihr passiert?

Vom Rest ihres Gesichts sah ich zunächst nichts. Ich konnte nur auf die Narbe starren, meine Augen wurden davon angezogen wie Schaulustige von einem Autounfall.

Sie beugte sich vor und riss mir den Hund vom Schoß. Das löste meine Starre, und ich erhaschte einen Blick auf ihre Augen, in denen Tränen standen, bevor sie sich mit dem Hund unterm Arm wegdrehte und davonlief.

Ich kam auf die Beine. »Hey, ist ja nichts passiert. Er hat doch nur gespielt …«

Sie rannte förmlich den Pfad entlang, weg von mir.

Kein Wunder, dass sie nicht kommen wollte, um den Hund zu holen. Wahrscheinlich passierte ihr das dauernd – dass Idioten sie mit offenem Mund anglotzten, als ob Frankensteins Monster vor ihnen stünde.

Du blöder, blöder Vollidiot! Warum musstest du sie so anstarren?

Sollte ich ihr hinterherlaufen und mich entschuldigen? Bloß, was wollte ich sagen? »Hey, tut mir leid, dass ich dein Gesicht angestarrt habe« … wohl kaum.

Sie verschwand zwischen den Bäumen.

Ich fühlte mich mies. Sie war bestimmt nicht älter als vierzehn und ich hatte sie zum Weinen gebracht. Ich sollte mich schämen.

Und ich schämte mich.

Ich fischte den Eimer aus dem Kanal. Sie war weg, und es gab keine Möglichkeit, es wiedergutzumachen, selbst wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, wie.

»Ryan, ich hab Tee für dich gekocht. Mach mal eine Pause«, rief Mum von drinnen.

Ich ging rein und Mum reichte mir einen Emaillebecher. Ich schaute hinein. »Welche Sorte ist das denn?«

»Brennnessel.« Sie strahlte mich an. »Sehr reinigend.«

Würg. Ekelhaft. Erinnerte mich an grüne Pisse. Nicht dass ich jemals grüne Pisse probiert hätte, aber bestimmt schmeckt sie so wie Brennnesseltee.

»Bist du fertig mit den Fenstern?«

»Nein. Ich hab den Eimer umgestoßen. Ich muss gleich wieder raus und weiterputzen.«

»Zuerst trinkst du deinen Tee und sagst mir, was du von meinen neuesten Entwürfen hältst.«

Die Sachen, aus denen Mum ihren Schmuck herstellte, waren auf dem Tisch verstreut: Steine, Perlen, silberne Drähte, Armreife und Verschlüsse. Lederbänder.

Ich setzte mich auf ein Bodenkissen. Keine Chance, den Tee in den Kanal zu kippen. Mum hielt einen silbernen Armreif mit einem drachenförmigen Jadestein hoch.

»Er ist toll, Mum. Du solltest mehr davon machen. Die verkaufen sich bestimmt gut.«

»Das freut mich. Hat ewig gedauert, den so hinzukriegen. War sehr schwierig, vor allem der Schwanz. Was ist mit deinem Gesicht?«

»Nichts. Wieso?«

»Weil du andauernd daran reibst.« Sie legte ihre Hand auf ihre rechte Wange. »Hier.«

Ich wurde rot. »Wirklich?«

Konzentriert schob sie ihre Zunge zwischen die Zähne, während sie rote Perlen auf ein Lederband fädelte. »Mmmh.« Ihr Haar war oben auf dem Kopf zu einem Haufen aufgetürmt. Sie sah aus wie eine Ananas.

»Mum, wenn man sich verletzt hat, zum Beispiel bei einem Unfall, dann kann man die Narben doch mit einer plastischen Operation wegmachen lassen, oder?«

»Ja, aber ich glaube nicht, dass die vernarbte Haut dadurch völlig verschwindet. Manchmal vielleicht, aber nicht immer.«

»Wodurch kriegt man eigentlich so richtig schlimme Narben?«

»Keine Ahnung. Ich habe mal ein Kind gesehen, das ganz schrecklich vernarbt war, weil es eine heiße Pfanne vom Herd gezogen und sich daran verbrannt hatte. Warum fragst du?«

»Hab nur einfach so darüber nachgedacht. Ich geh dann jetzt und putze die Fenster fertig.«

Ich füllte den Eimer im Spülbecken und schaffte es gleichzeitig, den Brennnesseltee auszukippen.

Während ich den Rest der zermatschten Insekten von der Scheibe schrubbte, ging mir das Bild von der narbigen Haut im Gesicht des Mädchens nicht mehr aus dem Kopf. Und auch den Ausdruck in ihren Augen, als sie sich abgewandt hatte, konnte ich nicht vergessen. Sie muss vorher hübsch gewesen sein. Nichts Besonderes, einfach durchschnittlich hübsch, wie es eine Menge Mädchen sind. Aber doch irgendwie niedlich, auf eine stille Art und Weise. Wenn ich sie noch mal träfe, würde ich nicht mehr starren. Schließlich habe ich es immer gehasst, wenn irgendwelche Kinder mich und Mum angegafft haben.

Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe
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