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Christian ließ sich nur selten blicken. Er war in diesen Wochen ständig irgendwo unterwegs, offiziell, um neue Aufträge für die Firma seines Vaters an Land zu ziehen, inoffiziell, um sich bei verschiedenen Unternehmen vorzustellen. Ich hatte nicht herausgefunden, wieso er eigentlich unbedingt nach Deutschland zurückkommen wollte, jetzt, da er das Mädchen aus New Jersey zu heiraten gedachte.
„Aber ich will ja gar nicht heiraten“, versicherte er mir, als das Gespräch mal wieder auf das Thema kam, „das hab ich dir doch schon erklärt.“
Vor drei Wochen war er angekommen, und ich hatte geglaubt, er sei bloß erschöpft von der Arbeit und der langen Reise gewesen. Aber er wirkte noch immer ausgebrannt auf mich, ein Eindruck, der sich von Mal zu Mal zu bestätigen schien, wenn er vorbei schaute.
Ich hatte für uns beide Spaghetti gekocht. Uninspiriert stocherte er darin herum und nippte an dem Wein, der kurz vorm Umkippen war und den ich eigentlich nur noch zum Kochen benutzte. Carolin war in der Stadt unterwegs und Marie wer weiß wo, unser Leben fand immer noch keinen gemeinsamen Rhythmus.
Fürs Erste musste mir die Tatsache reichen, dass sie wirklich bei mir wohnte und am Ende jedes Tages hierher zurückkehrte. Sie kämpfte immer noch mit ihren inneren Dämonen, das spürte ich. Aber sie würde von sich aus auf mich zukommen, wenn die Zeit gekommen war und sie mir und vor allem sich selbst vertraute. Diese geduldige Haltung war meine Vorgabe an mich selbst, leider hielt ich mich nicht immer daran. Vielleicht hätte ich sie einfach zum Teufel jagen sollen.
Ich hatte Helges Vorschlag schließlich angenommen und Dutzende von Motiven für irgendwelche Icons entworfen, die er auf den Webseiten seiner Kunden installierte. Aber wenn Marie in der Nähe war, bekam ich keinen vernünftigen Strich hin, egal, ob sie die Küche auf den Kopf stellte oder halbnackt für die nächste Prüfung büffelte. Also nutzten wir die Zeit und vögelten uns durch die ganze Wohnung. Trieben es im Bad, auf dem Tisch, dem Boden, der Spüle, einfach überall. Es war uns einfach ein körperliches Bedürfnis wie etwa ein Glas Wasser trinken oder aufs Klo gehen.
Anfangs dachte ich, sie würde sich gegen jegliche Routine sträuben, weil sie mir ihre Unabhängigkeit beweisen wollte. Aber allmählich begriff ich, dass dies einfach ihre Art war, das Leben anzugehen. Wir kriegten uns deswegen fast täglich in die Wolle, wobei ich sie eigentlich um diesen Wesenszug beneidete. Ihre Anarchie führte mir meine eigene Angepasstheit vor Augen.
Manchmal verschwand sie im T-Shirt, um fürs Mittagessen einen Salat zu besorgen, und kehrte um Mitternacht mit leeren Händen zurück, weil sie angeblich einem alten Freund begegnet und mit ihm um die Häuser gezogen war. Inzwischen hatte sie sich ein Handy zugelegt, aber das war nie eingeschaltet, wenn ich sie zu erreichen versuchte. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr, aber auch wenn mir die Sache nicht gefallen mochte, so spornte mich ihre Flatterhaftigkeit auch an, ihr alle Männer zu ersetzen.
Carolin hatte zwar ihre Sachen noch bei mir, schlief aber meist bei ihrem neuen Freund. Als Chris mich nach ihm fragte, musste ich gestehen, überhaupt nichts über ihn zu wissen. Falls Caro jemandem von ihm erzählte, dann Marie. Ich selbst kannte nicht mal seinen Namen. Überhaupt schienen sich ihre Geheimnisse zu vermehren, was unser Zusammenleben mehr und mehr erschwerte.
„Das hätte ich dir gleich sagen können“, meinte Chris und fuhr mit einem Stück Brot durch seinen Teller, „leg dich nie mit zwei Frauen gleichzeitig an.“
„Was heißt anlegen? Wir wohnen doch bloß zusammen.“
„Eben.“
Mir tat diese Entwicklung leid. Die Dinge hätten perfekt sein können, im Stillen hatte ich mich auf das Zusammenleben zu dritt gefreut. Schließlich wohnte ich mit den beiden Menschen zusammen, die mir neben Christian am nächsten standen, mein Leben in Schwung hielten und jeweils eine enorme Anziehungskraft auf mich ausübten, was sich trotz der angesprochenen Zwangspausen ungemein positiv auf meine Kreativität auswirkte.
Die Nacht in Holland war vergessen, die Grenze zwischen Caro und mir abgesteckt, ich hatte Marie scheinbar für mich alleine… Ich war nahe dran, eine Kerze anzuzünden und meinem Schöpfer zu danken.
Aber die Erfahrung hätte mich lehren sollen, dass es nie so einfach war, wenn Frauen im Spiel waren. Gerade dann, wenn man dachte, das Schlimmste läge bereits hinter einem, erwischte einen die volle Breitseite aus einer Richtung, aus der man sie nicht erwartet hatte. Und zu meiner Überraschung kam sie diesmal weder von Marie noch von Carolin, sondern von Sonja.
„Alex?“ Sie berührte mich leicht am Arm. Ich musste mich mit aller Kraft zwingen, sie anzuschauen. Ständig rutschte mein Blick ins Leere.
„Wie, schwanger?“
Das fand sie lustig. „Na, du weißt schon, mit kleinen Kindern und so.“
Auch Helene lachte, anscheinend nahm ich als Einziger den Ernst der Lage wahr. Eigentlich war ich nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um nach Ludwig zu sehen, der tausend Pillen am Tag nehmen musste und auf dem Sofa schlief. Seine Backen hingen schlaff von seinem Gesicht, er wirkte alt.
„Aber ihr kennt euch doch erst ein paar Monate!“ Ich starrte Sonjas Bauch an.
„Dazu braucht man nicht so lange“, sagte sie, „das mit den neun Monaten bezieht sich auf die Schwangerschaft, weißt du? – Übrigens, Alex…“
„Ja?“
„Man kann noch nichts sehen, ich bin gerade mal in der siebten Woche.“
Helene gluckste hinter mir, sie fand das offenbar komisch. Das Wohnzimmer war wegen Ludwig völlig überheizt. Ich fühlte mich ein bisschen schwindlig, aber wahrscheinlich kam das nur von der verbrauchten Luft im Raum, die nach Schweiß und Medikamenten roch. Ich musste da raus.
Richard lief mir langsam aber stetig den Rang als Wunsch-Schwiegersohn ab, und falls es im Hause Engels noch irgendwelche Spekulationen über Sonja und mich gegeben haben sollte, so hatte ihre Schwangerschaft diese mit einem Schlag hinweg gefegt. Nicht, dass ich Ambitionen gehabt hätte, aber die Endgültigkeit unserer Trennung und der Anbruch eines neuen Lebensabschnitts für Sonja brachte mich total aus dem Takt und versetzte mich für Tage in einen Zustand teilnahmsloser Melancholie.
Die Mädchen versuchten mich auf ihre eigene Art wieder auf den Teppich zurückzuholen. Meist zogen wir zu dritt um die Häuser, Carolin machte gerade ebenfalls ein kleines Tief durch und zerrte uns am Kragen weiter, wenn wir bereits schwächelten. Sie tanzte und trank jeden unter den Tisch, der dumm genug war, sich mit ihr anzulegen, und Marie stand ihr kaum nach. An einem Morgen erwachte ich und fand mich zwischen beiden in meinem Bett wieder, ein beinahe spiritueller Moment des vollkommenen Glücks.
Dennoch war ich mir der Tatsache bewusst, dass es in meinem Leben auf und ab ging und jede Bewegung eine immer stärkere Gegenbewegung auszulösen schien. Ich fühlte mich alles andere als sicher. Und dann war da dieser nächtliche Anruf auf Maries Handy.
„Ich muss weg“, sagte sie leise, während sie sich anzog. Ich warf einen Blick auf den Wecker, es war halb vier.
„Weg? Wieso? Und wohin?“
„Es ist was passiert. Ich erklär’s dir später.“ Sie sah besorgt aus, und sofort schrillten die Alarmglocken bei mir.
„Wartewartewarte“, sagte ich und hielt ihren Rock fest, den sie gerade von der Stuhllehne zog, „ich fahr dich.“
„Ist nicht nötig“, meinte sie.
„Kein Problem.“ Ich schlug die Bettdecke zurück und wollte aufstehen, aber sie machte eine abwehrende Handbewegung.
„Hör zu, ich muss das alleine machen. Okay?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie an dem Rock, aber ich ließ nicht locker, also schlüpfte sie stattdessen in ihre Jeans. Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen, sie schaffte es nicht, mir in die Augen zu sehen. Ich sprang aus dem Bett und begann damit, mich ebenfalls anzuziehen.
„Was soll das?“, fragte sie.
„Na, ich komme mit!“
„Nein!“ Marie stieß mich aufs Bett zurück und sah mich wütend an. „Es geht nicht immer nur um dich, kapierst du das?“, schrie sie. „Und wenn du’s genau wissen willst, ja, ich gehe zu Jochen. Das wollte ich dir eigentlich nicht auf die Nase binden, aber du willst es ja anscheinend nicht anders.“
Es kehrte eine bedrückende Stille ein, in der ich meinem Puls zuhörte, er hatte eine ungeheure Schlagzahl drauf.
„Schön, du gehst also zu Jochen.“ Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen. „Darf ich wissen, warum? Und dann noch mitten in der Nacht?“
„Er hatte nen Unfall und liegt auf der Intensiven“, sagte sie und fuhr sich mit einer schlaffen Bewegung durchs Haar. „Ich muss da jetzt hin, versteh’s oder lass es.“
Ich trat einen Schritt beiseite, um sie vorbei zu lassen, und ohne ein weiteres Wort, ohne eine einzige liebevolle Geste verließ sie die Wohnung. Mein Kopf war voller Gedanken, mein Herz dafür umso leerer. Marie hatte sich doch von Jochen getrennt, wieso rief man ausgerechnet sie mitten in der Nacht an? Und wer war eigentlich ‚man’? Wussten ihre Freunde überhaupt, dass Marie inzwischen mit einem anderen Mann zusammen lebte?
Im Schein der Nachttischlampe sah ich mich ratlos im Zimmer um, als könnten ihre Sachen sich plötzlich als Attrappen herausstellen, zu denen sie nicht wieder zurückkehren würde. Seit Marie bei mir wohnte, lagen überall die merkwürdigsten Klamotten rum: Bunte Schals, Mützen und Hüte, knappe Tops und scharfe Unterwäsche, Ringelstrumpfhosen und natürlich ihre Springerstiefel, die Garderobe einer Verrückten. Zumindest ihre Stiefel würde sie nicht zurücklassen. Bei mir war ich mir da weniger sicher.
Ich schnappte mir ihr T-Shirt vom Vortag, legte es mir übers Gesicht und schaltete das Licht aus. Wir alle mussten uns mit dem zufrieden geben, was das Leben uns bot, und im Grunde war das gar nicht so wenig, wenn man’s genau bedachte. Man durfte sich nur nicht der Illusion hingeben, dass man sein Schicksal selbst bestimmen konnte.