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Vier Monate war das jetzt her. Sonja hatte sich nicht mehr bei mir gemeldet, und ich verstand sie nur zu gut. Über meinen Vorstoß hatte ich mich geärgert, aber man kann eben manchmal nicht dem Herzen und dem Verstand folgen. Dabei hätte mir der Verzicht sowohl die Möglichkeit geboten, Größe zu zeigen, als auch klug zu handeln. Insbesondere, weil ich wusste, dass wir so, wie wir nun mal waren, nicht zueinander passten.

Dennoch, meine schwachen Momente häuften sich in letzter Zeit dramatisch. Auf Schritt und Tritt fühlte ich mich an schöne Stunden erinnert. Dazu brauchte es nicht viel, ein runtergebranntes Teelicht vielleicht, eine Muschel aus dem Urlaub oder ein Schnappschuss von der Kirmes, wo wir mit Freunden gewesen waren. Und immer wieder kamen mir Plätze und Stellungen in den Sinn, an und in denen wir miteinander geschlafen hatten. Aus, vorbei. Die Vermutung, dass wir das alles nie wieder miteinander teilen würden, überzeugte mich irgendwie von der Endgültigkeit unserer Trennung.

Ich arbeitete immer noch in der Bilderabteilung dieses beschissenen Baumarktes, doch ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis ich alles hinwarf. Der Laden brummte, aber die Abteilung war dem Filialleiter ein Dorn im Auge, ich bekam von allen Seiten Knüppel zwischen die Beine geworfen. Wenn ich zwischendrin mal etwas Muße hatte, versuchte ich mir meine nähere Zukunft vorzustellen. Aber es war Herbst, meine Energiereserven hatten sich auf ein Minimum reduziert, und diese Gedanken deprimierten mich ohne Ende.

Meine Abende verbrachte ich meist alleine, mir war nicht nach Ausgehen zumute. Die Ninja-Trickfilme auf dem Kinderkanal ließ ich aus, aber zum Glück liefen gelegentlich ein paar Klassiker mit Tom und Jerry, den Feuersteins und dem Roadrunner. Ein paar Vertraute um mich herum waren genau das, was ich brauchte. Jeden Abend kam mindestens eine Folge, bis auf die Wochenenden, an denen ich dem Fernsehterror hilflos ausgeliefert war.

Außer ihnen hatte ich nicht viele Freunde, auf die ich mich verlassen konnte, und der beste von ihnen, Christian, hatte gerade beruflich in New York zu tun. An einem Sonntagnachmittag rief er mich an, in Amerika musste es früher Morgen sein.

„Du?“ Ich war überrascht. „Wo bist du?“

„Am Bahnhof. Eben angekommen. Kannst du mich abholen?“

Ich musste zugeben, dass dies eine willkommene Abwechslung von meinem Sonntagstrott bedeutete, und ich freute mich darauf, Chris wiederzusehen. Keine fünf Minuten später saß ich im Wagen und jagte quer durch die Stadt.

Carolin und Christian waren früher mal ein Paar gewesen, und ich war der Meinung, dass keiner von ihnen jemals einen gleichwertigen Ersatz für den anderen auftreiben konnte. Beide waren inzwischen mehrfach wieder liiert gewesen, aber es gab nun mal Menschen, die erst im Zusammenspiel mit dem passenden Partner in der Lage waren, ihr volles Potential zu entwickeln. Caro und Chris gehörten eindeutig dazu, bloß hatten sie umgekehrt auch die Begabung, sich gegenseitig tierisch auf die Nerven zu gehen. Jede ihrer Handlungen war derart explosiv, dass an ein friedliches Miteinander irgendwann nicht mehr zu denken gewesen war.

Die Landschaft draußen sah aus, als habe man sie mit einer Weichzeichnerlinse fotografiert. Ich ließ sie wie einen Film vor mir ablaufen, selbst die Geräusche schienen gedämpft zu sein. Das Radio war kaputt, aber das machte nichts. Bei dem Wetter fing meine Karre immer an zu kränkeln, da musste man die Ohren offen halten und auf jedes seltsame Geräusch achten, wenn man keine böse Überraschung erleben wollte.

Ich suchte gar nicht erst nach einem Parkplatz, sondern hielt gleich vor dem Haupteingang. Menschen rannten rein und raus, bepackt mit allerlei Taschen, Rollkoffern und Rucksäcken, und ich bedauerte die armen Schweine unter ihnen, die kein Auto besaßen und auf ihre Jahreskarte angewiesen waren, wenn sie’s in der Stadt nicht aushielten. Anstatt sich einfach in ihren Wagen zu setzen und durchzustarten, richteten sie ihre Tagträume nach dem Raster der Fahrpläne aus, die in den Schalterhallen dieser Welt aushingen.

Christian stand an der Theke der Bahnhofswirtschaft, die von den üblichen Typen bevölkert war. Einer von ihnen, ein kleiner Rothaariger mit Bomberjacke, redete ziemlich lebhaft auf ihn ein, als ich die Tür aufzog. Innen war alles voller Rauch, in der Ecke dudelte ein Spielautomat.

„Häh? Sag schon, findste das komisch?“, schrie der Kleine Christian an.

„Nein“, sagte er.

„Doch“, der Mann nickte heftig, „doch, das findste komisch.“ Irgendwas an seiner Haltung verriet mir, dass er gleich zuschlagen würde.

„Hey, um was geht’s denn hier?“, fragte ich gut gelaunt, um dem Ganzen die Schärfe zu nehmen. Der Kleine wirbelte auf dem Absatz herum und guckte mich von oben bis unten an. Er war schon älter, irgendwo zwischen fünfzig und sechzig, und hatte eine gewaltige Fahne. Aber das hatte nichts zu bedeuten, ich kannte diese Typen, die konnten ziemlich zäh sein.

„Bist du ein Freund von dem da?“ Er wies mit dem Kopf in Christians Richtung.

Ich tat, als sehe ich ihn zum ersten Mal und fragte: „Wo liegt das Problem?“

„Kein Problem“, sagte Chris und legte dem Kleinen seine Hand auf die Schulter. Das hätte er besser sein lassen, denn im nächsten Moment hielt der ein Messer in der Hand, weiß der Teufel, wo er das Ding so schnell hergezaubert hatte.

Das Messer beschrieb einen sauberen Halbkreis vor Christians Brust, als der Mann einen Scheinangriff auf ihn ausführte. Keiner der Anwesenden rührte einen Finger, und für einen Moment herrschte weitgehend Schweigen in dem Raum. Es war genau der Moment, in dem ich mir den Bierkrug vom Nachbartisch schnappte und ihn dem Rothaarigen über den Schädel zog. Christian konnte gerade noch beiseite treten, ehe der Alte der Länge nach hinschlug.

Es war jetzt richtig still, nur der dämliche Spielautomat leierte weiter seine Melodie herunter. Mir schien, dass sich jeder im Raum auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren versuchte. Mein eigener Blick hing auf dem Hinterkopf des Kleinen, wo aus einer Platzwunde Blut sickerte. Seine Faust hielt immer noch das Messer umklammert. Er rülpste.

Christian war der Erste, der sich wieder fing. Ich bekam mit, dass er seine Tasche schnappte und mich am Arm mit sich zog. Im selben Augenblick setzten auch die Geräusche in der Bahnhofskneipe wieder ein. Während ich rückwärts nach draußen taumelte, sah ich den Wirt, der uns irgendwas nachschrie. Ich registrierte, dass ich den Bierkrug immer noch in der Hand hielt, und ich ließ ihn in den nächsten Mülleimer fallen. Erst als wir in den Wagen stiegen, kam ich wieder zu Bewusstsein.

„Was war das denn für ne Begrüßung?“, stöhnte Chris.

„Hey, hast du das gesehen?“ Ich war hin und weg von meiner Geistesgegenwart.

Hab ich“, sagte er. „Können wir jetzt losfahren, oder soll ich dir erst noch ein paar Blumen kaufen?“

„Warum denn so bissig?“, fragte ich. „Könntest dich ja wenigstens mal bei mir bedanken, dass ich dir den Arsch gerettet habe.“

Er sah mich an, eine, zwei, fünf Sekunden lang.

„Danke, Sahib. Ich stehe auf ewig in Eurer Schuld. Können wir jetzt los?“

„Klar.“ Ich startete den Motor.

Unterwegs fiel mir auf, dass meine Jacke entsetzlich nach Bier stank. Der Krug, den ich mir gegriffen hatte, war noch halbvoll gewesen.

„Ich glaub, ich hab den Typen übel erwischt“, sagte ich.

„Stimmt. Er wird nen Mordsschädel haben, wenn er wieder zu sich kommt. Und ne Scheißwut noch dazu.“

„Meinst du, er ruft die Bullen?“

„Höchstens der Wirt. Aber wir haben ja kaum ne Stunde vor der Tür rumgestanden, bis alle Dankesreden gehalten waren. In der Zeit konnte ein normaler Mensch unmöglich dein Kennzeichen notieren.“

Weshalb er mit dem Rothaarigen aneinander geraten war, konnte er mir auch nicht erklären. Ich versuchte mich an unsere letzte Prügelei zu erinnern, das musste Lichtjahre her sein. Überhaupt schienen alle gemeinsamen Erlebnisse weit hinter uns zu liegen. Christian kam mir verändert vor, seltsam fremd.

Ich hatte ihm in aller Kürze von Sonjas Auszug aus der Wohnung erzählt, und er machte keine Anstalten, weiter nachzuhaken. Dafür würde später noch Zeit sein, wir wollten uns nicht so früh schon den Abend verderben.

Er selbst sah schlecht aus, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden. New York schien ihm nicht zu bekommen. Meiner Ansicht nach vergeudete er ohnehin sein Talent wegen dieses Jobs, in den ihn sein Vater genötigt hatte. Christian war ein begnadeter Zeichner, viel besser, als ich je werden würde.

Wir hatten uns seinerzeit in einem Kurs für Aktmalerei kennen gelernt, was in meinem Fall eine reine Verzweiflungstat darstellte, um mal wieder eine nackte Frau zu Gesicht zu bekommen. Damals hatte ich nicht den Mumm, es wieder mit einem dieser rätselhaften Wesen aufzunehmen, nachdem der eine oder andere Versuch kläglich gescheitert war. Chris holte mich aus meinem Stimmungstief heraus, so dass es mir am Ende gar nicht mehr so viel ausmachte, dass wir anfangs nur männliche Modelle zugewiesen bekamen. Als man die erste Frau auf uns losließ, hatte ich mich schon wieder so weit im Griff, nicht vor ihr in die Knie zu gehen.

Das Ganze war vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre her, und wenn ich daran zurückdachte, wurde mir schmerzlich bewusst, wie wenig wir aus unseren Fähigkeiten gemacht hatten. Ich rede jetzt nicht von Frauen, in dem Punkt hätte man uns ebensogut nach dem Mysterium des Unendlichen fragen können. Aber statt den Himmel der Modernen Kunst um zwei glänzende Sterne zu bereichern, jagte Christian auf der Suche nach Absatzmärkten für seine Firma kreuz und quer über den Globus, während ich Bilderrahmen für anderer Leute Schund zusammenklebte. Jämmerlich, in der Tat.

Vor dem Frisco parkten nur eine Handvoll Autos, dafür standen eine Unmenge von Motorrollern herum. Der Besitzer war ein alter Freund, aber um diese Zeit war Heiner noch nicht im Laden, ein mir fremder Typ stand hinter der Theke. Wir setzten uns an die Bar und bestellten ein paar Bier bei ihm.

Die Musik war schauerlich, doch die anderen Gäste, alle um die zwanzig, schienen sich prima dabei zu unterhalten. Es war hier drinnen kaum wärmer als draußen, wo es eben wieder zu nieseln begann, aber die Jungs saßen da im Muskelshirt. Ich fragte mich, ob wir früher genauso bescheuert gewesen waren.

„Hat sie dir nen Grund genannt?“, fragte Christian. Ich war schließlich doch mit der Sprache rausgerückt und hatte ihm die Lage ausführlich geschildert.

„Einen? Gleich ein ganzes Dutzend: Ich mache nicht genug aus meinem Leben. Ich kümmere mich nicht genug um unsere Beziehung. Ich bin faul und unbeweglich. Ich vergeude meine Zeit mit Filmen, Comics und… warte mal… schrottiger Musik, das war’s. Ich sehe nicht über meinen Tellerrand, dabei könnte ich sonst was erreichen, wenn ich mir nur etwas Mühe geben würde-“

Das da wäre?“

„Keine Ahnung. An der Stelle hab ich immer meine Kopfhörer aufgesetzt.“

„Ah.“

„Tja.“

Schweigend tranken wir unser Bier. Die CD sprang und blieb an einer bestimmten Stelle hängen, die sie in einem fort wiederholte. Was mich an alte Zeiten und den Plattenspieler erinnerte, den Christian damals vorm Sperrmüll gerettet hatte, nur um sich seine beste LP mit der vermurksten Nadel zu ruinieren.

„Und sie hat sich überhaupt nicht mehr gemeldet?“, fragte er nach einer Weile.

„Nein.“

„Vermisst du sie?“

Uns gegenüber hing ein riesiger Spiegel wie in einem Saloon, ich konnte ihm in die Augen sehen, ohne mich umzudrehen.

„Schon“, sagte ich. Es war wirklich lächerlich, sobald ich darüber nachdachte, kehrte dieses flaue Gefühl in der Magengegend zurück. Ich hatte weiß Gott alles versucht, um mit Sonja auszukommen, aber es hatte einfach nicht gepasst mit uns. Nur wehrte sich irgendwas in mir beharrlich dagegen, dies einzusehen und sie loszulassen.

„Und, wie soll’s weitergehen?“, fragte Christian.

Darauf wusste ich auch keine zufriedenstellende Antwort. „Ich werd essen. Schlafen. Trinken. Arbeiten. Essen. Schlafen-“

„Klingt nach nem guten Plan“, meinte er.

„Hab lange gebraucht dafür. Aber bis auf die Feinheiten bin ich ganz zufrieden damit.“

Chris schwieg eine Weile, dann fragte er: „Welche Feinheiten?“

„Frauen.“

„Ach so.“

Wir prosteten uns im Spiegel zu. Der Barmann kam vom Klo zurück, und die Typen am Tisch meckerten wegen der CD, die immer noch die gleiche Stelle wiederholte, als wolle sie uns damit ein Zeichen geben, wie wir unser Leben in den Griff bekämen.

Was ist mit dir? Steht die Wall Street noch? Hübsche Frauen in der Planungskommission? Wie laufen die Geschäfte in der Hochfinanz?“

Christian machte eine abwehrende Geste. „Monkey business, wohin du guckst. Rund um Ground Zero ist die größte Bauspekulation im Gange, die die Stadt je gesehen hat. Alle triefen nur so vor Patriotismus und Pietät, aber hinter den Kulissen gehen alle mit Äxten aufeinander los, das ist Wahnsinn.“

„Mischt ihr da etwa auch mit? Ich dachte, du bist nur dort, um euer Vertriebsnetz zu erweitern.“

„Wir sind auch nur am Rande mit dabei“, meinte er. „Das Konsortium, mit denen wir zusammenarbeiten, ist mehrheitlich an einer der Firmen beteiligt, die sich um den Ausbau dieses neuen Glasturmes bemühen. Wenn die den Zuschlag erhalten, zahlt sich das auch für uns aus.“

„Inwiefern?“

„Baugrund und Büroraum“, sagte Chris, „ist in New York City so ziemlich das sicherste Kapital, das es gibt - besonders, wenn beides mitten in Manhattan liegt. Ich rede hier nicht von Millionen, es ging schon im Vorfeld um Milliardenbeträge, das können wir beide uns gar nicht vorstellen. Jedenfalls- sag mal, interessiert dich das wirklich?“

„Wenn du mich so fragst…

„Gut“, meinte er, „ich bin nämlich froh, wenn ich das alles mal für ne Weile vergessen kann.“ Er trank sein Bier aus. „Reden wir über was anderes: Was macht die Arbeit?“

Ich zuckte innerlich zusammen. „Wie war das grad mit dem Bauland und den Büros in New York? Erzähl mir mehr!“

„Immer noch nicht besser?“

„Kann man nicht sagen. - Bringst du uns noch zwei?“, fragte ich den Barmann und wandte mich dann Christian zu. „Nee, es geht halt so, aber auf lange Sicht will ich da weg.“

„Das hast du im Juli am Telefon auch schon gesagt“, meinte er.

„Ich weiß. Aber ich hab das Gefühl, als ob Sonja meine letzten Energien gleich mit eingepackt hat. Wenn ich nach Hause komme, bin ich jedenfalls viel zu fertig, um an meinem Lebensplan zu feilen - schon gar nicht jetzt, wo der Winter vor der Tür steht.“

„Übertreibst du nicht ein bisschen? Wir haben doch gerade mal Oktober.“

Die Biere kamen. Meines war anscheinend vorm Öffnen geschüttelt worden, der Schaum lief am Flaschenhals herunter und weichte das Etikett auf.

„Ich sag dir, der Oktober ist der beschissenste Monat, um sich zu trennen.“

„Hast du nicht gesagt, ihr hättet euch schon vor Monaten getrennt?“

„Das ist egal“, erklärte ich ihm, „wichtig ist, wie gegenwärtig dir so eine Trennung noch ist.“

„Tja“, er nahm einen Schluck, „weißt du, es gibt ein Sprichwort, wonach nur ein Idiot über das stolpern kann, was hinter ihm liegt.“

„Was soll das bedeuten?“

„Dass du dir nicht selbst im Weg stehen sollst.“

Genau das, was ich hören wollte“, sagte ich.

„Und dass du irgendwann einen Strich unter die Angelegenheit ziehen solltest.“

„Ich hab’s verstanden, danke schön.“

 

Es war schon spät, als wir aufbrachen. Der Laden war jetzt proppenvoll, aber Heiner war nicht erschienen. Von einem der Türsteher erfuhren wir, dass er übers Wochenende unterwegs gewesen und vor morgen wohl nicht mit ihm zu rechnen sei.

Bis zu mir nach Hause waren es nur ein paar Kilometer. In unseren Blütetagen hatten wir uns über Feldwege durchgekämpft oder die Autos gleich stehen lassen. Inzwischen aber trank kaum einer von uns noch was, überall bestellten wir Apfelschorle und die meisten hatten sich sogar das Rauchen abgewöhnt. Kein Wunder, dass uns Kindern der 70er allmählich die Puste ausging. Ich nahm mich da nicht aus, ich wusste es ja selbst nur zu gut.

Auf halber Strecke sprang uns plötzlich ein Typ vor die Haube. Ein Glück, dass meine Augen noch gut funktionierten, viele in meinem Alter haben da schon ihre Probleme. Das Grün der Uniform wurde immer greller, je näher ihm unsere Scheinwerfer kamen. Aber er blieb stur auf einem Punkt stehen, die Beine geschlossen wie ein Matador, und reckte uns die Kelle entgegen, als mache sie ihn unverwundbar.

Einen halben Meter vor seinem Schienbein brachte ich die Karre endlich zum Stehen. Gemächlich kam er um die Haube herum und klopfte an mein Fenster. Ich öffnete die Tür, und er wich einen Schritt zurück, als erwarte er, dass ich mit einer Panzerfaust in der Hand aussteigen würde.

„Die Scheibe klemmt“, erklärte ich ihm, „sie lässt sich nicht runterdrehen.“

Zögernd näherte er sich der Tür. Ich dachte nicht daran auszusteigen, denn es regnete immer noch.

„Was gibt’s denn?“, fragte ich schließlich, da er offensichtlich seinen Text vergessen hatte.

„Allgemeine Fahrzeugkontrolle“, sagte er, „zeigen Sie mir bitte mal Ihren Führerschein und die Zulassung!“

Ich war seit bestimmt zwei Jahren in keine Kontrolle mehr geraten und trug normalerweise nie meine Papiere mit mir herum, aber an diesem Abend hatte ich sie aus unerfindlichen Gründen zufällig dabei. Er ging hinüber zu dem Streifenwagen, der einige Autos weiter parkte, und sein Kollege gab über Funk meine Daten an die Einsatzleitung weiter. Ein kleiner Computerfehler nur, dachte ich, und ich würde als Kinderschänder oder arabischer Terrorist identifiziert. Das Leben hielt eine Unmenge solcher Zufälle bereit, mich wunderte mittlerweile gar nichts mehr.

Der Uniformierte kam zurück.

„Haben Sie was getrunken?“

„Nein“, log ich.

Er sah mich durchdringend an. „Dafür riechen Sie aber ganz schön nach Alkohol. Steigen Sie mal aus!“

„Das, was Sie da riechen, kann nur das Bier sein, das man mir über die Jacke gekippt hat“, sagte ich.

„Steigen Sie bitte aus“, wiederholte er unbeeindruckt. Ich tat es, draußen regnete es Bindfäden.

„Hier!“ Ich zeigte ihm meine Jacke, aber er schaute schon gar nicht mehr hin, sondern kramte irgendwas aus seiner Uniform hervor.

„Wir machen erstmal einen Alkoholtest, danach sehen wir weiter. Blasen Sie jetzt in dieses Röhrchen-“

„Ich soll in Ihr Röhrchen blasen?“

„Was?“

„Dabei kennen wir uns erst seit ein paar Minuten.“

„Alex“, raunte Christian.

„Schön, blas ich also in Ihr Röhrchen.“ Ich nahm das Ding und blies hinein.

„Nochmal!“, sagte der Typ.

Ich versuchte es ein weiteres Mal.

„Fester!“, feuerte er mich an. „Sie müssen fester blasen. Jaa! Noch ein bisschen!“

Ich musste lachen, aber sein Gesichtsausdruck war äußerst unfreundlich, also mühte ich mich noch eine Weile ab.

„Mehr geht nicht“, keuchte ich und reichte ihm das Messgerät. Er guckte es sich flüchtig an und zeigte es seinem Kollegen. Der schüttelte den Kopf.

Es kam, wie es kommen musste, ich stand eine Ewigkeit im Regen und war nass bis auf die Knochen, ehe mich die Typen einluden und zur Blutprobe ins örtliche Krankenhaus mitnahmen. Chris fuhr uns mit seinen zwei Promille hinterher. Er hatte ja eigentlich mich als Chauffeur dabei gehabt und nicht erwartet, noch hinters Steuer zu müssen.

Man führte uns durch ein wahres Labyrinth von Fluren, die irgendein Farbenblinder in lindgrün und dunkelbraun getaucht hatte. Alle waren gleichermaßen trostlos. Ich nahm mir vor, mich gut zu benehmen und dem Ganzen möglichst schnell wieder zu entkommen. Der Boden glänzte unter den Neonröhren, an jeder Tür steckten kleine Pappschilder, von denen keines beschriftet war. Mir tat es plötzlich leid, den beiden solche Scherereien zu machen und sie hierher zu zwingen, gerne taten sie das bestimmt nicht.

Im ersten Stock lag das Labor mit Krankenbahren, Medizinschränkchen und so weiter. Der Arzt rauchte gerade eine auf dem Balkon. Er wirkte überarbeitet und ließ sich Zeit, wahrscheinlich ging seine Schicht gerade dem Ende zu. Eine ganze Weile unterhielt er sich da draußen mit den beiden Polizisten, ich fragte mich, ob wir nicht einfach gehen sollten.

„Heh, hallo, braucht ihr mich noch?“, rief ich ihnen zu.

„Halt doch die Klappe“, zischte Christian.

„Nun mach dir mal nicht gleich ins Hemd.“ Ich sah ihn mir genau an, um sicher zu gehen, dass dies immer noch der alte Chris war, den ich von früher her kannte. Erneut schien er mir verändert.

Schließlich kamen sie reingeschlendert, die Hände in den Taschen. Der Arzt seufzte, seine Haut war unnatürlich grau.

„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Essen Sie bloß keine Heringe!“, sagte er. Die beiden Polizisten lachten, ein Insiderwitz. Ehe ich mir noch Gedanken darüber machen konnte, betrat ein Typ in grünem Kittel und Mundschutz das Labor. Möglicherweise befand sich hinter der Tür ja die Pathologie, so was kannte ich nur aus Krimis. Während der Arzt leise mit ihm redete, krempelte er meinen Ärmel hoch und band mir den Arm ab, die Spritze bemerkte ich erst, als der Maskierte wieder nach nebenan verschwand.

„Scheiße, nein!“ Ich versuchte, mich zur Wehr zu setzen, aber im Nu hatten mich die beiden anderen gepackt.

„Halten Sie doch still! Sie verletzen sich bloß, wenn Sie so rumzappeln.“

„Er mag keine Spritzen“, hörte ich Christian hinter mir sagen.

„Hilf mir!“, brüllte ich, denn vor mir tauchte wieder der Arzt mit seiner Pferdespritze auf. Ich schaffte es nicht, mich freizukämpfen, und schon spürte ich, wie sich die Spitze in meine Armbeuge bohrte.

„Nicht verkrampfen – entspannen Sie sich!“ Der hatte leicht reden, schließlich war er am anderen Ende der Spritze. Vorsichtig lugte ich an meinem Arm herunter, Blut quoll in kleinen Wölkchen in den Zylinder, mir wurde erst heiß und dann schlecht.

Eine halbe Stunde später kam ich wieder zu mir. Ich hing immer noch in diesem Stuhl, wenigstens hatten sie meine Beine auf einen Hocker gelegt, der Maskierte von eben verschwand gerade wieder in seinem Kabuff. Das Ergebnis würde erst morgen vorliegen, aber ich hatte Glück, sie ließen mich endlich laufen. Mein Arm war grün und blau und wog zwei Tonnen. Dieser Schweinehund hatte mich entsetzlich zugerichtet.

Zu Hause stellte ich mich erstmal unter die heiße Dusche, während Chris sich die Couch herrichtete. Er schlief die erste Nacht in der Heimat immer bei mir, das hatte sich so eingebürgert. Keine Ahnung, ob er in New York ne Freundin hatte, aber hier in Deutschland erwartete ihn nur seine leere Behelfswohnung.

Früher mal hatten wir wahre Feste in seinem Apartment gefeiert, hundertsechzig Quadratmeter in bester Wohnlage, mit Dachterrasse und allem drum und dran. Dann aber wurde er von seinem Vater immer häufiger ins Ausland geschickt, er verkaufte das Apartment und mietete diese Miniwohnung an. Das letzte Mal war ich vor gut fünf Monaten dort gewesen, aber ich hätte schwören können, dass es noch genauso aussah wie damals. Kein Wunder, dass er erstmal bei mir abstieg, ich an seiner Stelle hätte das Gleiche getan.

„Hast du alles, was du brauchst?“, fragte ich ihn und ließ die Läden runter. Ich wohne im Erdgeschoss, da fallen von der Straße aus gesehen zwei Typen ganz besonders ins Auge, die in Unterwäsche und Handtuch mitten in einem hell erleuchteten Wohnzimmer stehen.

„Hm? Ja, danke“, murmelte er.

„Ist was?“

Er ließ sich auf die Gästecouch fallen und winkte ab.

„Was ist los, he?“

„Ich weiß auch nicht, mir geht so einiges durch den Kopf“, meinte er, „wahrscheinlich die Zeitverschiebung.“

„Wenn du meinst...“

„Ja, das wird’s sein.“

„Hey, schlaf erst mal ne Runde“, sagte ich, „morgen sieht alles schon wieder anders aus.“

Ich hasse solche Sprüche, aber ich war müde und fror in dem Handtuch, das ich mir um die Hüften geknotet hatte. Christian schwieg, und ich wollte mich schon zum Gehen wenden, als er sagte:

Siehst du Caro noch oft?“

„Aha, darum geht’s also.“

„Na ja... ja, auch.“

„So schlimm?“, fragte ich.

„Ach woher“, sagte er, „ich werd bloß ein bisschen sentimental, wenn ich nach Hause komme, das hab ich öfter. Geht aber von selbst wieder vorbei.“

„Sicher?“

„Ganz sicher“, meinte er.

„Okay.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Sie ist grad dieser Tage aus dem Urlaub zurückgekommen. Ruf sie doch einfach morgen früh mal an.“

„Ja, vielleicht.“

„Sie wird sich freuen, glaub mir.“

„Jaja, hau schon ab.“ Er sagte es mit einem ironischen Unterton, aber ich machte mir ein bisschen Sorgen um ihn. So hatte ich ihn noch nie gesehen.